„Und vergesst nicht: Froh und tapfer! Das gilt auch für euch, Kinderchen“, rät der Märchenerzähler mit versteinertem Lächeln in der Schlussszene des 1943/44 gedrehten Kinofilms Der kleine Muck (Regie: Franz Fiedler). Der bekannte Volksschauspieler Gustav Waldau wendet sich dabei persönlich von der Leinwand an die Kinder. Frohsinn und Tapferkeit werden von den kleinen Zuschauern abverlangt – und das zu einem Zeitpunkt, als das „Dritte Reich“ bereits unausweichlich in die Katastrophe steuert. Dieser Schlussmonolog ist nur eines von vielen Beispielen kindgerechter NS-Propaganda – hübsch verpackt in ebenso kindgerechten und offenbar ideologiefreien Märchenfilmen.
„Jedes Märchen ist politisch ausrichtbar“
Zwanzig Märchenfilme mit Schauspielern, die meist auf Literaturvorlagen der Brüder Grimm zurückgehen, entstehen zwischen 1933 und 1945 in Deutschland. Märchen werden wegen ihres großen Potenzials an ideologischen Interpretationsmöglichkeiten geschätzt. Die im NS-Selbstverständnis verankerten deutschen Tugenden, wie Aufopferung, Treue und Mut, finden sich in fast allen Grimmschen Märchen wieder. Deshalb ist es nur folgerichtig, diese Märchen auch zu verfilmen und für Propaganda zu missbrauchen. Gelingt dies mithilfe der Literaturvorlage nicht, werden die Märchenfilm-Drehbücher entsprechend ausgerichtet und der jeweiligen (politischen) Situation angepasst. Hubert Schonger, der zwischen 1938 und 1941 elf Märchenfilme für Kinder produziert, findet, dass „jedes Märchen politisch ausrichtbar ist, ohne daß man die Dichtung vergewaltigt (…)“ (Film-Kurier, 7.12.1938). Im Ergebnis werden Dialoge der Märchencharaktere und Figurenkonstellationen in den Filmen rigoros der NS-Ideologie untergeordnet und propagandistisch zugespitzt.
Die Geschichte des NS-Märchenfilms beginnt überraschenderweise nicht gleich nach der Machtübernahme im Jahr 1933, sondern erst im Sommer 1935. In den ersten zwei Jahren werden Kindern in sogenannten „Märchen-Nachmittags-Vorstellungen“ Stummfilme aus den Anfangszeiten der Kinematografie gezeigt, die in den 1910er- und 1920er-Jahren für Erwachsene entstehen und nun zum Teil nachsynchronisiert sind. Zusätzlich werden Walt-Disney-Zeichentrick- und Tierfilme aufgeführt. Doch es fehlt an kindgerechten modernen Märchenverfilmungen, vor allem an Tonfilm-Neuproduktionen, kritisiert nicht nur die NS-Filmpresse. Die Mitte der 1930er-Jahre vier größten deutschen Filmkonzerne, die Universum-Film-AG (Ufa), die Tobis, die Bavaria und die Terra, halten sich mit ihrem Engagement im Hinblick auf Märchenfilme für Kinder aber auffällig zurück. Als Gründe werden oft „Amortisationsschwierigkeiten“ genannt. Im Klartext heißt das: Märchenfilme kosten Geld, rentieren sich aber erst nach vielen Jahren.
