Die Geschichte der Juden in Danzig, ihre besondere Situation in den 20er und 30er Jahren wie auch die so genannte „Lösung der Judenfrage“ in der ehemals ‚Freien Stadt’ unterscheiden sich deutlich von der Geschichte anderer jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum.
Als nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Versailler Friedenskonferenz die Grenzen innerhalb Europas neu bestimmt wurden, hatte die Wiederherstellung des polnischen Staates zur Folge, dass die Hafenstadt an der Ostsee mit einem Teil des Umlandes durch den ‚polnischen Korridor’ vom Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches abgetrennt und zum ‚Freistaat’ erklärt wurde. Der Miniaturstaat mit eigenständiger Verfassung und Regierung war in der Zwischenkriegszeit politisch und wirtschaftlich eng mit dem polnischen Staat verzahnt und unterstand dem Schutz des Völkerbundes. Auf diese Rahmenbedingungen mussten die Nationalsozialisten in der ‚Freien Stadt’ Rücksicht nehmen. Zwar gab es auch in Danzig seit den frühen 30er Jahren immer wieder antijüdische Propagandamaßnahmen und vereinzelte Ausschreitungen. Im Großen und Ganzen aber galt die Hafenstadt bis in die späten 30er Jahre hinein als eine Art ‚Insel’, auf der jüdisches Leben, wenn auch unter zunehmenden Einschränkungen, Aufrecht erhalten werden konnte.
Zur Entwicklung des Danziger Judentums bis 1930
Zwar wanderten schon seit dem späten Mittelalter Juden in großer Anzahl von Deutschland und Böhmen in polnische Gebiete ab, doch blieb ihnen eine Ansiedlung in Danzig über Jahrhunderte lang verwehrt. Im 17. Jahrhundert gründeten sie in Alt-Schottland vor den Toren der Stadt eine erste jüdische Gemeinde; weitere Gemeinden entstanden im 18. Jahrhundert in den Danziger Vororten Stolzenberg und Langfuhr. Die jüdischen Gemeinden im Umkreis der Stadt umfassten 1772 rund 240 Familien mit etwa 1.250 Einwohnern. Erst im 18. Jahrhundert, als sich die wirtschaftliche Situation Danzigs wie auch die anderer Hansestädte zunehmend verschlechterte, wurde die restriktive Politik gegenüber Juden immer weiter aufgegeben. Die Magistrate erhofften sich von einem verstärkten Zuzug von Juden, die als tragende Säulen des Handels galten, eine Belebung ihrer Wirtschaftsfähigkeit. Als Danzig 1793 dem preußischen Staat einverleibt wurde, erhielten zahlreiche jüdische Einwohner Danzigs schließlich das Bürgerrecht. Im Jahre 1883 schlossen sich dann die Vorortgemeinden und die in der Stadt selbst ansässigen Juden zur Synagogengemeinde zu Danzig zusammen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten etwa 2.500 Menschen jüdischen Glaubens in der Hafenstadt.
Während die Zahl der jüdischen Einwohner in Danzig zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs verhältnismäßig konstant blieb, erfuhr die altansässige Gemeinde nach der Gründung des Freistaates einen beträchtlichen Zuzug von Juden aus Osteuropa. Vor allem aus Russland und Polen flohen in den Revolutionsjahren viele Juden vor Pogromen und aus Armut in die ‚Freie Stadt’, weil sie sich hier eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofften. Danzig entwickelte sich in den 20er Jahren schließlich zu einem Dreh- und Angelpunkt für die großen Auswanderungswellen osteuropäischer Juden nach Amerika, Kanada und Palästina. In den Jahren zwischen 1919 und 1925 emigrierten etwa 60.000 Juden über den Danziger Hafen. Ein erheblicher Teil der Auswanderer blieb jedoch in dem wirtschaftlich günstig gelegenen Freistaat und ließ die dortige jüdische Bevölkerung beständig ansteigen. Schon wenige Jahre nach der Konstituierung der ‚Freien Stadt’ hatten die ostjüdischen Zuwanderer die einheimischen Danziger Juden in ihrer Anzahl deutlich überflügelt.
