SS-Sturmbannführer, Standortarzt von Auschwitz
Biographie
Eduard Wirths wurde 1909 in Geroldshausen bei Würzburg geboren. Er entstammte einem relativ wohlhabenden aber nichtakademischen Milieu. Der junge Eduard wurde von Familienmitgliedern und Freunden als diszipliniert, ungewöhnlich gewissenhaft und gehorsam aber auch als „einfühlsam und sanft im Umgang mit anderen“[1] beschrieben. Er begann sein Studium der Medizin im Sommersemester 1930 in Würzburg, wo er es im Januar 1935 auch erfolgreich beendete. Er trat 1933 der SA bei und wechselte ein Jahr später zur SS. Er selbst spricht in seiner Rechtfertigungsschrift, die er in britischer Kriegsgefangenschaft verfasst hatte, von eher praktischen Erwägungen, die ihn dazu bewogen, der Partei und der SA beizutreten. Er arbeitete ab 1936 für das Thüringer Landesamt für Rassewesen und vertretungsweise auch in einer Landarztpraxis in der badischen Provinz. Schilderungen von Freunden und Familienmitgliedern zufolge war Wirths, was berufliche Laufbahn und Sozialstatus betrifft, sehr ehrgeizig. Eine ärztliche Karriere in der SS schien beides in idealer Weise zu verbinden. 1936 heiratete er eine Medizinstudentin. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.
Von Dezember 1936 bis März 1937 war er als Hilfsarzt am staatlichen Gesundheitsamt in Sonneberg/Thüringen tätig und im Anschluss daran (bis September 1938) als Assistent an der Jenaer Frauenklinik, wo er bei Zwangssterilisationen assistierte[2]. Mit Kriegsbeginn wurde Eduard Wirths von der Waffen-SS eingezogen, mit der er zwischen Februar 1941 und April 1942 auch im Norden Skandinaviens und in Russland an Kampfhandlungen teilnahm und u. A. mit den EK II ausgezeichnet wurde[3]. Im Anschluss an seine Fronteinsätze wurde er wegen der dort erlittenen gesundheitlichen Schädigungen zum KZ-Dienst versetzt. Im KZ Dachau wurde er als SS-Obersturmführer in den KZ-Dienst eingeführt[4] und anschließend als erster Lagerarzt in das KZ Neuengamme versetzt .
Wirths war überzeugter Nationalsozialist. Dennoch zeigte er partiell untypisches, ggf. auch widersprüchliches Verhalten. Er soll beispielsweise auch nach Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Jahr 1935 noch Juden behandelt haben[5].
Im September 1942 wurde Eduard Wirths vom KZ Neuengamme nach Auschwitz versetzt und zum Hauptsturmführer befördert. Er blieb dort bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945. Wirths starb am 20. September 1945 nach einem Selbstmordversuch, nachdem ihm ein britischer Offizier zu bedenken gegeben hatte, dass er für den Tod von vier Millionen Menschen verantwortlich sei[6].
Wirths in Auschwitz
Wirths unterstand der Inspektion der KL[7] im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) der SS, d. h. dessen Chef SS-Gruppenführer Richard Glücks bzw. dem Amt D III für Sanitätswesen und Lagerhygiene und dessen Leiter („leitender Arzt KL„) SS-Standartenführer Dr. Enno Lolling[8]. Als Standortarzt war er Leiter der „medizinischen Abteilung“ und gehörte damit zu den Führern des Kommandanturstabes. Im Lager unterstand er „disziplinarisch“ dem Lagerkommandanten SS-Oberststurmbannführer Rudolf Höß, ihm selbst unterstanden alle in Auschwitz tätigen Ärzte, Apotheker und die „Sanitätsdienstgrade“ (SS-Sanitäter). Seine Aufgabe war die Seuchenbekämpfung und die Organisation bzw. Durchführung der Selektionen.