Der König ist immer der Führer
Auch der Filmproduzent und frühere Regisseur des Kasseler Residenztheaters Alf Zengerling synchronisiert Anfang 1935 noch seine bereits 1928 entstandenen stummen, aber ausnahmslos kitschigen und naiven Märchenfilme nach. Seine Berliner Firma Märchenfilm-Produktion hat (noch) kein Geld für teure Tonfilme. Im Juli 1935 beginnen plötzlich die Dreharbeiten zu seiner ersten Tonfilm-Neuproduktion Der gestiefelte Kater. Zuvor hat er erfolgreich beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda um finanzielle Unterstützung gebeten. Das Grimmsche Märchen von einem sprechenden Kater, der einem armen Müllerburschen zu Reichtum und einer königlichen Gemahlin verhilft, ist eine von insgesamt sechs Märchenfilmen, die Zengerling während des Dritten Reichs produziert. In allen Adaptionen, die schauspielerisch oft unterdurchschnittlich sind, passt er die Dialoge dem NS-Zeitgeist an und nutzt völkisch-nationalsozialistisches Vokabular. So wird der gestiefelte Kater nach dem Sieg über einen bösen Zauberer mit den Worten gelobt: „Heil dem Kater Murr! Er ist unser Erretter! Wir leben wieder!“ Dass der Kater, der in der Adaption zu einem „Heilsbringer“ stilisiert wird, mit dem „Führer“ auf eine Stufe gestellt wird, mag heute unfreiwillig komisch wirken. Damals haben diese Lobpreisungen ihre Wirkung sicher nicht verfehlt. Auch in Die verzauberte Prinzessin (1939), der Verfilmung einer märchenhaften Novelle von Friedrich Hebbel, bedient sich Zengerling am NS-Wortschatz. In der Geschichte um den Bauernsohn Assad, der die in einem Rubin gefangene Prinzessin erlöst, wünscht Assads Vater seinem Sohn: „Ewig aber ist die Liebe deines Volkes und deiner Rasse. Friede seit mit dir!“
Doch nicht nur die Dialoge verändert Zengerling, auch die Märchencharaktere bürstet er NS-konform glatt: So wird der König in den Filmen Der gestiefelte Kater (1935), Dornröschen (1936), Rumpelstilzchen und Der Froschkönig (beide 1940) – auch wenn er in der Grimmschen Vorlage als bisweilen ungerechte und widersprüchliche Figur dargestellt wird – plötzlich als gänzlich positive Autorität gezeichnet. Der König im Märchen figuriert zur Metapher für den „Führer“ – volksnah, gerecht, unantastbar. Weil das Märchen aber nun einmal nach dem Prinzip Gut gegen Böse funktioniert, wird das Böse in neuen Nebencharakteren ausgelagert (in Rumpelstilzchen ist nicht der König, sondern ein Schatzkanzler der Geldgierige) oder Befehle des Königs werden sozial abgefedert (in Dornröschen werden alle Spindeln zum Schutz der Prinzessin verbrannt, aber der König sorgt für das Volk und dessen Erwerbsausfall). Diese Adaptionen bringen Zengerling aber nicht die erhofften Prädikate, die von der Film-Prüfstelle vergeben werden und im Verleih mit Steuererleichterungen einhergehen. Nur einer seiner sechs Märchenfilme erhält das Prädikat „volksbildend“: Der Hase und der Igel (1940). Mit dem ungleichen Wettlauf zwischen dem langbeinigen, aber hochnäsigen Hasen und dem kurzbeinigen, aber sympathischen Igel zeigt Zengerling – mitten im Krieg –, dass ein offenbar aussichtsloser Kampf mit Cleverness, Taktik und einer guten Idee doch gewonnen werden kann.