Durch die massenhafte Einwanderung in den 20er Jahren veränderte sich die Struktur der Gemeinde vor Ort grundlegend. Die Schicht der alteingesessenen Juden war in die nichtjüdische deutsche Bevölkerung weitgehend integriert, oft in akademischen Berufen und im Detailhandel tätig. Sie gehörten in religiöser Hinsicht überwiegend der reformorientierten, liberalen Richtung an. Auch unter den Neueinwanderern befanden sich wirtschaftlich aktive Juden, die vor allem im Holz-, Getreide- und Kolonialwarenhandel eine wichtige Rolle spielten. Das Gros der Ostjuden war jedoch mittellos oder einkommensschwach und versuchte sich als einfache Arbeiter, Handwerker oder Kleinhändler den Lebensunterhalt zu sichern. Ihre Armut machte die Ostjuden für die zionistische Idee nach einem unabhängigen jüdischen Staat sehr empfänglich, so dass der Zionismus im religiösen Leben der Zuwanderer die dominante Rolle spielte. Sie bauten eine Reihe von Vereinen und Organisationen auf und gaben eine eigene Zeitung in jiddischer Sprache heraus. Die Gräben zwischen den alteingesessenen deutschen und den zugezogenen russischen und polnischen Juden, zwischen Liberalen und Zionisten waren allerdings tief.
Der Antisemitismus, den die rechten Parteien in den 20er Jahren auch in Danzig offen propagierten, hatte hier wie andernorts eine lange Tradition. In der Hafenstadt war bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Ortsgruppe der ‚Deutschen Gesellschaft zur Verbreitung des Antisemitismus im Osten des Vaterlandes‘ gegründet worden, die 1893 ihre erste judenfeindliche Versammlung abhielt. Schon um die Jahrhundertwende fiel antijüdische Hetzerei in örtlichen Militär- und Logenkreisen sowie bei bürgerlich-konservativen Beamten und Akademikern auf fruchtbaren Boden. Als sich in den 20er Jahren dann zunehmend polnische Juden in Danzig niederließen, führte dies innerhalb der Gemeinde zu anhaltenden Konflikten zwischen eingesessenen und zugewanderten Juden: Gemessen an der trostlosen Lage der Juden in Polen, wo ihre Rechte gleichsam mit Füßen getreten wurden, bildete die ‚Freie Stadt’ mit ihrer vom Völkerbund garantierten Verfassung für die Einwanderer trotz des anschwellenden antipolnischen und antijüdischen Klimas eine „Insel der Freiheit und der Hoffnung“ (Echt 1972, S. 109), während sich die einheimischen Juden, die sich als fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft in Danzig verstanden, zunehmend öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt sahen.
Die Lösung der Judenfrage in der Freien Stadt Danzig
Erste antisemitische Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung in Danzig
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Danzig seit Anfang der 30er Jahre erfuhren die antijüdischen Maßnahmen eine zunehmende Radikalisierung. Kurz nach der Ankunft des aus Fürth entsandten ‚Gauleiters’ Albert Forster wurde in Versammlungen, in Presseäußerungen und auf Plakaten öffentlich zum Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte aufgerufen. Nach der ‚Machtergreifung‘ Hitlers in Deutschland und den gewonnenen Volkstagswahlen 1933 in Danzig führte der erste nationalsozialistische Senat gegenüber den Juden in der ‚Freien Stadt’ eine doppelbödige Politik: Im polnischen Holz- und Getreidehandel wie auch im Danziger Wirtschaftsleben spielten Juden nach wie vor eine wichtige Rolle. Führenden jüdischen Geschäftsvorständen versicherte man, dass den Juden in Danzig alle ihnen nach der Verfassung zustehenden Rechte gewahrt bleiben würden. Allerdings beschloss der Danziger Volkstag am 24. Juni 1933 ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung die Vollmacht ausstellte, auf allen Gebieten der Verwaltung Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen – was in der Folgezeit zur schrittweisen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Danzig führte:
- Eine Verordnung vom 7. Juli 1933 bestimmte, dass der Zuzug von Ärzten und Zahnärzten amtlicher Genehmigung bedurfte und bis Ende 1933 überhaupt verboten sei. Damit wollte der Senat den Zuzug von jüdischen Ärzten aus dem ‚Reich’ unterbinden.
- Eine Verordnung vom 14. Juli 1933 stellte die Anwaltskammer unter den Einfluss der Partei. Die bisher von der Gerichtsverwaltung ernannten Notare wurden künftig von einem aus NSDAP-Mitgliedern bestehenden Komitee ausgewählt, was Juden jede Aussicht auf Zulassung zu juristischen Berufen zunichte machte.
- Eine Verordnung vom 28. Juli 1933 machte Juden den Verbleib in der Stadtverordnetenversammlung unmöglich.
- Besonders einschneidend war eine Verordnung vom 4. August 1933 über die öffentlich-rechtlichen Berufsvertretungen. Die bestehenden Kammern wurden aufgelöst und bei der Neuordnung die Juden, die ihnen jahrzehntelang angehört hatten, nicht wieder in ihre Ämter gewählt.
