Auswanderung als Beraubungsinstitution. Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung und die Emigration im NS-Staat.
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 war für Juden in Deutschland kein Platz mehr – sukzessive forcierten die Nationalsozialisten die Verdrängung aus dem gesellschaftlichen Leben und die Vertreibung aus Deutschland. „Im Vollzug dieser Bestrebungen wurde als einzige vorläufige Lösungsmöglichkeit die Beschleunigung der Auswanderung der Juden aus dem Reichsgebiet verstärkt und planmäßig in Angriff genommen“ – mit diesem bürokratischen Vokabular wurde im Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 die Funktion der Reichszentrale für jüdische Auswanderung umschrieben. Dem Rechtsempfinden der Nationalsozialisten entsprechend, „[war] das Aufgabenziel, auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern.“ Der Verfasser des Protokolls war niemand weniger als Adolf Eichmann.
Die antijüdischen Maßnahmen und Gesetze verfehlten ihre Wirkung nicht. Die erste Auswanderungswelle setzte 1933 ein und stand unter dem direkten Eindruck des Geschäftsboykotts im April des Jahres und der folgenden gesetzlichen Repressalien. Rund 37 000 Juden verließen infolge dessen Deutschland. 1934 sank die Zahl der jüdischen Auswanderer wieder auf etwa 23 000. Dies war darauf zurückzuführen, daß der antijüdische Terror scheinbar nachließ, denn es wurden im Vergleich zum Vorjahr deutlich weniger Verordnungen und Gesetze erlassen. Dieser Trend hielt auch im Jahr der Nürnberger Gesetze 1935 an, denn obwohl sie stark antijüdischen Charakters waren, vermittelten sie die Illusion, in einem Rechtsstaat zu leben. So zeigte sich die Reichsvertretung der Juden in Deutschland zwar betroffen, sah aber in diesen Gesetzen eine Ebene, auf der Juden und Deutsche miteinander leben könnten. Dementsprechend sank die Zahl der jüdischen Auswanderer auf 21 000. Im Jahr der Olympischen Spiele 1936 stieg derer nur gering an – 25 000. Das nationalsozialistische Deutschland, das im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stand, wollte sich tolerant zeigen. Deshalb wurden vergleichsweise wenige antijüdische Verordnungen und Gesetze erlassen und bestehende Unterdrückungsmaßnahmen gemildert. Obwohl das gesellschaftliche Leben für Juden in Deutschland eingeschränkt war, blieben sie mit ihrer deutschen Heimat verbunden und fühlten sich nicht weniger deutsch als ihre „reichsdeutschen“ Nachbarn. Sie suchten den politischen Horizont nach Anhaltspunkten für eine Änderung ab und betrachteten jede unerwartete Milde in der antijüdischen Politik als Vorbote eines Wandels – entsprechend fiel die Auswanderungszahl 1937 im Vergleich zum Vorjahr auf 23 000. Seit Herbst 1937 war die wirtschaftliche Verdrängung der deutschen Juden das zentrale Thema der offiziellen Judenpolitik. Eine Vielzahl ab April 1938 erlassener Verordnungen diente dazu, Tausenden von jüdischen Gewerbetreibenden und Handwerkern die berufliche und damit die materielle Existenz zu entziehen. Ende Mai 1938 wurden Juden von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen und am 25. Mai erging die vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz – einem der Nürnberger Gesetze – nach der jüdische Ärzte ab September 1938 die Approbation verloren. Kurz darauf wurde jüdischen Rechtsanwälten mit der fünften Verordnung die Zulassung entzogen.
