Zunächst werden die geschichtlichen Hintergründe des sogenannten „Historikerstreits“ (1986/1987) kurz ausgeleuchtet, ohne die diese Kontroverse nicht zu verstehen ist. Der „Historikerstreit“ drehte sich um die Frage, wie bzw. ob die nationalsozialistische Judenvernichtung 40 Jahre nach Kriegsende historisch einzuordnen ist. Die Diskussion kann als Resultat einer gewissen Entwicklung gesehen werden, die zu Beginn der 80er Jahre begann. Danach sollen die Hauptaussagen der Protagonisten Ernst Nolte und Jürgen Habermas dargestellt werden. Zum Abschluss geht es um eine Bewertung aus heutiger Sicht.
I. Geschichtlicher Hintergrund:
Nach den „unruhigen“ Jahren, die mit den Studentenunruhen 1968 begannen und im Deutschen Herbst 1977 kulminierten, brach ein konservativer Roll-Back an (u. a. Preußen-Ausstellung 1981 in Berlin). Im Jahre 1982 war die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) am Ende und es begann die Ära von Helmut Kohl (CDU). Ein bekanntes Schlagwort dieser Zeit ist die – von Kohl geforderte – „geistig-moralische Wende“, die durch die neue Regierung eingeläutet werden sollte. Auf einer Israel-Reise im Jahre 1984 prägte der damalige Kanzler das Wort von der „Gnade der späten Geburt“. Diese Äußerung entlastete die gegenwärtige deutsche Gesellschaft von jeder Verantwortung für die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Eine solche Tendenz zu einer Normalisierung der nationalen Identität Deutschlands wurde durch Bitburg 1985 verstärkt. Auf das Drängen der damaligen Bundesregierung besuchten US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl einen Soldatenfriedhof im rheinland-pfälzischen Bitburg, auf dem auch SS-Männer begraben liegen. In der amerikanischen Öffentlichkeit löste dies heftige Kritik aus. Auch jüdische Gruppen protestierten aufs Schärfste gegen den Friedhofsbesuch.
Kurze Zeit danach, am 8. Mai 1985, erklärte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Jahrestag des Kriegsendes als „Tag der Befreiung“. Des Weiteren zählte von Weizsäcker erstmals alle Opfergruppen des Nationalsozialismus auf (auch Kommunisten, Homosexuelle, Sinti und Roma)! Diese neue Sichtweise des deutschen Staatsoberhauptes wurde international begrüßt und glättete die Wogen nach Bitburg etwas, während es in den eigenen Reihen Kritik daran gab (z. B. vom CDU-Politiker Alfred Dregger).
Allerdings lässt sich eine Tendenz zur Normalisierung der deutschen Identität auch auf der „anderen“ Seite des politischen Lagers ausmachen. In der Friedensbewegung der 80er Jahre dominierten antiamerikanische Töne. Deutschland wurde immer wieder als Spielball zwischen den Supermächten gesehen. Außerdem gab es in der Linken eine fast ausnahmslose Solidarisierung mit den Palästinensern, die häufig zu einer Dämonisierung Israels führte. Gerade die Auseinandersetzung um antisemitische Klischees im Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder „Die Stadt, der Müll und der Tod“ zeigte deutlich, dass die „Schonzeit“ (Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit, S. 9) zu Ende war.
II. Der Historikerstreit
Der „Historikerstreit“ im engeren Sinne begann mit einem Artikel des Historikers Ernst Nolte. Diesen veröffentlichte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) unter dem Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ am 6. Juni 1986. Seine Thesen spitzte er, in einigen Fragen zum Ende des Aufsatzes hin, zu: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ›asiatische‹ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat betrachteten? War nicht der ›Archipel GULag‹ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten?“ (E. Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, Historikerstreit, S. 45)
Im Laufe der öffentlichen Debatte bildeten sich nun zwei Lager heraus, die in je verschiedenen Medien publizierten: Die Verteidiger Noltes (Kohl-Berater Michael Stürmer, Joachim Fest, Andreas Hillgruber) primär in der F.A.Z., die Kritiker (Jürgen Habermas, Hans Mommsen, Eberhard Jäckel, Rudolf Augstein) in der ZEIT, im SPIEGEL oder in der „Tageszeitung“ (TAZ). Kommuniziert wurde in Form von Leserbriefen und längeren Aufsätzen.