- Als „Staatsnotwendigkeit“ wurde die Entfernung der Juden von den Beamtenstellen betrachtet. Um dabei Verletzungen der Verfassung und der Gesetze zu vermeiden, wurden Umwege gesucht – und gefunden. Durch Verwaltungsumorganisationen in den Behörden, durch Versetzungen und Demütigungen, notfalls mit Abfindungen wurden die jüdischen Beamten aus ihren Ämtern vertrieben.
Auch auf anderen Ebenen versuchten die Nationalsozialisten, die Danziger Juden aus ihren Berufen und den geschäftlichen Verbindungen heraus zu drängen oder ihnen auf andere Art und Weise das Leben zu erschweren: Die Mitglieder der NS-Organisationen etwa wurden angehalten, die Hilfe jüdischer Ärzte, Rechtsanwälte usw. nicht mehr in Anspruch zu nehmen und geschäftliche Beziehungen mit Juden abzubrechen. Auf Unternehmer und Geschäftsinhaber wurde Druck ausgeübt, ihre jüdischen Arbeiter und Angestellten zu entlassen. Das ‚Danziger Echo‘, eine deutschsprachige jüdische Zeitung, wurde immer wieder beschlagnahmt und im Juli 1936 schließlich verboten. Häuser, in denen Juden lebten, sowie jüdische Geschäfte wurden in nächtlichen Aktionen mit verhetzenden Inschriften beschmiert. ‚Gauleiter’ Forster nahm jede Gelegenheit wahr, die jüdischen Bürger öffentlich aufs Übelste zu beschimpfen und herabzuwürdigen. Lediglich die jüdischen Außenhandelsunternehmen blieben wegen ihrer großen wirtschaftlichen Bedeutung für Danzig in den Jahren bis 1936 weitgehend unbehelligt.
Jüdische Selbsthilfe und Selbstbehauptung
Die Ausschreitungen, von denen deutsche wie polnische Juden gleichermaßen betroffen waren, bewirkten eine Annäherung der verschiedenen sozialen Schichten und religiösen Gruppierungen innerhalb des Danziger Judentums. Als Reaktion auf die antijüdischen Maßnahmen entstanden in der ‚Freien Stadt’ neue jüdische Organisationen, die sich zum Zwecke der ‚Selbstverteidigung‘ zusammenschlossen. Bereits im Sommer 1933 wurde der ‚Verein jüdischer Akademiker‘ ins Leben gerufen, der zahlreiche Eingaben und Beschwerden bei der Danziger Regierung vornahm und der sich später auch an den Völkerbund wandte. Zur mitgliederstärksten Organisation in der jüdischen Gemeinde entwickelte sich die ‚Vereinigung jüdischer Arbeitnehmer‘. Der Verein schlichtete Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und -nehmern und handelte sogar Abfindungssummen für entlassene jüdische Angestellte heraus. Als weitere Berufsvereinigung wurde der ‚Verband jüdischer Gewerbebetreibender und Handwerker in der Freien Stadt Danzig‘ ins Leben gerufen, dem auch zahlreiche polnische Kaufleute, Kleinhändler und Handwerker beitraten. Der Einfluss dieses Verbandes blieb allerdings begrenzt, weil die großen jüdischen Firmen in Danzig es nicht für notwendig erachteten, sich ihm anzuschließen. Diese drei Organisationen wählten einen Ausschuss, der Maßnahmen einleiten sollte, für die sich die Synagogengemeinde nicht zuständig oder kompetent fühlte – wie etwa die Kontaktaufnahme mit dem Völkerbund in Genf.
Der Selbstbehauptungswille der Danziger Juden zeigte sich auch auf kulturellem Gebiet. Nach dem Vorbild des 1933 in Berlin entstandenen Kulturvereins wurde im September desselben Jahres auch in Danzig ein ‚Jüdischer Kulturbund‘ ins Leben gerufen. Die Veranstaltungen – Vorträge, Konzert- und Theateraufführungen, Schulungskurse im Bereich der Erwachsenenbildung usw. – richteten sich zwar an die gesamte jüdische Bevölkerung in Danzig, doch entsprach das Programm vornehmlich den Bedürfnissen der deutschen Juden. Um den kulturellen Interessen der ostjüdischen Kreise nachzukommen, wurde 1934 der ‚Jüdische Club‘ gegründet sowie ein ‚Jüdisches Theater‘, in dem auch Schauspiele in jiddischer Sprache aufgeführt wurden.
