Hungerplaner und NS-Staatssekretär
Kindheit, Schule, jugendlicher Offizier (1899–1920)
Hans-Joachim Riecke wurde am 20. Juni 1899 in Dresden geboren; sein Vater war der damalige Hauptmann Friedrich Hermann Riecke, seine Mutter dessen Ehefrau Alice, geborene Osterlob.[1] Finanzielle Sorgen gab es keine in der Familie. Seine Erziehung nennt Riecke im Rückblick „preußisch“ streng. Zwar sei er als der „heißersehnte Sohn“ nach einem früh verstorbenen Bruder und drei Schwestern als kleines Kind verwöhnt worden, doch habe er dann zunehmend mehr Schläge bekommen, als auch nach den damaligen Gepflogenheiten üblich war. Trotz des Offiziersgehalts seines Vaters habe die wohlhabende Oma mütterlicherseits des Öfteren größere finanzielle Beträge zufließen lassen, damit die Familie ihre „repräsentative Verpflichtungen“ erfüllen konnte. Der Mutter standen zur Erfüllung ihrer Pflichten für den Haushalt mit fünf Kindern ein „Kinderfräulein“, eine Köchin und ein vom Truppenteil des Vaters abgestellter Hausbursche zur Verfügung.[2] Seiner Erinnerung nach hatte Hans-Joachim Riecke „vom 7. oder 8. Lebensjahr an kein anderes Berufsziel gehabt als Offizier zu werden“.[3]
Aufgrund der durch die Offizierslaufbahn seines Vaters bedingten Umzüge besuchte er nacheinander die „Bürgerschule“ sowie die „humanistischen Gymnasien“ in Riesa, Berlin, Schneeberg und Leipzig.[4] Riecke schildert seinen Schulbesuch als von Langeweile und öden Paukern geprägte Zwangszeit, die er so schnell wie möglich beendet sehen wollte. Die schulischen Leistungen seien weit hinter den sportlichen zurückgeblieben, die auch durch das vom Vater ermöglichte Abstellen von Unteroffizieren zur Leibesertüchtigung seines Sohnes vom Schwimmen bis zum Reiten gefördert wurden. Dennoch seien seine Noten bis zur Untertertia (9. Klasse des Gymnasiums) „durchaus gut“ gewesen, aber mit dem Umzug der Familie nach Leipzig 1912 „wurden sie mäßig bis schlecht“. Sein Vater schied krankheitsbedingt vom Militärdienst aus, fand allerdings als Absolvent einer militärtechnischen Akademie eine gut bezahlte Arbeit bei einer Betonbaufirma in Leipzig.[5]
Die Schule verließ Riecke nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mit nichts mehr als dem Versetzungszeugnis in die Obersekunda (11. Klasse) trat er noch im Herbst 1914 als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein und wurde im April 1917 mit 18 Jahren zum Leutnant der Reserve befördert. Nach mehreren Verwundungen wurde er gegen Kriegsende nicht mehr an der Front eingesetzt und arbeitete während der Novemberrevolution 1918 als Werbeoffizier für das Freikorps Hülsen. Von März 1919 bis Anfang 1920 nahm er mit dem 2. Regiment der „Eisernen Division“ an den Kämpfen im Baltikum teil.[6] Im Kern gehörte er mit diesen Einheiten, „gegen die ‚Rote Gefahr‘ kämpfenden und marodierenden Freikorps“ an.[7]
Studium, Heirat, NS-Staatsbeamter (1920–1939)
Nach seinem Ausscheiden aus dem Heer beziehungsweise den Freikorps am 1. Februar 1920 schloss Riecke sich dem „Bund Oberland“ an und avancierte zum Führer dessen mitteldeutscher Gruppen. Mitglied der NSDAP wurde er am 15. Juni 1925 mit der Parteinummer 16.308. Zudem wurde er SA-Sturmführer und Gauleiter. Beruflich absolvierte Riecke von 1920 bis 1922 ein landwirtschaftliches Praktikum und studierte ohne Abitur von 1922 bis 1925 an der Universität Leipzig Landwirtschaft. Dieses Studium schloss er 1925 als Diplomlandwirt ab. Er fand eine Anstellung als Landwirtschaftsrat bei der Landwirtschaftskammer Westfalen. Bei seinem Ausscheiden Ende März 1933 hatte er die Position eines Abteilungsleiters inne. Seit dem 24. Dezember 1925 war Riecke mit der drei Jahre jüngeren Hildegard Schwarze verheiratet. Das Paar bekam vier Kinder: Jürgen (1927), Hans (1929), Adelheid (1934) und Barbara (1939).[8]