Wirths „Häftlingsschreiber“ Hermann Langbein, der ihn schon aus seiner Dachauer Zeit kannte, charakterisierte ihn als SS-Arzt mit Skrupeln, der seinen Dienst im Vernichtungsalltag nur unwillig geleistet habe. Eine polnische Auschwitz-Überlebende sagte nach ihrer Befreiung folgendes aus: „Ich erkläre hiermit, daß sich Herr Dr. Wirths stets in humaner und menschlicher Weise für die Häftlinge eingesetzt hat und daß Tausende von Häftlingen infolge seiner energischen Seuchenbekämpfung und aufopfernden Fürsorge dem Leben erhalten blieben.“[9] Möglicherweise spielten in diesem Falle unbewusste Gefühle von Dankbarkeit eine Rolle, da sie Wirths ihr Leben zu verdanken glaubte. Dennoch bleibt ein solches Urteil eines Häftlings gegenüber einem Vertreter der SS in einem Konzentrations- und Vernichtungslager bemerkenswert. Im allgemeinen, ärztlichen Alltag bot Wirths tatsächlich ein Kontrastbild zu seinen unmittelbaren Kollegen. Wirths versuchte die katastrophalen sanitären Verhältnisse zu verbessern. Im Kampf gegen Typhus und Fleckfieber war er besonders erfolgreich und das gerade wegen seiner vergleichsweise „schonenden“ Methoden. Da vor der Anwesenheit von Wirths der bloße Verdacht einer ernsthaften Erkrankung genügt hatte, um einen Häftling durch eine Phenol-Injektion ins Herz zu töten, wurden Krankheitsfälle von den Häftlingen in der Regel verschwiegen. So konnten sich infektiöse Krankheiten immer wieder ausbreiteten. Andere SS-Ärzte schickten in solchen Fällen die Besatzungen ganzer Blöcke ins Gas. Wirths war in dieser Hinsicht zurückhaltender und sorgte in Kooperation mit seinem Häftlingsschreiber dafür, dass die Häftlinge wieder dazu übergingen, Krankheitsfälle zu melden.
Ein anderes Beispiel für Wirths Führungsstil war die Auseinandersetzung mit der politischen Abteilung, die immer wieder ohne Befehl Häftlinge erschießen ließ. Wirths beharrte auf der Einhaltung des Dienstweges, was zu einer Reduzierung der Erschießungen führte. Die Liste der Maßnahmen, welche die Bedingungen im Lager verbesserten, lässt sich weiterführen: Er bevorzugte „politische Häftlinge“ bei der Organisation der Krankenblocks, die sich weniger zu Gewaltexzessen hinreißen ließen als die „kriminellen Häftlinge“.
Aus der Aussage eines Lagerführers geht hervor, dass Wirths zunächst gegen eine Beteiligung des medizinischen Personals an den Selektionen ankommender Transporte der für die Vernichtung bestimmten jüdischen Menschen war[10]. Bis April 1943 waren die SS-Ärzte an der Rampe wie andere SS-Offiziere beteiligt; sie beaufsichtigten die Anwendung des Gases und stellten den Tod der in den Gaskammern Ermordeten fest. Im Frühjahr 1943 gelang es Wirths im Zuge der von Pohl veranlassten Reorganisation der KZ, die Selektion von „arbeitsfähigen“ und zur sofortigen Vernichtung bestimmten jüdischen Deportierten als medizinische Aufgabe der SS-Ärzte unter seiner Leitung zu konzentrieren.[11] Aber auch er tat den regulären Dienst „an der Rampe“ und hat Zehntausende von Juden eigenhändig „ins Gas geschickt“. Auf der anderen Seite sorgte er beispielsweise bei Krankentransporten aus den Außenlagern für ein Minimum an medizinischer Versorgung, um so die Zahl der als „arbeitsunfähig“ zu Tode Selektierten, abzusenken[12].