Zu den Selbstbehauptungsmaßnahmen, mit denen sich die Danziger Juden gegen ihre schrittweise betriebene Entrechtung zur Wehr zu setzen suchten, gehörten auch Petitionen an den Völkerbund, in denen auf die zunehmende Verletzung der verbrieften Rechte hingewiesen wurde. Im Mai 1935 beschloss der Völkerbundsrat schließlich, ein Gutachten erstellen zu lassen. Ein juristisches Gremium wurde damit beauftragt, die verschiedenen Verordnungen, die der nationalsozialistische Senat seit 1933 erlassen hatte, zu prüfen. Tatsächlich gelang es den Gutachtern, in verschiedenen Fällen Verfassungswidrigkeiten nachzuweisen. Der Rat beschränkte sich allerdings darauf, dem Senat der ‚Freien Stadt’ einige Vorschläge zur Änderung der Situation der Juden vor Ort zu entsenden, welche die Danziger Regierung jedoch ablehnte bzw. ignorierte.
Ausschreitungen – Auswanderungen – Auflösung der jüdischen Gemeinde
Im Oktober 1937 begannen die nationalsozialistische Hetze, die spontanen Ausschreitungen und die stetig vorangetriebene Entrechtung in offene und gezielte Gewaltmaßnahmen umzuschlagen: Am 20. und 21. Oktober 1937 wurden die jüdischen Markthändler in Danzig, Langfuhr und Zoppot von ihren angestammten Plätzen vertrieben, dabei verprügelt, verletzt und ihre Waren vernichtet. Zwei Tage später fand ein Pogrom mit besonders massiven Ausschreitungen in der Danziger Altstadt statt. Nazihorden in Zivil beschmierten jüdische Geschäfte mit der Aufschrift ‚Jude‘, schlugen die Fensterscheiben ein und zerstörten oder stahlen die Warenauslagen. Dabei wurden rund 60 jüdische Geschäfte und Privatwohnungen beschädigt, in 30 Fällen fanden Plünderungen statt. Die jüdische Gemeinde erhob nach diesen Ereignissen scharfen Protest beim Polizeipräsidenten, dem Danziger Senat, dem vor Ort amtierenden Völkerbundkommissar und über den Jüdischen Weltkongress auch beim Völkerbund. Die polnische diplomatische Vertretung verlangte zudem von der Danziger Regierung eine Sicherheitsgarantie für die polnische Bevölkerung in der ‚Freien Stadt’. De facto geschah allerdings nichts, weil sich alle Instanzen abwartend verhielten, die Pro-forma-Distanzierungen der Verantwortlichen hinnahmen und sich mit der Ankündigung zufrieden gaben, dass die Täter bestraft würden.
Auch mit anderen Mitteln versuchten die Nationalsozialisten seit dem Herbst 1937 Juden aus dem wirtschaftlichen Leben Danzigs zu verdrängen: Zahlreiche jüdische Firmen wurden wochenlangen Steuerprüfungen unterzogen, wobei dann immer wieder ‚große Unregelmäßigkeiten‘ festgestellt wurden, die erhebliche Steuernachzahlungen oder -strafen nach sich zogen und jüdische Betriebsinhaber in den Ruin trieben. Andere Firmeninhaber wurden unter dem Verdacht der Steuerhinterziehung und angeblicher Fluchtgefahr verhaftet, ihre Vermögen und ihre Unternehmen beschlagnahmt und ‚arisiert‘.
In ihrer Summe erzielten die antijüdischen Ausschreitungen und Repressionsmaßnahmen aus der Sicht der Nationalsozialisten den gewünschten Erfolg: In einer ersten großen Auswanderungswelle, die im Herbst 1937 einsetzte, verließen in einem Zeitraum von etwa einem Jahr nahezu die Hälfte der über 10.000 in Danzig lebenden Juden die ‚Freie Stadt’. Die oftmals mittellosen, polnischen Juden flüchteten zurück in ihr Heimatland. Viele wohlhabende Juden wanderten nach Palästina, nach Kanada und in die USA, aber auch nach Bolivien, Chile, Kuba und Shanghai aus.