Der November 1938 war eine deutliche Zäsur in der antijüdischen Politik. Nun schlug der Antisemitismus in die Formen unverhohlener physischer Gewalt und Verfolgung um. In einem groß angelegten Pogrom wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet, zahlreiche Synagogen angezündet und demoliert und Juden auf offener Straße umgebracht. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist jedem Juden in Deutschland klar geworden, daß ein Leben hier nicht mehr möglich war. Entsprechend verdoppelte sich nahezu die Zahl der jüdischen Auswanderer auf rund 40 000. Die Maßnahmen, die nach dem November 1938 erlassen wurden, trieben die jüdische Bevölkerung zunehmend in eine – vor allem – wirtschaftliche und gesellschaftliche Außenseiterposition. Zweifellos führte die Masse der Repressalien dazu, daß die Bereitschaft vieler Juden, ihre deutsche Heimat zu verlassen, deutlich erhöht wurde – 1939 belief sich die Auswanderungszahl auf rund 80 000. Verarmt und ausgeplündert – unter diesen Umständen war die Emigration ins Ausland sehr erschwert, das sich gegen die Aufnahme mittlerweile mittelloser Juden wehrte. Auch wenn das jeweilige Ausland, das für eine Auswanderung in Frage kam, differenziert betrachtet werden muß, steht das Ergebnis der internationalen Konferenz von Evian (6. bis 14. Juli 1938) exemplarisch dafür, daß die Welt kein Interesse am jüdischen Schicksal hatte. So schien die Auswanderung mit konventionellen Mitteln kaum mehr und vor allem nicht so schnell wie verlangt, lösbar.
Unmittelbar nach der Pogromnacht fand am 12. November 1938 unter Vorsitz Hermann Görings eine interministerielle Konferenz im Reichsluftfahrtministerium in Berlin statt. Auf Vorschlag Reinhard Heydrichs, Chef der Sicherheitspolizei (Sipo), beschlossen die Konferenzteilnehmer, daß analog zu der in Wien errichteten Zentralstelle für jüdische Auswanderung ebenfalls eine solche Stelle in Berlin zu gründen sei, um die Emigration – insbesondere der mittellosen Juden aus Deutschland – zu forcieren. Heydrich orientierte sich dabei an der Effizienz dieser Einrichtung und argumentierte, daß mit ihrer Unterstützung 50 000 österreichische Juden ausgewandert seien, während im Vergleichszeitraum 19 000 Juden Deutschland verlassen hätten. Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde auf Weisung des Reichskommissars für Österreich, Josef Bürckel, errichtet und stand unter der Leitung Eichmanns, der für diese Aufgabe aus dem Judenreferat des Sicherheitsdienstes (SD) nach Wien abkommandiert und dem dortigen Gestapo-Chef Franz Stahlecker zugeteilt worden war. Hervorgegangen ist sie aus dem Referat II – 112 des SD SS-Abschnitt Donau. Um den Prozeß der Ausweisung zu vereinfachen, hatte Eichmann ein bestimmtes Verfahren ausgearbeitet: er ordnete an, daß die Vertreter der Behörden, die mit der Auswanderung befaßt waren, seiner Dienststelle zu unterstellen seien. Nach Eichmanns Vorstellung sollte der SD das jüdische Gemeindeleben wieder zulassen und die beschlagnahmten jüdischen Institutionen eröffnen. Er bestimmte die Auswanderungsquoten, konzentrierte sämtliche österreichische Juden in Wien und zwang die wohlhabenderen Juden, für die Kosten der Auswanderung mittelloser Juden aufzukommen. Als Voraussetzung für die legale Ausreise brauchten Juden die sog. Unbedenklichkeitsbescheinigung, die sie nur dann erhielten, wenn sie sämtliche Steuer- und Abgabenrückstände nachweislich beglichen hatten. Des weiteren mussten sie „freiwillig“ erklären, auf sämtliche Besitzstände zu verzichten und auch der Personal- und Sachhaushalt der Zentralstelle wurde über eine von den Flüchtenden zu entrichtende Gebühr finanziert. Darüber hinaus mussten oft auch Bestechungsgelder an Gestapobeamte gezahlt werden. Die Zentralstelle erfüllte somit zwei miteinander verknüpfte Funktionen: Forcierung der Auswanderung einerseits, andererseits völlige wirtschaftliche Ausplünderung. Um den Druck weiter zu erhöhen, wurden die jüdischen Gemeinden für die Erfüllung der Quoten verantwortlich gemacht und bei Nichterfüllung mit der Deportation ins Konzentrationslager bedroht. Hier legte Eichmann den Grundstein zu einem System, das er später im gesamten besetzen Europa ausbaute: man koordinierte die zuständigen Stellen und benutzte die jüdischen Vertreter selbst als Werkzeuge.