Der Grund für Rieckes Ausscheiden bei der Landwirtschaftskammer lag darin, dass er an anderer Stelle einen doppelten Karrieresprung machte: Am 1. April 1933 wurde er als „Kommissar des Reiches“ nach Schaumburg-Lippe berufen.[9] Am 22. Mai 1933 avancierte er als „Landespräsident“ zum Chef der Lippischen Landesregierung, ab dem 2. Juni 1933 mit dem Titel „Staatsminister“. Dabei übernahm er unter „Aushebelung der lippischen Landesverfassung“ auch die Geschäfte der beiden anderen von der Verfassung vorgesehenen Präsidiumsmitglieder und handelte im Auftrag des Reichsstatthalters von Lippe und Schaumburg-Lippe Alfred Meyer. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wurde am 2. Juni 1933 vom Lippischen Landtag legalisiert. Im entsprechenden „Gesetz über die Landesregierung“ hieß es: „Der Staatsminister bestimmt im Rahmen der Reichs- und Landesgesetze und nach den Weisungen des Reichsstatthalters die Richtlinien der Landespolitik.“[10]
Zudem stand Riecke als Gauinspektor der Partei ein Aufsichtsrecht über die lippische NSDAP zu. Da er als „alter Kämpfer“ und „anerkannter Verwaltungsspezialist“ wahrgenommen wurde, konnte er – so der Detmolder Stadtarchivar Andreas Ruppert – „von keiner Seite her angegriffen werden“, die regionale Parteihierarchie nach seinen Wünschen umgestalten und die von Flügelkämpfen geschwächte Lippische NSDAP stabilisieren.[11]
Während Rieckes Zeit als Staatsminister in Lippe, wurde der sozialdemokratische Journalist und Widerstandskämpfer Felix Fechenbach von den Nationalsozialisten ermordet. Am 7. August 1933, als Fechenbach von seiner „Schutzhaft“ in Detmold ins KZ Dachau überführt werden sollte, wurde er angeblich „auf der Flucht“ erschossen. Riecke hatte für die Überführung „Hilfspolizei“ zugelassen. Die Erschießung Fechenbachs wollte er aber nicht in Auftrag gegeben haben. Die Existenz eines von ihm unterzeichneten Schreibens an den bayerischen Ministerpräsidenten in München, in dem er die Überführung Fechenbachs nach Dachau empfahl, begründe keine solchen Verdächtigungen, wie Riecke noch 1969 als „Zeuge“ in einem Prozess gegen den damals als „Mittäter“ verurteilten SA-Mann Friedrich Grüttemeyer aussagte.[12]
Nachdem Riecke auf Wunsch des Staatssekretärs im Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium Herbert Backe in dessen Ministerium wechselte, war er als Backes rechte Hand und im Rang eines Ministerialdirektors ab dem 1. Februar 1936 dort in maßgeblicher Stellung tätig. Er leitete das Reichskuratorium für Technik in der Landwirtschaft, den Reichsverband der Wasser- und Bodenverbände sowie die, anfangs noch Backe persönlich unterstehende, Abteilung Agrar- und Ernährungswirtschaft des Ministeriums.[13]
Hungerplaner, Kriegsverwaltungschef, NS-Staatssekretär (1939–1945)
Am 22. August 1939 ließ Riecke sich auf eigenen Wunsch zum Wehrdienst einberufen und nahm als Bataillonskommandeur im Rang eines Hauptmanns am Frankreichfeldzug teil. Zehn Tage vor Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion wurde er am 12. Juni 1941 zum Kriegs- beziehungsweise Militärverwaltungschef bei Görings Vierjahresplanbehörde, konkret bei dessen für die wirtschaftliche Ausbeutung der zur Besetzung vorgesehenen sowjetischen Gebiete zuständigen „Wirtschaftsstab Ost“, bestimmt.[14] Schon am 23. Mai 1941 hatte die von ihm geleitete „Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft“ ihre „Wirtschaftspolitischen Richtlinien“ ausgearbeitet. Diese Richtlinien der für den Ernährungssektor zuständigen Einrichtung in der Vierjahresplanbehörde gingen davon aus, dass die Sowjetunion deswegen nicht mehr genügend Getreideüberschüsse produzieren könne, weil sie seit der Oktoberrevolution um dreißig Millionen Menschen angewachsen ist, die nun zusätzlich ernährt werden müssten. Deshalb sei es erforderlich, die Industrialisierung auf den im deutschen Interesse liegenden Bereich zurückzufahren und die landwirtschaftlichen Überschussgebiete von den Zuschussgebieten, insbesondere den russischen Großstädten, abzuriegeln. Nur so könnten die von Deutschland gewünschten 8,7 Millionen Tonnen Getreide jährlich aus dem Land gepresst werden. Als Konsequenz formulierten die Richtlinien: „Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerdezone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas.“[15] Damit entsprach die Ausarbeitung dieser Richtlinien den Vorgaben einer Besprechung der Staatssekretäre vom 2. Mai 1941, die maßgeblich von Herbert Backe bestimmt wurden und einkalkulierten: „Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“[16]
Neben seiner Funktion als Leiter der Chefgruppe Landwirtschaft beim Wirtschaftsstab Ost stand Riecke auch der gleichen Chefgruppe in Rosenbergs Ostministerium vor. Damit sollten Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Institutionen, die für die Ausbeutung der besetzten Gebiete zuständig waren, vermieden werden. Als erster brachte der Stanford-Historiker Alexander Dallin 1957 in seiner Studie „German Rule in Russia 1941–1945“ diesen Sachverhalt auf den Punkt: „Hans Joachim Riecke […] war als Beamter des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, als Chef der Landwirtschaftsabteilung im Wirtschaftsstab Ost und als Chef der Hauptgruppe Ernährung und Landwirtschaft im Ost-Ministerium der tatsächliche Boß der östlichen Landwirtschaft.“[17]
Dabei wird von der Geschichtsforschung die zentrale Funktion Rieckes und dessen Verantwortung für die Hungerpolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion betont.[18] Der von ihm geleitete Apparat, der auch deshalb über große Schlagkraft verfügte, weil Riecke als Kriegsverwaltungschef im besetzten Osten zentrale Funktionen von Backes Reichsernährungsministerium, Görings Vierjahresplanbehörde und Rosenbergs Ostministerium vereinigte, raubte innerhalb von drei Jahren circa sieben Millionen Tonnen Getreide, eine dreiviertel Million Tonnen Ölsaaten, gut 600.000 Tonnen Fleisch und 150.000 Tonnen Fette aus der Sowjetunion und unterstützte die Wehrmacht, die noch einmal das Mehrfache für ihre Besatzungstruppen requirierte. Damit konnte „die Versorgungslage des deutschen Volkes auf der bisherigen Höhe gehalten werden“, so dass der Wirtschaftsstab Ost vorschlug, Riecke für seine Verdienste das „Ritterkreuz mit Schwertern“ zu verleihen.[19] Aufgrund dieser extremen Ausbeutung der Nahrungsmittelressourcen zugunsten der Wehrmacht und der deutschen Zivilbevölkerung verhungerten alleine in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zwischen vier und sieben Millionen Menschen.[20]
Die gute Lebensmittelversorgung der Wehrmachtssoldaten und daheim gebliebenen Deutschen galt nicht für den Teil der Juden, der bis zum Frühherbst 1942 noch nicht ermordet war. Im Deutschen Reich verfügte Riecke mit dem Erlass zur „Lebensmittelversorgung von Juden“ am 18. September 1942 die Einstellung deren Versorgung mit Fleischprodukten, Eiern, Weizenerzeugnissen, Milch und verschiedenen anderen Lebensmitteln. Lebensmittelzuteilungen für jüdische Kinder wurden gekürzt und „Lebensmittelgeschenksendungen“ aus dem Ausland von den verbleibenden Rationen abgezogen. Juden wurden von den Bestimmungen, die ansonsten für Kranke und Wöchnerinnen galten, vollständig ausgeschlossen. Der Erlass war unterzeichnet mit „In Vertretung des Staatssekretärs: Riecke“.[21] In seinen Erinnerungen will Riecke den von ihm unterschriebenen „Judenrationserlaß“ als einen „der klassischen Fälle“, verstanden haben, „wo man etwas tun mußte, um Schlimmeres zu verhüten.“ Der Erlass habe die viel „schlimmeren Ernährungssituationen“ wie sie etwa in den „Jahre[n] 1945/46 für die [deutsche] Bevölkerung der amerikanische[n] Zone“ gegolten habe, verhindert.[22]
