Nikolai Bucharin warnte auf dem XVII. Parteitag der KPdSU am 31. Januar 1934 vor der Möglichkeit eines „konterrevolutionären Überfalls“ auf das Land entweder durch das „faschistische Deutschland“ oder durch das japanische Kaiserreich. Nachfolgend resümierte er: „Hitler ruft also ganz unverhüllt dazu auf, unseren Staat zu zerschlagen (Ian Kershaw, ‚Wendepunkte‘ DVA, S. 322) . Obwohl von vielen Stimmen vor einem Überfall Hitlerdeutschlands gewarnt, blieben sie bei Bucharins Henker, J. Stalin ungehört. Nicht einmal der Volkskommissar für Staatssicherheit, Wsewolod Merkulow drang mit seinen Warnungen nur fünf Tage vor Kriegsbeginn zu dem Diktator vor. Einem Brief an Merkulow vertraute Stalin folgende Zeilen an: „…sagen Sie ihrer „Quelle“ aus dem Hauptquartier der deutschen Luftwaffe, dass er seine Mutter ficken soll. Das ist keine „Quelle“- das ist jemand, der Desinformation betreibt“ (Ian Kershaw „Wendepunkte“ DVA, Seite 310). Umso größer das Erstaunen, als die deutschen Wehrmacht in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 über dem Territorium der UdSSR das Kriegsgeheul zu intonieren begann.
Nun, da Hitlers Blitzkrieger in den ersten Wochen des Krieges kilometerweit in die Sowjetunion eindrangen, es ihnen gelang, Truppen der Rote Armee in zahlreichen Kesselschlachten vernichtend zu schlagen und ca. 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene dem Hungertod preisgegeben worden waren, kam der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Franz Halder (1938-1942) laut einer Notiz am 3. Juli 1941 zu dem Schluss: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen wurde“. Aber hier irrte der Jahrgangsbeste (1914) der bayerischen Kriegsakademie. Denn schon sechs Wochen später, am 11. August formulierte Halder folgendes: „Unsere letzten Kräfte sind ausgegeben… In der gesamten Lage hebt sich immer deutlicher ab, dass der Koloss Russland…von uns unterschätzt worden ist…“ (SPIEGEL 31/1964). Und so kam es im Winter 1941/42 zur Schlacht um Moskau, die zur ersten großen Niederlage der sieggewohnten faschistischen Wehrmacht werden sollte. Aber bis dahin war es ein opferreicher, verlustreicher Kampf. Hitler schwor am 2. Oktober 1941 die Truppen des Ostheeres mit fanatischen Worten auf die Moskauer Schlacht ein. In der Operation Taifun sollten sie den sowjetischen Armeen mit einem „gewaltigen Hieb“ den „tödlichsten Schlag“ versetzen. Beiden Kriegsparteien stand eine dramatische Zeit bevor. Manche Deutsche konnten mit ihren Ferngläsern die goldenen Kremltürme erspähen. Die nächste Annäherung an Moskau gelang einem Stoßtrupp des Heeres – Pionierbatailllons 62, das bis zu 16 Kilometer vor dem Kreml vorstieß. Auf Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees wurde am 20. Oktober in Moskau der Belagerungszustand verkündet. Zahlreiche Regierungsstellen und Botschaften wurden nach Kuibyschew an der Wolga evakuiert, Stalin blieb. Laut den Angaben von Generalmajor a.D. P. D. Korkodinow rief die Moskauer Parteiorganisation entsprechend einer Anweisung des Zentralkomitees der KPdSU zum Schutz der Hauptstadt auf. Demnach bauten über eine halbe Million Einwohner Verteidigungsstellungen auf, 120.000 Moskauer traten freiwillig in die (schlecht bewaffneten) Volkswehrdivisionen ein (siehe „Die wichtigsten Operationen des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945“, Seite 132, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1958). Maßgeblich organisierte Armeegeneral Georgi K. Shukow die Verteidigung Moskaus, dem es noch gelang, seine Mutter aus dem Kampfgebiet herauszuschaffen. Das Hauptquartier ernannte ihn am 10. Oktober 1941 zum Oberbefehlshaber der Westfront, die am 5. Dezember mit anderen Fronten zur Gegenoffensive antrat (Georgi K. Shukow „Erinnerungen und Gedanken“, Militärverlag der DDR, 7. Auflage 1983, Seite 16 ff.). Nach den Worten des Stabschefs der Westfront, Marschall Wassili D. Sokolowski standen den faschistischen Truppen drei unserer Fronten gegenüber: Westfront, Reservefront und die Brjansker Front, deren Armeen insgesamt 800.000 Mann zählten. Doch während der Unterschied in der Mannstärke gering war, waren uns die faschistischen Truppen an Panzern und Artillerie weit überlegen. Gegen unsere 770 Panzer und 9.150 Geschütze/Minenwerfer setzen sie 1 700 Panzer und 19. 450 Geschütze/Minenwerfer ein“ (Sowjetische Marschälle über Schlachten des zweiten Weltkrieges, APN Verlag Nowosti Moskau, 1985, Seite 25). Das Kräfteverhältnis war demnach zu Beginn jener Operationen von sowjetischer Warte aus nicht gerade günstig. Bis zum 20. Oktober gelang es den Deutschen mit ihren 3 Panzerarmeen, die sowjetische Frontlinie zu zertrümmern und in den Kesselschlachten von Wjasma und Brjansk noch einmal 673.000 Rotarmisten zu umzingeln.