Das Verhältnis zwischen dem Häftling Langbein, der zum politischen Lagerwiderstand v.a. polnischer und kommunistischer Häftlinge gehörte, und Wirths war zumindest partiell von gegenseitigem Vertrauen geprägt. Zwischen beiden entwickelte sich mit der Zeit eine Art verdeckter Kommunikation und Kooperation. Langbein gab ihm indirekt zu wissen, dass er den Lagerwiderstand organisierte und Wirths ging darauf ein. Durch eine Sendung des Londoner Rundfunks hatte er erfahren, dass die Alliierten den SS-Angehörigen in den Schlüsselpositionen der Vernichtung mit Todesurteilen drohten[13]. Dies diente Langbein als Druckmittel, ihn für seine Aktivitäten zu gewinnen, da er ihm versprach, sich nach dem Kriegsende ggf. für ihn einzusetzen. Aber auch schon vorher gab es Fälle, in denen Wirths in gewissem Umfang auf Langbeins Anspielungen reagierte. Beispielsweise kam die Information über „wilde Exekutionen“ der politischen Abteilung über Langbein zu Wirths. Ebenso fand die Praxis der Tötung durch Phenol-Injektionen im Häftlingskrankenbau erst ein Ende, als Langbein Wirths darüber in Kenntnis gesetzt hatte und dieser die beteiligten Ärzte und Sanitätsdienstgrade zur Einhaltung des Dienstweges zwang. Letztlich kann man sagen, dass Wirths bewusst mit dem Lagerwiderstand kollaborierte, bzw. zuließ, dessen Werkzeug zu werden. Inwieweit es nun moralische Erwägungen waren, die Wirths zu diesem Verhalten trieben, oder eher strategische Erwägungen, die auf die Zeit nach einer Befreiung des Lagers durch die Alliierten abzielten, bleibt unklar.
Trotz aller moralischen Skrupel, die er nachweislich hatte, war auch Wirths an medizinischen Menschenversuchen beteiligt. Auch nach dem Abklingen der Fleckfieberepidemie in Auschwitz galt es, das Wachpersonal vor einem möglichen erneuten Ausbruch zu schützen. Wirths sollte ein neues Gegenmittel testen, zu einer Zeit als es weder im Stammlager noch in Birkenau einen akuten Fleckfieberfall gab. Zu diesem Zwecke wurden vier jüdische Häftlinge künstlich mit Fleckfieber infiziert. Am Ende starben zwei der vier „Probanden“.[14] Wirths war darüber hinaus in eine Reihe von gynäkologischen Versuchen zur Krebs-Früherkennung verwickelt, in denen Häftlinge zwangsweise kolposkopischen Operationen unterzogen wurden[15], die für die weiblichen Häftlinge extrem risikoreich waren. Im September 1944 wurde der Standortarzt zum Sturmbannführer befördert.
Zusammenfassung und Bewertung
Am Ende ergibt sich, was die Person Wirths’ betrifft, kein einheitliches Bild. Zum einen klagte Wirths in seinen privaten Aufzeichnungen und gegenüber seiner Familie über seine inneren Kämpfe und seine Abscheu gegenüber der Realität in Auschwitz. Er galt als einer der wenigen nicht korrupten SS-Angehörigen im Lager, er enthielt sich der physischen Gewalt, er nutzte den ihm offiziell gegebenen Handlungsspielraum, um die Situation der Häftlinge zu verbessern und kooperierte in bestimmten Situationen mit dem Lagerwiderstand. In der Summe rettete dies einer erheblichen Anzahl von Menschen das Leben. Auf der anderen Seite wurde er durch sein Engagement in der zentralen Position des Standortarztes zu einem „Techniker der Vernichtung“ (Kramer). Es ist noch nicht ganz klar, welche Rolle er dabei spielte, den Vernichtungsapparat in Auschwitz so effizient zu machen, wie er es zuletzt war. Fest steht jedoch, dass er diesen Prozess konstruktiv begleitet hat[16]. Aber letztlich genügt schon ein einzelnes Beispiel, wie das der Fleckfieber-Versuche, in dem er eigene ethische Grundsätze brach, um das Bild eines human gebliebenen SS-Arztes, das er in seiner Rechtfertigungsschrift von sich entwirft, zu dekonstruieren. Insofern ist das uneinheitliche Bild am Ende doch ein eindeutiges. Wirths war weder ein hasserfüllter Antisemit noch ein im psychiatrischen Sinne pathologischer Täter, sondern eine komplex-widersprüchliche Persönlichkeit, die von Ehrgeiz und Konformismus in ihre Rolle getrieben wurde. Er hatte weder die Kraft noch den Willen, aus eben dieser Rolle auszubrechen. Im Gegenteil: Er erfüllte sie bis zum Schluss mit Eifer und Engagement.
Autor: Timo Sauer
Literatur
Beischl, Konrad: Dr. med. Eduard Wirths und seine Tätigkeit als SS-Standortarzt des KL Auschwitz. Beiträge zur Geschichte der Medizin, Würzburg: Könighausen&Neumann, 2005.