Riecke war zu diesem Zeitpunkt schon der ständige Vertreter des Staatssekretärs Herbert Backe für die ernährungswirtschaftlichen Abteilungen in dessen Ministerium, da Backe zwar formal noch Staatssekretär war, de facto aber nach der Kaltstellung seines Ministers Darré dessen Geschäfte führte. So übernahm Riecke seit dem 1. Juni 1942 die Geschäfte als Staatssekretär; tatsächlich zum Staatssekretär ernannt wurde er aber erst im Juli 1944.[23] In die SS trat er am 10. Oktober 1944 von der SA als Gruppenführer kommend ein und wurde per Entscheid Heinrich Himmlers vom 18. Januar 1945 rückwirkend zum 10. Oktober 1944 zum SS-Gruppenführer befördert.[24]
Inhaftierung und Aussage bei den Nürnberger Prozessen (1945–1949)
Am 23. Mai 1945 wurde Riecke als stellvertretender Minister Backes in der geschäftsführenden Regierung Dönitz in Flensburg verhaftet und nach Mondorf überführt. Von August 1945 bis Januar 1946 und von April 1946 bis Januar 1947 war er im Military Intelligence Service Center (M.I.S.C.) Oberursel interniert. In der Zeit dazwischen war er in Nürnberg inhaftiert; ebenso vom Februar 1947 bis September 1948. Im September 1948 überstellte man ihn ins Internierungslager Darmstadt.[25]
Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sagte Riecke am 17. April 1946 als Zeuge der Verteidigung zugunsten des angeklagten ehemaligen Ostministers Alfred Rosenberg aus. Er beschuldigte Heinrich Himmler, Martin Bormann und Erich Koch schwer, in einer Art Komplott dessen angeblich menschenfreundliche Besatzungspolitik konterkariert zu haben.[26] Rosenbergs Politik habe dem Ziel gedient, die „vom Führer gegebenen Anordnungen […] ohne Zwang für die Bevölkerung durchzuführen“, ja, „die Ostvölker für eine Zusammenarbeit zu gewinnen“. Sein eigener Reichskommissar Koch habe diese Zielsetzungen Rosenbergs aber ins Gegenteil verkehrt, der zudem von Bormann und Himmler massive Unterstützung erhalten habe. Göring selbst sei auf eine maximale Ausbeutung der Nahrungsressourcen fixiert gewesen und habe viel zu hohe und wirklichkeitsfremde Forderungen gestellt.[27] In seinen Erinnerungen schreibt Riecke, Göring habe ihn über seinen Anwalt wissen lassen, dass er – Riecke – ihn „ruhig belasten dürfe, wenn [er] damit einem anderen Angeklagten helfen könne. Bei ihm käme es auf ein bißchen mehr oder weniger belastende Momente nicht an“.[28]
Rosenbergs Verteidiger Thoma leitete die Befragung Rieckes mit der grotesken Behauptung ein, er wolle durch die Aussage des Zeugen Riecke „beweisen, daß während der ganzen deutschen Besatzung kein Ukrainer und kein Sowjetangehöriger gehungert hat“. Dazu führte Riecke aus, wie sehr er darauf geachtet habe, die Bauern der besetzten Gebiete eigenverantwortlich wirtschaften zu lassen und regionale Agrarordnungen zu fördern, die der Versorgung der dortigen Bevölkerung gedient hätten.[29] Auf Thomas Frage, ob „in den besetzten Ostgebieten außer der Ernährung für die Wehrmacht auch noch eine Ernährung des deutschen Volkes mit in Betracht gezogen“ wurde, antwortete Riecke: „Etwa zwei Drittel des Aufkommens an Ernährungsgütern aus den besetzten Ostgebieten dienten zur unmittelbaren Versorgung der Wehrmacht. Das restliche eine Drittel wurde nach Deutschland abtransportiert und wurde von uns als Ausgleich zur Ernährung für die stets ansteigende Zahl ausländischer Arbeiter angesehen.“ Der Anteil der Lieferungen am Ernährungsaufkommen Deutschlands habe 1942 und 1943 „etwa 15%, in den übrigen Jahren um etwa 10% herum“ betragen.[30]
Nachdem bis Mitte 1947 beabsichtigt war, Riecke in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse anzuklagen, trat er letztlich im Nürnberger Nachfolgeprozess Fall 11 gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes und anderer Ministerium, dem sogenannten Wilhelmstraßenprozess, als Zeuge der Anklage und Verteidigung auf. Als er dort nicht mehr benötigt wurde, überstellte man ihn am 17. September 1948 ins Internierungslager Darmstadt, dessen Auflösung damals schon im Gange war, so dass bei seiner Ankunft statt der ursprünglich 3.000 nur noch wenige Hundert Häftlinge verwahrt wurden.[31] Er blieb dort ein halbes Jahr, bevor er entlassen wurde. Laut Entnazifizierungsakte wurde am 23. März 1949 von der Kammer seine „Haftentlassung“ verfügt.[32]