Der Aufsatz von Jürgen Habermas „Eine Art Schadensabwicklung“ (Die ZEIT, 11. Juli 1986) konzentrierte sich auf die Thesen von Ernst Nolte. Aber auch Michael Stürmer und Andreas Hillgruber wurden von Habermas angegriffen. Der Aufsatz beginnt zunächst mit einer Kritik am Kölner Historiker Hillgruber, welcher kurz zuvor das Buch „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums.“ veröffentlichte. Die Hauptthese bestand darin, dass Hillgruber die Verteidigung des deutschen Ostens durch die Wehrmacht ins „rechte Licht rücken“ (J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Historikerstreit, S. 65) will: Nämlich als eine Art „Notwehr“ vor der heranrückenden Roten Armee. Die Tatsache, dass die Wehrmacht damit die Aufrechterhaltung der Todesfabriken garantierte, bleibt dabei höchstens ein „tragisches historisches Dilemma“ (D. Diner, Zwischen Aporie und Apologie, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, S.66). Ähnlich wie Stürmer reduziert Hillgruber den Willen zur Judenvernichtung auf Hitler und einige Fanatiker. Die Beteiligung ganz „normaler Deutscher“ an der Vernichtung ist jedoch spätestens seit Christopher Browning („Ganz normale Männer“), Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“) oder Götz Aly („Hitlers Volksstaat“) einer interessierten Öffentlichkeit bekannt.
Habermas geht nun dazu über, Ernst Noltes Aufsatz „Zwischen Mythos und Revisionismus“ – der bereits 1980 erschien – zu kritisieren. Bereits dort verweist Nolte auf die angebliche „Kriegserklärung“ Chaim Weizmanns an Deutschland. Diese hätte „Hitler dazu berechtigt“ (J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Historikerstreit, S. 69), die deutschen Juden als Kriegsgefangene zu behandeln (siehe dazu: W. Benz, Die >jüdische Kriegserklärung< an Deutschland, in: Geschichtsmythen, S. 11 – 27).
In den Thesen Noltes, die er im Aufsatz von 1986 vertritt, sieht Habermas den Versuch, die Nazi-Verbrechen als „Antwort auf bolschewistische Vernichtungsdrohungen“ darzustellen und Auschwitz auf das Format einer „technischen Innovation“ zu reduzieren (J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Historikerstreit, S. 71). Nolte & Co. streben – laut Habermas –eine Historisierung der Verbrechen an, um eine ungebrochene (und konservative) nationale Identität zu schaffen. Zum Schluss seines Aufsatzes plädiert er für einen Verfassungspatriotismus und nennt die Öffnung hin zur „politischen Kultur des Westens“ (ebda, S. 75) die herausragende Leistung der Bundesrepublik.
Weitere „Höhepunkte“ der Debatte waren z. B. der Artikel von Joachim Fest (am 29. August 1986 in der F.A.Z.). Er unterstellt Habermas eine „elende Praxis“ (J. Fest, Die geschuldete Erinnerung, Historikerstreit, S. 101), da dieser nur die vermuteten Motive seiner Kontrahenten darlegt. Rudolf Augstein wiederum publizierte im SPIEGEL (am 6. Oktober 1986) einen Aufsatz mit dem Titel: „Die neue Auschwitz-Lüge“. Hier wird Hillgruber als „konstitutioneller Nazi“ (R. Augstein, Die neue Auschwitz-Lüge, Historikerstreit, S. 198) bezeichnet. Versachlichende Beiträge blieben die Ausnahme.
Noltes Thesen waren und werden auch heute noch von Rechtsextremisten vorgebracht. Gerade dieses Spektrum profitierte von seiner Darstellung (obwohl er die Shoa keineswegs geleugnet hat). Gerade zu Beginn der 90er Jahre konnte man bei Nolte eine „Annäherung an die neofaschistische Holocaustleugnung“ beobachten. (siehe: Gerd Wiegel, Ernst Nolte und der Holocaust, in: Antifaschistisches Infoblatt Nr. 72, S. 13)
Außerdem landete Nolte auch selbst weiterhin immer wieder in der Nähe offen rechtsextremer Diskurse. Er kritisierte u. a. die Handhabung des § 130 (Holocaustleugnung und Volksverhetzung) oder solidarisierte sich mit dem CDU-Abgeordneten Martin Hohmann. Dieser wurde aus der Partei ausgeschlossen, nachdem er eine Rede mit antisemitischem Inhalt gehalten hatte. Dennoch erhielt er im Jahre 2000 den Deutschlandpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. In der Zeitung „Die Welt“ forderte Volker Kronenberg im Februar 2006 „Gerechtigkeit für Ernst Nolte“.