Klee, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt: Fischer 2001
Kramer, Helgard (Hg): Die Gegenwart der NS-Vergangenheit, Berlin: Philo, 2000; sowie : dies., SS-Mediziner in Auschwitz und ihre Repräsentation im ersten Auschwitz-Prozess: Dr. Hans Münch und Standortarzt Dr. Eduard Wirths, erscheint in: Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2005; dies., The „Doubled Self“ of SS Doctors in Auschwitz Revisited: An Empirical Critique of Robert Jay Lifton’s Hypothesis in “The Nazi Doctors”; Interpretation der Rechtfertigungsschrift und des Verhörungsprotokolls des SS-Standortarztes Dr. Eduard Wirths.
Langbein, Hermann: Menschen in Auschwitz, Wien: Europaverlag 1987
Lifton, Robert Jay: Ärzte im Dritten Reich, Berlin: Ullstein, 1998
Orth, Karin: Die Konzentrationslager-SS, München: DTV 2004
Orthel, Rolf; Fels, Hans: Standortarzt Dr. Eduard Wirths, Dokumentarfilm, Niederlande 1975, (vgl. das Transkript, angefertigt im Seminar: „SS-Mediziner in Auschwitz: Massenmord als Arbeit und Familienleben“ unter der Leitung von Prof. Dr. Helgard Kramer im Sommersemester 2004 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Institut Frankfurt am Main.
Völklein, Ulrich: Der Judenacker. Eine Erbschaft, Gerlingen: Bleicher 2001
Wirths, Eduard: Rechtfertigungsschrift, Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main: 4 Ks 444/59, Bd. IX, Bl. 1429-1448.
Anmerkungen
[1] Lifton, S. 440 f.
[2] Personalakte Wirths Universitätsarchiv Jena, Bestand D 3982, Bl. 3, vgl. auch: Regenspurger, Katja: Die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses an der Universitäts-Frauenklinik Jena 1934-1944, Jena: 2002, S. 64
[3] Wirths: Rechtfertigungsschrift, Bl. 1430
[4] Üblicherweise wurde die Konzentrationslager-SS in Dachau auf ihre Arbeit vorbereitet. Karin Orth spricht gar von einer Art Initiationsritus der „Dachauer Schule“, dem sich auch das Führungspersonal unterziehen musste. Vgl. hierzu: Orth, Karin: S. 129
[5] Lifton: S. 441 f, auch Langbein: S. 422 ff
[6] Tatsächlich starben in Auschwitz ca. eine Million Menschen in den Gaskammern. Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main: Fischer (1982) 1990, S. 956.
[7] Nach 1942: Amtsgruppe D des WVHA, vgl. hierzu: Stiftung der Brandenburgischen Gedenkstätten: Inspektion der Konzentrationslager. Das System des Terrors 1938 – 1945. Eine Dokumentation von Johannes Tuchel, Schriftenreihe Nr. 1, 1994, Berlin: Hentrich 1994
[8] Zur Organisationsstruktur Lager-SS: Orth: S. 335; zur Struktur des KZ-Sanitätswesens: Kaul, F. K.: Ärzte in Auschwitz. Berlin: VEB Volk und Gesundheit 1968, S. 79 ff
[9] Langbein: S. 418
[10] Der „Schutzhaftlagerführer“ war Franz Hofmann. Zeitpunkt und Ort der Aussage geht aus Langbeins Darstellung nicht genau hervor. Vgl. Langbein: S. 414
[11] Kramer: Schritte zu einem Geständnis, in: Gegenwart der NS-Vergangenheit, S. 135 f, Fußnote 130, zur Organisation des Tötungsablaufs vgl. auch: Pressac, Claude: die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes. München 1994
[12] Langbein: S. 421
[13] Langbein: S. 426 ff. Die Sendung wurde vom politischen Lagerwiderstand lanciert. Der genaue Zeitpunkt lässt sich aus Langbeins Darstellung nicht erfahren.
[14] Ebd.
[15] Vgl. hierzu: Klee, S. 410 ff und Beischl, S. 124 ff
[16] Kramer: SS-Mediziner in Auschwitz, S. 15