Entnazifizierung (1949–1952/54)
In seinem Entnazifizierungsverfahren vor der Zentralspruchkammer Hessen wurden Riecke neben „formalen“ Belastungen wie seinen herausgehobenen Funktionen in der NSDAP, der SA, SS und im Gefüge der Ministerial- und Besatzungsbehörden auch „materielle“ Belastungen zur Last gelegt. Zum einen seine mutmaßliche Verwicklung in die Ermordung des sozialdemokratischen Journalisten Felix Fechenbach während dessen Überführung am 7. August 1933 von der Detmolder „Schutzhaft“ in das Konzentrationslager Dachau, also während Rieckes Amtszeit als Staatsminister für Schaumburg-Lippe. Zum anderen die durch seine Unterschrift dokumentierte Verantwortung für den Erlass des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vom 18. September 1942 zur „Lebensmittelversorgung von Juden“. Aufgrund dieser Vorwürfe, vor allem seiner, wie der öffentliche Kläger bei der Spruchkammer Darmstadt, Lämmermann, in seiner Klageschrift vom 22. Dezember 1949 formulierte, „ausserordentlich schweren formalen Belastung“ wurde beantragt, Riecke in die „Gruppe I der Hauptschuldigen einzureihen“[33]
Laut Rieckes Erinnerungen war die im März 1949 erfolgte Haftentlassung der Kautionszahlung und Fürsprache des damaligen Geschäftsführers der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Handelsmühlen“, Friedrich Ackermann, zu verdanken. Er fand bald mit Hilfe guter Freunde Arbeit und Wohnung in Frankfurt. Mit auch „unter anderem Namen“ verfassten Gutachten für die Landmaschinenindustrie, Fleischwarenfabriken, Teigwarenindustrie und Mineraldüngerverbände, verdiente er über den eigenen Bedarf hinaus, so dass er seiner „Familie in ihrem Ausweichquartier in Föhrste bei Alfeld/Leine immer größere Beträge zukommen lassen“ konnte.[34]
Seine „Nachfolger“ in den landwirtschaftlichen Organisationen hätten aber im Unterschied zur landwirtschaftsverbundenen Industrie nichts für ihn getan – mit einer, allerdings bedeutenden späteren Ausnahme: Der Präsident der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, Karl Lorberg, „[hat] sich in letzter Instanz meines Spruchkammerverfahrens beim hessischen Kabinett tatkräftig für mich eingesetzt“.[35]
Für das Verfahren selbst hatte ihm Ackermann in der Person des früheren preußischen Finanzministers 1931/1932, Otto Klepper, einen prominenten Verteidiger verschafft. Einem günstigen Ausgang des Verfahrens, so Riecke, sei es allerdings abträglich gewesen, dass Klepper sich nicht auf das Beschaffen von Entlastungszeugen und Widerlegen der Vorwürfe beschränkt habe, sondern „gleichzeitig das unsinnige Spruchkammersystem angriff“.[36] Und so habe das Unheil eben seinen Verlauf genommen: Obwohl die Anklage die „beiden einzigen ‚materiellen‘ Beschuldigungen – den Fall Fechenbach und den Juden-Rationserlaß“ nicht habe aufrechterhalten können und zahlreiche Zeugen der Verteidigung seine positive Rolle „insbesondere in der Angelegenheit des Judenrationserlasses“ bestätigt hätten, während die Anklage nicht in der Lage gewesen sei „auch nur einen Belastungszeugen aufzutreiben“, sei er am 30. Oktober 1950 nach zweimaliger mündlicher Verhandlung in erster Instanz in die „Gruppe II der Belasteten“ eingereiht und zu „zwei Jahren Arbeitslager verurteilt“ worden, die jedoch durch seine fast vierjährige Internierung als „abgegolten angesehen wurden“. Die Begründung für seine Einstufung als „belastet“, obwohl man ihm kein konkretes Fehlverhalten habe nachweisen können, sei darauf hinausgelaufen, dass seine „formalen Belastungen“ während der NS-Zeit „so groß seien, daß sie auf jeden Fall materielle Belastungen in sich schlossen“.[37]