Der Puppenkrieg im Kinderzimmer
Weitaus erfolgreicher im Hinblick auf prädikatisierte Märchenfilme ist der Produzent Hubert Schonger. Der vor allem mit seinen zahlreichen Kulturfilmen populäre Regisseur produziert zwischen 1938 und 1941 auch Märchenfilme für ein Kinderpublikum. Neun seiner insgesamt elf Adaptionen mit Schauspielern werden mit dem Prädikat „volksbildend“ ausgezeichnet. Wie schon Zengerling hält auch er sich oft an die Grimmschen Literaturvorlagen, versieht diese aber zusätzlich mit propagandistischen Zügen. So will in Tischlein deck Dich, Esel streck Dich, Knüppel aus dem Sack! (1938) einer der drei Schneidersöhne, die vom Vater aus dem Haus gejagt werden und in der Fremde ein Handwerk lernen, einem Bauern zur Strafe „einen gelben Fleck“ auf seine Hose setzen, wenn er weiter das Schneiderhandwerk diffamiert. Der „gelbe Fleck“ ist ein mittelalterlicher Vorläufer des sogenannten „Judensterns“, den alle Juden ab 1941 im deutschen Machtbereich in der Öffentlichkeit tragen müssen. Zwar wird der „gelbe Fleck“, wie auch der „Judenstern„, nicht auf der Hose sondern am Oberkörper getragen, doch Schonger muss klar gewesen sein, dass diese Szene subtil antisemitisches Gedankengut transportiert. Ein anderes Beispiel: Der standhafte Zinnsoldat (1940) von Hans Christian Andersen inszeniert Schonger nicht wie in der Vorlage als tragikomische Liebesgeschichte zwischen einem Zinnsoldaten und einer Balletttänzerin, sondern als einen Kriegsfilm mit animierten Puppen: Ein Spielzeug-Troll, der in einem Kinderzimmer grundlos einen Zinnsoldaten angreift und eine Balletttänzerin erobern will, wird von den 24 Brüdern des Zinnsoldaten mit Hilfe einer Kanone bombardiert und im Kugelhagel mit Feuer und Rauch sowie Donnergetöse vernichtet. Der Troll verbrennt qualvoll – und das in besonders langen Kameraeinstellungen. Die perfide These, dass sich Deutschland im Krieg nur gegen seine Angreifer (= Troll) wehrt, wird damit sogar im Kinderzimmer eindrucksvoll bewiesen.
Angelehnt an Zengerling werden auch bei Schonger Könige in den Märchenfilmen durchweg als positive Charaktere eingeführt oder deren Verhalten der realpolitischen Situation angepasst: In Schneewittchen und die sieben Zwerge (1939) muss Schneewittchens Vater in den Krieg ziehen (die Uraufführung fällt auf den 6. Oktober 1939!) und überlässt so seine Tochter schutzlos der bösen Stiefmutter. In Das tapfere Schneiderlein (1941) werden dem König neue Nebencharaktere (böse Minister) zur Seite gestellt, die alle gegen den Schneider gerichteten und vom König tolerierten Anfeindungen, welche bei den Grimms vorkommen, in sich vereinen und den Herrscher als guten Charakter unbeschädigt lassen. Zudem schreibt Schonger im Vorwort des Drehbuchs von der Geschichte des tapferen Schneiderleins, das siegreich aus drei vorher aussichtslosen Kämpfen (Riesen, Wildschwein, Einhorn) hervorgeht: „Dem Mutigen gehört die Welt“ – ein Leitsatz, dessen Zeitbezug offenkundig ist. Die Uraufführung findet am 24. Oktober 1941 statt.
Hans im Glück wird abgesetzt
Neben Zengerling und Schonger, die zusammen mehr als drei Viertel der Märchenfilme zwischen 1933 und 1945 produzieren, versuchen sich auch andere Produktionsfirmen an märchenhaften Spielfilmen für Kinder – aber auch für Erwachsene: So schreiben bereits Anfang der 1930er-Jahre die bekannten Filmarchitekten Robert Herlth und Walter Röhrig an einem Manuskriptstoff zu Hans im Glück. Erst 1935 finden beide in der Delta-Film GmbH eine Produktionsfirma. Hans im Glück erfährt plötzlich ein großes medien- und parteipolitisches Interesse: Die Drehorte besuchen nicht nur der Vizepräsident der Reichsfilmkammer Arnold Raether, sondern auch Staatskommissar Hans Hinkel und Josef Dietrich, Kommandeur der Leibstandarte-SS „Adolf Hitler“. Der Grund: Als Verleihfirma der Großfilme, die bei Delta-Film entstehen, fungiert die Reichspropagandaleitung der NSDAP. Sie unterstützt Produktionen, die eine „Werbung für die Ideen und Ziele des Nationalsozialismus darstellen“ (Film-Kurier, 2.2.1934). Doch Hans im Glück als neuer deutscher Großfilm für Erwachsene, der den Untertitel Ein heiteres Spiel im Volksliedton trägt, endet im propagandistischen Fiasko. Bei der Uraufführung am 3. Juli 1936 wird der Film vom Berliner Publikum ausgebuht und ausgepfiffen – und nach einem Tag abgesetzt: Das ständige Intonieren von „deutschen Volkliedern“, zusammengeschnittene Kameraaufnahmen von „deutschen Landschaften“, verklärt-romantisierende Bilder vom ebenso „deutschen Bauernleben“ und eine langweilige Filmhandlung mit schauspielerisch überforderten Hauptdarstellern ist sogar der Reichspropagandaleitung peinlich. Hans im Glück wird deshalb in einer gekürzten Fassung vom Jugendfilm-Verleih übernommen und vor einem Kinderpublikum amortisiert.