Der Protagonist der Kritiker Noltes, Jürgen Habermas, ist sicherlich der bekannteste Sozialphilosoph der Gegenwart. Im Februar 2003 veröffentlichte er mit Jacques Derrida einen Artikel (in der F.A.Z.!), der eine europäische Identität jenseits amerikanischen Einflusses forderte. Habermas sah in den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg eine Geburtsstunde europäischer Identität.
Darüber hinaus gibt es auch eine immanente Kritik an den Argumenten von Habermas gegen Nolte. Habermas schrieb in seinem bereits zitierten Aufsatz: „Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“ (J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Historikerstreit, S. 75). Genau diese Formulierung provozierte Helmut Fleischer zu der Frage: „Die moralische Katastrophe als moralische Katharsis?“ (H. Fleischer, Die Moral der Geschichte, Historikerstreit, S. 131)
III. Heutige Perspektiven
Aus heutiger Sicht kritisiert der Historiker Nicolas Berg in einem Interview die Ergebnislosigkeit des „Historikerstreits“: „Die Debatte hinterließ nicht mehr Wissen, das macht sie aus heutiger Sicht kritikwürdig. Es wurde über Meinungen und Wertungen gestritten…“ (Streit um Gedächtnis, Interview mit Nicolas Berg, in: Antifaschistisches Infoblatt Nr. 72, S. 14) Tatsächlich blieb ein Erkenntnisgewinn über die Funktionsweise des nationalsozialistischen Terrors aus. Dies lieferten erst spätere Forschungen. Beide Seiten stritten um die Deutungshoheit einer deutschen Identität nach dem Nationalsozialismus.
Aus der zeitlichen Distanz lassen sich – neben dem fehlenden Wissenszuwachs – noch andere Schlüsse ziehen. Für beide Seiten spielte eine gewisse Rehabilitierung des deutschen Nationalbewusstseins eine Rolle. Während die einen eine traditionelle deutsch-nationale Geschichtsschreibung intendierten, diente für die anderen die Erinnerung an Auschwitz als Geburtsstunde einer geläuterten Nation. Auschwitz wurde so von beiden Seiten für den jeweiligen Zweck instrumentalisiert.
Dan Diner plädierte für eine Geschichtsschreibung aus der Sicht der Opfer. Diese könnten als einzige den Zivilisationsbruch, der in der Shoa geschah, beschreiben und somit einer Instrumentalisierung des Grauens vorbeugen. Er schrieb dazu: „Auschwitz ist ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens, ein historiographische Deutungsversuche aufsaugendes, ja, außerhistorische Bedeutung annehmendes Vakuum. Nur ex negativo, nur durch den ständigen Versuch, die Vergeblichkeit des Verstehens zu verstehen, kann ermessen werden, um welches Ereignis es sich bei diesem Zivilisationsbruch gehandelt haben könnte. Als äußerster Extremfall und damit als absolutes Maß von Geschichte ist dieses Ereignis wohl kaum historisierbar. Ernst gemeinte Historisierungsbemühungen endeten bislang in geschichtstheoretischen Aporien. Anders gemeinte, relativierende und das Ereignis einebnende Historisierungsversuche enden hingegen notwendig in einer Apologie. Auch dies ist eine Lehre aus dem Historikerstreit.“ (D. Diner, Zwischen Aporie und Apologie, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, S. 73)
Autor: Jochen Böhmer
Literatur
Antifaschistisches Info Blatt Nr. 72, Sommer 2006, Berlin, Schwerpunkt: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Der Historikerstreit, S. 6 – 16
Benz, Wolfgang/Reif-Spirek, Peter: Geschichtsmythen, Metropol Verlag, Berlin, 2003
Broder, Henryk M.: Der ewige Antisemit, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1986
Diner, Dan (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1987
Klundt, Michael: Geschichtspolitik, PapyRossa Verlag, Köln, 2000
Markovits, Andrei: Amerika, dich haßt sich´s besser, Konkret Verlag, Hamburg, 2004
Peter, Jürgen: Der Historikerstreit und die Suche nach einer nationalen Identität der achtziger Jahre, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 1995
Piper, Ernst Reinhard (Hg.): „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Serie Piper, München, 1987
Links
http://www.hagalil.com/archiv/2004/12/auschwitz.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Historikerstreit
http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Nolte
http://www.welt.de/print-welt/article199849/Gerechtigkeit_fuer_Ernst_Nolte.html
http://www.welt.de/print-welt/article225260/Historikerstreit_Ernst_Nolte_im_WELT-Gespraech.html