In der Tat brachte Rieckes Anwalt Klepper Dutzende von Entlastungszeugen, die dem Beschuldigten bescheinigten, er sei nicht nur persönlich integer gewesen, sondern habe mit dem „Judenrationserlass“ das Menschenmögliche getan, um Schlimmeres zu verhindern. Zwar hatte Riecke in dem Erlass zur „Lebensmittelversorgung von Juden“ am 18. September 1942 die Einstellung der Versorgung mit Fleischprodukten, Eiern, Milch und verschiedenen anderen Lebensmitteln verfügt und wurden die Lebensmittelzuteilungen für jüdische Kinder weiter gekürzt.[38] Doch es findet sich in der Entnazifizierungsakte kein einziger Zeuge, den der öffentliche Ankläger präsentiert hätte, um darin eine Belastung für den Beschuldigten zu sehen. Und für seine Zeit als Militär- bzw. Kriegsverwaltungschef im Osten habe gegolten: „Riecke vertrat für den Osten keine Ausbeute-, sondern Aufbaupolitik“.[39] Demgegenüber wurde seitens der Ankläger auch hier und in anderen Punkten, etwa seiner Involvierung in den Fechenbach-Mord, kein einziger Zeuge aufgeboten, der Riecke belastet hätte. Im Gegenteil wurde schon in der Klageschrift betont, er habe Dr. Woermann „tatsächlich aus den Klauen der Gestapo befreit“.[40] Emil Woermann gab an, er habe Riecke sowohl auf Fachtagungen als auch im Rahmen seiner damaligen Gutachtertätigkeit kennengelernt, die er als Professor für landwirtschaftliche Betriebslehre und Ernährungswissenschaft der Universität Halle für das Landwirtschaftsministerium ausübte. Nachdem er aufgrund seiner Verbindungen zur Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 nach dem Attentat verhaftet worden war, habe er Rieckes persönlicher Intervention beim Präsidenten des Volksgerichtshofes sein Leben zu verdanken, da nach Rieckes Fürsprache sein Verfahren bis zum abzusehenden Kriegsende hinausgezögert worden sei.[41]
Riecke wurde dann von der 3. Spruchkammer per Entscheid vom 30. Oktober 1950 in die „Gruppe 2 der Belasteten“ eingereiht, und zwar laut Begründung alleine aufgrund seiner formalen Belastungen als hochrangiger Vertreter des NS-System, „als dessen zuverlässiger Paladin“.[42] Sein Widerspruch führte in einem Spruchkammerentscheid am 16. November 1952 nicht zum Erfolg; es blieb bei der Einstufung in dieselbe Gruppe der Belasteten.[43] Erst ein Gnadengesuch Rieckes an den hessischen Regierungschef brachte schließlich 1954 die gewünschte Entscheidung und Option, gegebenenfalls auch wieder in den Öffentlichen Dienst zurückkehren zu dürfen. Der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn verfügte am 12. Mai 1954, dass Riecke nach Zahlung von 500 DM „mit Wirkung vom 1. Juli 1954 in die Gruppe der Mitläufer eingereiht“ wird.[44]
Nachkriegskarriere beim Getreidekonzern Alfred C. Toepfer ab 1951
Noch 1950, also mitten im Prozedere seines Entnazifizierungsverfahrens, machte der Chef des gleichnamigen Hamburger Getreidekonzerns Alfred C. Toepfer Riecke das Angebot in leitender Stellung in seine Firma einzutreten.[45] Toepfer und Riecke kannten sich aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges nicht persönlich, hatten aber mittelbar funktional miteinander zu tun. So wollte sich Toepfer im Rahmen seiner Ostexpansion auch eine gute Stellung „im russischen Getreidehandel für die Nachkriegszeit“ sichern. In diesem Zusammenhang trat Toepfers Hamburger Geschäftsführer Wilhelm Hochgrassl in den Dienst der im Krieg zuständigen halbstaatlichen Zentralgesellschaft Ost (ZO), die wiederum an die Weisungen des Leiters der Chefgruppe Landwirtschaft im Wirtschaftsstab Ost, also Riecke, gebunden war. Das Engagement Toepfers in dieser Sache endete mit dem deutschen Rückzug aus dem Kaukasus Anfang 1943 und Hochgrassl wurde aus den Getreidegebieten im Kuban zurückgenommen.[46]