Der Nazi-Jäger rettet das Rotkäppchen
Ist Hans im Glück (1936) ein missglückter Versuch, NS-Propaganda in einem Märchenfilm zu transportieren, so gelingt das in Rotkäppchen und der Wolf (1937) in beklemmender Vollkommenheit. Fritz Genschow und Renée Stobrawa schreiben dafür das Drehbuch und orientieren sich an einer modernen Bühnenfassung von Rotkäppchen, die beide 1931/32 für das Berliner Theater am Schiffbauerdamm inszenieren. Um das kurze Grimmsche Märchen filmisch zu verlängern, bettet eine Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt, das eigentliche Märchen vom Rotkäppchen ein. Die Rahmenhandlung wird in Schwarz-weiß, der Mittelteil in Farbe, in einem neuen „von der Tobis (…) ausprobierten Bipack-Verfahren“ gedreht. Doch nicht nur in technischer Hinsicht, auch in Dialogführung und Figurenensemble gehen Genschow/Stobrawa neue Wege: Sie entstauben die Grimmsche Vorlage, passen die Wortwahl in den Dialogen der Gegenwart an und sparen nicht mit Witz und Ironie. Das ist bis zu diesem Zeitpunkt einmalig in der deutschen Märchenfilmproduktion. Ebenso einmalig ist aber auch, dass Fritz Genschow, der gleichzeitig Regie führt, in der Rolle des Jägers eine Uniform trägt, an der nicht einmal das Hoheitsabzeichen mit Reichsadler und Hakenkreuz fehlt – und das nicht nur in der Rahmenhandlung (Gegenwart), sondern auch im Mittelteil (Märchen). Es ist ein besonders perfides Beispiel dafür, dass NS-Symbole auch vor der braunen Märchenfilmwelt nicht haltmachen. Rotkäppchen und der Wolf wird von der Film-Prüfstelle mehrfach mit dem Prädikat „volksbildend“ ausgezeichnet und gilt als einer der meist aufgeführten Märchenfilme bis zum Ende des Dritten Reichs.
Autor: Ron Schlesinger
Literatur
Alt, Dirk: Die frühen Farbfilmverfahren und ihr Einsatz durch die NS-Propaganda 1933-1940, Hannover, 2007 (Magisterarbeit an der Leibniz Universität Hannover)
Deutsches Filmmuseum (Hrsg.): Märchenwelten: Der Schauspieler, Regisseur und Produzent Fritz Genschow, Frankfurt a. M., 2005
Drewniak, Boguslaw: Der deutsche Film 1938 – 1945, Düsseldorf, 1987
Endler, Cornelia Anett: Es war einmal… im Dritten Reich: Die Märchenfilmproduktion für den nationalsozialistischen Unterricht, Frankfurt a. M., 2006
Hader, Valerie: Märchen als Propagandainstrument im Nationalsozialismus. Kommunikationshistorische Studie zur Bedeutung der Gattung Märchen innerhalb der faschistischen Kinder- und Jugendliteraturpolitik, Wien, 2000 (Diplomarbeit an der Universität Wien)
Hahn, Ronald M. und Rolf Giesen: Das neue Lexikon des Fantasy-Films, Berlin, 2001
Kleinhans, Bernd: Ein Volk, ein Reich, ein Kino: Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln, 2003
Schlesinger, Ron: Rotkäppchen im Dritten Reich. Die deutsche Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945. Ein Überblick, Berlin, 2010 (Gefördert mit einem Stipendium der DEFA-Stiftung)