Diese Methode fand auch in Deutschland Anwendung. Am 24. Januar 1939 sandte Göring einen Brief an Reichsinnenminister Wilhelm Frick und ordnete an, dass im Reichsinnenministerium eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung zu bilden sei, die sich aus den Vertretern der beteiligten Dienststellen zusammensetzen sollte. Offiziell ressortierte die Reichszentrale somit im Reichsinnenministerium und war dadurch Frick unterstellt. Anhand dieses zentralen Dokuments, das am Anfang der organisatorischen Genese der Reichszentrale steht, wird auch der Aufgabenbereich dieser Einrichtung deutlich, der im Wannsee-Protokoll fragmentarisch erwähnt wurde. Ihre Aufgabe bestand darin, mit der Reichsstelle für das Auswanderungswesen zusammenzuarbeiten, um Länder ausfindig zu machen und eine geeignete jüdische Organisation zu gründen, die die Auswanderungsgesuche einheitlich vorzubereiten hatte. Als geforderte jüdische Organisation entstand mit der zehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939 die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland – als Nachfolgerin der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Laut Verordnung unterstand sie der Aufsicht des Reichsinnenministeriums und hatte den Zweck, die Auswanderung der Juden zu forcieren. Um den Auswanderungsprozeß zu beschleunigen und die bisherigen bürokratischen Hürden zu beseitigen, sollte die Reichszentrale die Auswanderungsanträge forciert bearbeiten und die nötigen staatlichen Ausweise und Bescheinigungen umgehend beschaffen, wenn Juden bereits ein Auswanderungsland aufweisen konnten. Es sei besonders betont, dass Heydrich offiziell mit der Leitung der Reichszentrale betraut wurde und die Besetzung der Geschäftsführung in seinem Ermessen lag. Noch Ende Januar / Anfang Februar 1939 steckte Heydrich sein neues Revier ab, indem er verschiedenen Reichsministerien, dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Wilhelm Stuckart, und einzelnen Behörden unmissverständlich mitteilte, dass ihm die Leitung der Reichszentrale im Reichsinnenministerium unterlag. Er setze Heinrich Müller, SS-Standartenführer, als Leiter ein, dem wiederum die Abteilung II des Geheimen Staatspolizeiamtes unterstand – bislang war das Reichswanderungsamt im Reichsinnenministerium institutionell für die jüdische Auswanderung zuständig. Sukzessive geriet somit die Frage der jüdischen Auswanderung in den Einflussbereich der SS. In der Folgezeit behinderte die Reichszentrale die Emigration eher, als daß sie sie förderte. Sie gab nur teilweise notwendige Devisen frei, so dass Angebote von Schiffahrts- und Reisegesellschaften nicht genutzt werden konnten, die die Juden außer Landes gebracht hätten. Allerdings bemühte sich die Gestapo ihrerseits wieder, die Emigration voranzutreiben, indem sie selbst illegale Auswanderertransporte organisierte. Trotz der nachweislich eher hemmenden Wirkung der Reichszentrale hat sich die Zahl der jüdischen Auswanderer 1939 im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt, was weniger auf die Tätigkeit der Reichszentrale als auf die Vielzahl antijüdischer Maßnahmen zurückzuführen ist, die diese Menschen aus Deutschland herausdrängten.