Riecke begann bei Toepfer im Februar 1951 als Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung und wurde Prokurist des Unternehmens. In der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. erhielt er im April 1958 Zeichnungsvollmacht für den Vorstand. Riecke wurde dadurch zum stellvertretenden Vorstand der Stiftung gemacht und nahm diese Funktion bis 1976 wahr. Danach wurde er Ehrenmitglied des Stiftungsrates und blieb dies bis zu seinem Tod 1986.[47] Damit hatte er Spitzenfunktionen in einem Handelskonzern inne, der zu den „führenden international tätigen Getreide- und Futtermittelhandelsfirmen“ zählte und einschließlich seiner Beteiligungen an Schifffahrt und Landhandel Mitte der 1970er Jahre einen Umsatz von zehn Milliarden DM erzielte.[48]
Parallel zu seiner leitenden Tätigkeit für Toepfers Firma publizierte Riecke zu Ernährungsfragen. 1953 war Riecke Beiträger in dem Sammelband „Bilanz des Zweiten Weltkrieges“, der den Anspruch erhob, „echte Zeugen der Zeit, Fachexperten von Rang und Namen, die wirklich dabei gewesen sind“, hätten ihre „Erfahrungen herausgearbeitet, die Verpflichtungen für die Zukunft erkannt und die Folgerungen gezogen“.[49] Während Ex-Generäle wie Kurt von Tippelskirch, Albert Kesselring, Heinz Guderian und andere über die Lehren aus den Schlachten des Zweiten Weltkrieges räsonierten und ehemalige NS-Minister wie Hans Kehrl zur „Kriegswirtschaft und Rüstungsindustrie“ oder Lutz Graf Schwerin von Krosigk zur Frage „Wie wurde der Zweite Weltkrieg finanziert?“ das eigene Tun rechtfertigende Antworten gaben, erörterte Riecke das Thema „Ernährung und Landwirtschaft im Kriege“. Danach hätten die Verantwortlichen, in erster Linie Minister Herbert Backe und er selbst, das Mögliche getan, um erstens die Ernährung des deutschen Volkes im Krieg zu sichern und zweitens, das Wohlergehen der Völker, denen Nahrungsmittel entzogen wurden, so wenig als möglich zu beeinträchtigen. Zwar hätten „die Entnahmen von Lebensmitteln aus den besetzten Gebieten […] große Härten“ mit sich gebracht. Doch habe man im Wesentlichen aus diesen Ländern nur so viel entnommen wie die Wehrmacht dort gebraucht hätte und für die „Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen, die im Altreich mitversorgt werden mußten“, erforderlich gewesen sei. Schließlich, so Riecke, „erschien [es] vertretbar, daß die Herkunftsländer dieser Personengruppen zu deren Versorgung mit herangezogen wurden“.[50]
Als das 1953 erschienene Buch des Friedensnobelpreisträgers John Boyd Orr „The White Man’s Dilemma“ unter dem Titel „Werden nur die Reichen satt?“ 1954 in seiner deutschen Fassung erschien, war diese von Riecke bearbeitet und mit einem Vorwort versehen.[51] John Boyd Orr, 1945 erster Generaldirektor der Welternährungsorganisation FAO der Vereinten Nationen und 1949 für seinen Kampf gegen den Welthunger als wesentlicher Bestandteil der Friedenspolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, präsentierte in dem Buch seine Überlegungen zur Schaffung einer Welt ohne Hunger und Kriege. Orrs Kernthese lautete: „Die einzige Alternative gegenüber einem Weltkrieg ist ein weltumspannender Plan, die Hilfsquellen der Erde so zu erschließen, daß sie den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Ein solcher Plan würde einen Markt schaffen, der genauso große wäre wie der Rüstungsmarkt; die Dividende würde in Leben und Wohlstand, statt in Tod und Zerstörung gezahlt.“[52] In seinem Vorwort für die deutschen Leser identifiziert sich Riecke mit der Rolle des zur Welternährung Beitragenden, stimmt der These Orrs zu und schreibt, „die Länder der weißen Rasse [sollten] einen Teil der finanziellen und materiellen Mittel verwenden, die heute der Rüstung zufließen“. Über Orr hinausgehend fordert Riecke eine „bessere Verteilung des Landbesitzes“ in den unterentwickelten Ländern. Dies sei eine Frage, die „von Sir Boyd Orr nur am Rande gestreift“ werde, aber von zentraler Bedeutung für die „erhoffte weltpolitische Wirkung“ aller gut gemeinter Hilfeleistung sei. Für die Deutschen gelte, man könne in dieser Frage auch deshalb unbefangen handeln, weil „wir keine Kolonien und keinen umfangreichen Besitz in unterentwickelten Ländern mehr [haben], der uns entgleiten könnte“. Diese Stärkung der unterentwickelten Länder bilde auch eine Voraussetzung, um für die von Orr dargelegte „weiter erhöhte Produktion“ in ausreichendem Maße die erforderlichen „Absatzmärkte zu gewinnen“.[53]