Unterstützende Aktivitäten der Volkswehrdivisionen und von Partisanenverbänden allein reichten nicht aus, um die Rote Armee vor Moskau in großen Stile – angriffsfähig – zu machen. Dazu bedurfte es großer Anstrengungen der Kriegswirtschaft und erheblicher Verstärkungen aus dem Fernen Osten, die aber erst herangeführt werden konnten, nachdem klar war, dass Japan die Sowjetunion nicht angreifen werde. Doch am 5. Dezember war es so weit: die sowjetische Gegenoffensive begann. Somit erfuhr der durch den Generalstab unter Marschall B. M. Schaposchnikow, seit dem 20. November in den Umrissen festgelegte und von den Oberkommandos der drei Fronten im einzelnen ausgearbeitete, alsdann bestätigte Offensivplan seine Umsetzung (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, DVA 1983, Band 4, Seite 770 ff.). Der im vorgenannten Buch geschilderte Kampfverlauf gestalte sich für die „Offensivhändler“ durchaus unterschiedlich und durchwachsen. Die einen erzielten rasche Erfolge, gewannen okkupiertes Land zurück, andere waren weniger erfolgreich – sehr zum Unwillen der Kremlherren, des Generalstabes u.a.. Unzufrieden zeigte man sich beispielsweise über das unverhältnismäßig langsame Vorankommen der Kalininer Front, insbesondere das der 29. Armee. Man mag hier an die Worte des preußischen Generalfeldmarschalls, Helmuth Graf von Moltke denken: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“. Über die Feindberührungen von General Andrej Wlassow, allerdings, der in der Schlacht um Moskau als Befehlshaber der 20. Armee so erfolgreich agierte, dürfte man sich gefreut haben; Stalin ernannte ihn aufgrund dessen jedenfalls zum Generalleutnant. Die Freude und Anerkennung Wlassows schon in Vorjahren gewürdigten militärischen Fähigkeiten dürften 1942 verflogen sein, als dieser in deutsche Gefangenschaft geriet und fortan sein Heil bei einer sogenannten Russischen Befreiungsarmee suchte. Dieses Unterfangen endete für das jahrzehntelange Tabu in der parteioffiziellen Geschichtsschreibung über den Großen Vaterländischen Krieges am 1. August 1946 in Moskau am Galgen.
„Insgesamt gesehen hatten die sowjetischen Truppen den Gegner an der Front vor Moskau bis Anfang 1942 zwischen 100 und 250 Kilometer zurückgeworfen und ihm schwere Verluste zugefügt. Die große strategische Umfassung war jedoch ungeachtet der operativen Durchbrüche bei Rschew und Kaluga misslungen, eine Tatsache, die die sowjetische Geschichtsschreibung hinter den sichtbaren Erfolgen der Gegenoffensive vor Moskau heute geschickt zu verschleiern weiß“ (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, DVA 1983, Band 4, Seite 775 ff.).
Ungeachtet dessen, dass die Rote Armee in der Schlacht um Moskau nicht all ihre Ziele erreicht haben mag, so blieben ihre militärischen Leistungen, einschließlich ihrer Befehlshaber bei der Wehrmacht nicht unbeachtet. So verriet der Generalstabsoffizier Hans Meier – Welcker am 6. Januar 1942 über Shukow: „Shukow, der Nachfolger Timoschenkos als Oberbefehlshaber, macht Operationen, die ich bewundern muss. Ich verfolge die Leistungen des russischen Heeres mit wachsendem Staunen“ (Militärgeschichtliches Forschungsamt, Herausgeber, Aufzeichnungen eines Generalstabsoffiziers 1939 -1942. Freiburg 1982, Seite 147). Das „Staunen“ durfte noch ein paar Jahre weitergehen – bis Georgi Shukow als „Marschall der Sieger“ am 8. Mai 1945 in Berlin von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte abnahm.
Autor: René Lindenau