Heydrich wollte Eichmanns „österreichische“ Auswanderungsbilanz auch in Deutschland erreichen, obwohl sich infolge des Krieges die Emigrationsmöglichkeiten weiter verschlechtert hatten. Aus diesem Grund übertrug er Eichmann im Oktober 1939 die Geschäftsführung, der die „österreichische“ Verwaltungspraxis auf seinen neuen Arbeitsplatz übertrug. Zwei Monate später, am 21. Dezember 1939, teilte Heydrich dem Befehlshaber der Sipo und des Sicherheitsdienstes (SD) in Krakau und weiteren sicherheitspolizeilichen Funktionären mit, dass er Eichmann zu seinem „Sonderreferenten“ im Reichssicherheitshauptamt ernannt hatte. Hier leitete er zunächst im Amt IV der Gestapo das Referat IV D4 für „Auswanderung und Räumung“. Gleichzeitig unterstand ihm das neugeschaffene Sonderreferat „Evakuierungen“, das für die Vertreibung von Juden und Polen aus den eingegliederten Ostgebieten zuständig war. Ab dem 1. März 1941 führte er das Referat IV B4, dass sich mit „Judenangelegenheiten und Räumung“ befasst hatte – der Begriff „Auswanderung“ war entfallen, denn kriegsbedingt hatte der Auswanderungsstrom deutlich abgenommen und sank 1940 auf 15 000. Es ist somit festzuhalten, daß die Reichszentrale mit dem von Eichmann geleiteten Gestapo-Referat im Reichssicherheitshauptamt verschmolzen ist, mit der Instanz, die die Zentrale der außergerichtlichen nationalsozialistischen Terror- und Repressionsmaßnahmen seit Kriegsbeginn darstellte. Im Krieg verlor die Reichszentrale ihre Bedeutung, denn an die Stelle der Auswanderung trat nun die Deportation, an der das Referat IV B4 und somit Eichmann federführend beteiligt war. Entsprechend notierte Eichmann im Wannsee-Protokoll: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.“ Bis zum Oktober 1941 konnten etwa 525 000 in Deutschland lebende Juden das Land verlassen, dann „[…] hat der Reichsführer-SS […] im Hinblick auf die Gefahren einer Auswanderung im Kriege und im Hinblick auf die Möglichkeiten des Osten die Auswanderung von Juden verboten“ – wieder Eichmanns nüchtern-bürokratische Umschreibung für die Besiegelung des Schicksals Tausender von Menschen.
Bei der Auseinandersetzung mit der Frage der historischen Einordnung der Reichszentrale für jüdische Auswanderung ist zu betonen, daß sie nicht im Rahmen der physischen „Endlösung der Judenfrage“ – der Vernichtung – zu sehen ist. In ihrem Gründungszeitraum sollte die Judenfrage nachweislich noch durch die jüdische Emigration gelöst werden. Diese Einrichtung ist in der Phaseneinteilung „Auswanderung – Austreibung – systematische Deportation zur Vernichtung“ jedoch der Austreibung zuzuordnen. Die „Auswanderung“ und die sie beeinflussenden politischen Zeitumstände ab Ende 1938 / Anfang 1939 unterschieden sich deutlich von der Emigration der ersten Jahre nach 1933. Die Reichszentrale hat jedoch der späteren Abwicklung der Deportationen vorgearbeitet und stellt somit eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Völkermord der Nationalsozialisten dar. Die Betrachtung der Genese der Reichszentrale für jüdische Auswanderung ist zudem hilfreich, um die Verschiebung machtpolitischer Kräftefelder im NS-Staat zu veranschaulichen zu können. Sie zeigt exemplarisch auf, wie Kompetenzen, die ursprünglich bei staatlichen Institutionen lagen, sukzessive in den Machtbereich der SS verlagert wurden.
Autor: Mike Zuchet
Literatur
Gabriele Anderl, Dirk Rupnow, Alexandra-Eileen Wenck: Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution. Oldenbourg, München 2004.
Theodor Venus, Alexandra-Eileen Wenck: Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester: Eine empirische Studie über Organisation, Form und Wandel von „Arisierung“ und jüdischer Auswanderung in Österreich 1938–1941. Oldenbourg, München 2004.
Jaroslava Milotová: Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag. Genesis und Tätigkeit bis zum Anfang des Jahres 1940. In: Theresienstädter Studien und Dokumente (4/1997)
Anna Hájková: The Making of a Zentralstelle: Die Eichmann-Männer in Amsterdam. In: Theresienstädter Studien und Dokumente (10/2003)
David Koser et al.: Reichszentrale für jüdische Auswanderung. In: Hauptstadt des Holocaust. Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin. Stadtagentur, Berlin 2009, Ort 24, S. 143; stadtagentur.de (PDF; 1,2 MB)