1958 „erklärte“,laut Darstellung der Vereinigten Wirtschaftsdienste (VWD), „Staatssekretär a. D. Hans-Joachim Riecke“ vor dem Hamburger Landesverband deutscher Diplomlandwirte und Agrarjournalisten, dass die Stärkung der „EWG eine Notwendigkeit“ sei. Zwar würden sich „einschneidende Maßnahmen nicht vermeiden lassen“ und sei „die Rationalisierung der Betriebe mit dem Ziel der Kostensenkung“ erforderlich, doch gebe es alleine diesen Weg zur „Integration der westlichen Agrarwirtschaft“, sonst bliebe als „Alternative […] nur die Kolchose“.[54]
Riecke hatte bis in die 1970er Jahre führende Funktionen bei Toepfer inne und stieß in die „höchsten repräsentativen Positionen der Stiftungen“ vor.[55] Bis zu seinem Tod am 11. August 1986 war er Ehrenmitglied des Stiftungsrates.[56] Bei Rieckes Bestattung in Hamburg hielt Alfred Toepfer eine Grabrede für seinen langjährigen leitenden Mitarbeiter.[57]
Autor: Wigbert Benz
Literatur
Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt a.M. 2013 (= überarbeitete Neuauflage der Erstausgabe von 1991)
Benz, Wigbert: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941. Berlin 2011
Benz, Wigbert: Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär. Vom Hungerplaner vor, zum „Welternährer“ nach 1945. Berlin 2014 (erscheint Mitte Mai 2014)
Dallin, Alexander: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945. Eine Studie über Besatzungspolitik. Königstein/Ts. 1981 (unveränderter Nachdruck der 1958 im Droste Verlag erschienenen Ausgabe. Zuerst u.d.T. German Rule in Russia 1941-1945. A Study of Occupation Policies.New York 1957)
Gerlach; Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1945. Hamburg 1999
Kay, Alex J: Exploitation Resettlement, Mass Murder. Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940–1941. New York – Oxford 2006
Kempner, Robert M.W: Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklägers in den Nürnberger Prozessen. München 2005 (Neuausgabe des 1969 erstmals erschienenen Titels)
Kreis, Georg / Krumeich, Gerd / Menudier, Henri / Mommsen, Hans / Sywottek, Arnold (Hrsg.): Alfred C. Toepfer. Stifter und Kaufmann. Bausteine einer Biographie – Kritische Bestandsaufnahme. Hamburg 2000
Priamus, Heinz-Jürgen: Meyer. Zwischen Kaisertreue und NS-Täterschaft. Biographische Konturen eines deutschen Bürgers. Essen 2011
Orr, John Boyd: Werden nur die Reichen satt? Des weissen Mannes Schicksalsstunde. Deutsche Ausgabe bearbeitet und mit einem Vorwort von Hans-Joachim Riecke. Düsseldorf 1954
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. Oktober 1945 – 1. Oktober 1946. 42 Bde. Nürnberg 1947 ff.
Ruppert, Andreas: Die Ortsgruppe Detmold der NSDAP 1925–1934. In: Nationalsozialismus in Detmold. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts. Hrsg von der Stadt Detmold. Bearb. von Hermann Niebuhr und Andreas Ruppert. Bielefeld 1998, S. 203–232
Quellen
SSO-Akte (= SS-Führer-Personalunterlagen) : Riecke, Hans-Joachim, u.a. mit Lebenslauf und weiteren Personalangaben vom 17. August 1944, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (ehemals Berlin Document Center, BDC)
Nachlass Hans-Joachim Riecke: „Erinnerungen “. Typoskript mit handschriftlichen Anmerkungen. Ohne Datum [vermutlich 1962]. N 1774/1, Bundesarchiv Koblenz
Entnazifizierungsakte Hans-Joachim Riecke, Signatur: Abt. 520 Darmstadt-Zentral (DZ) Nr. 519480, Hessisches Hauptstaatsarchiv (HSSTA) Wiesbaden