Als die Danziger Regierung schließlich im September 1938 mit der Einführung dezidiert antijüdischer Verordnungen begann, stellte dies nunmehr die Endphase einer Entwicklung dar, die auf dem Wege allgemeiner Verordnungen und mit terroristischen Aktionen schon längstens in Gang gesetzt worden war: Mit einer Verordnung vom 23. September 1938 wurde jüdischen Ärzten die Approbation und damit ihre berufliche Existenzgrundlage entzogen. Durch das neue Danziger Beamtengesetz vom 2. November 1938 wurden Juden endgültig aus der Beamtenschaft ausgeschlossen. Als in der ‚Reichskristallnacht‘ vom 9. auf den 10. November in Deutschland Synagogen in Brand gesteckt und zerstört wurden, löste dies in Danzig eine neue Welle von Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung aus: In der Nacht vom 12. auf den 13. November wurde die Synagoge im Vorort Langfuhr in Flammen gesetzt, eine Nacht später die Synagoge in Zoppot in Brand gesteckt. Nazi-Schergen zerschlugen die Schaufenster jüdischer Geschäfte, brachen in jüdische Wohnungen ein, plünderten, legten Brände und misshandelten die jüdischen Bürger schwer. Viele Zoppoter Juden verließen daraufhin panikartig die Stadt. Nur eine Woche nach den Pogromen führte der Danziger Senat die ‚Verordnung zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘ ein – das Pendant zu den ‚Nürnberger Rassegesetzen‘ von 1935.
Angesichts dieser Entwicklungen erhob der Vorstand der Synagogengemeinde die Forderung, die Gewaltakte gegen Juden einzudämmen, damit eine geordnete Auswanderung vollzogen werden könne. Der Senat erklärte sich bereit, der jüdischen Gemeinde ‚freien Abzug‘ zu gewähren, mit der Auflage, die Auswanderung binnen kürzester Zeit durchzuführen und zur Finanzierung ihren Grundbesitz der Danziger Regierung zu verkaufen.
Innerhalb der Synagogengemeinde kam es über den gefassten Beschluss zur kollektiven Emigration zu heftigen Auseinandersetzungen. Dessen ungeachtet begann der Gemeindevorsitz mit den Vorbereitungen: Die jüdischen Liegenschaften wurden an die Danziger Regierung verkauft, um auch den vermögenslosen Juden eine Ausreise aus der ‚Freien Stadt’ ermöglichen zu können. Für den ersten geplanten Transport nach Palästina meldeten sich etwa 1.000 Interessenten. Es wurde mit der Räumung der ‚Großen Synagoge’ in der Innenstadt begonnen, deren Abriss vereinbart worden war. In einer Turnhalle, die in der Vergangenheit für kulturelle Veranstaltungen genutzt worden war, wurde ein kleines Restaurant für jene noch in Danzig lebenden Juden eingerichtet, die ihre Haushalte bereits aufgelöst hatten. Außerdem befanden sich in dem Gebäude das Büro der jüdischen Wohlfahrtsstelle, eine Volksküche für völlig mittellose Juden, ein Kindergarten und ein Ärztezimmer.
Anfang 1939 lebten etwa noch 3.500 Juden in der Hafenstadt, hauptsächlich Danziger Staatsangehörige. Die meisten polnischen Juden, denen das Stigma einer ‚doppelt unerwünschten Minderheit‘ oktroyiert worden war, hatten Danzig bereits verlassen. Im März ging schließlich der erste, von der Synagogengemeinde organisierte Auswanderungstransport mit rund 500 vertriebenen Juden auf die Reise nach Palästina. Andere Gruppen ließen sich im Frühjahr und Sommer 1939 nach England, Shanghai und Südamerika, vor allem nach Bolivien ausschiffen.
Bei der ‚Entfesselung‘ des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 befanden sich noch etwa 2.000 Juden in der Stadt. Ein Teil von ihnen fiel der Verfolgung durch die Gestapo und die SS unmittelbar nach Kriegsbeginn zum Opfer. Sie wurden in Gestapo-Gefängnisse eingeliefert, ermordet, oder später im Konzentrationslager Stutthof zu Grunde gerichtet. Im August 1940 verließ nochmals ein von der Gemeinde organisierter Transport mit über 500 Juden Danzig in Richtung Palästina; Einzelauswanderungen waren sogar noch bis zum Frühjahr 1941 möglich. Weit über hundert alte und gebrechliche Menschen jüdischen Glaubens wurden in einem Speichergebäude untergebracht. Im März 1941 wurde ein Teil von ihnen ins Warschauer Ghetto, der andere in das Vernichtungslager Lublin deportiert. Ende 1942 wurden die letzten in Danzig lebenden Juden nach Theresienstadt abtransportiert.
Der größte Teil der wohlhabenden und deutschsprachigen Danziger Juden hatte sein Leben durch die Emigration retten können. Den nach Polen zurückgekehrten Juden wird dies nur schwer gelungen sein.
Autor: Wolfgang Gippert
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