John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“: Sensibilisierende Aufarbeitung oder Profanierung?
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist der Titel eines Romans von John Boyne (*1971) aus dem Jahre 2006, der 2008 von Mark Herman (*1954) unter demselben Titel verfilmt wurde.
Buch und Film erzählen die Geschichte von Bruno (Asa Butterfield, *1997), einem 9- bzw. im Film 8-jährigen Jungen aus Berlin, dessen Vater Ralf (David Thewlis, *1963) SS-Offizier ist und als neuer Lagerkommandant nach Auschwitz versetzt wird. Für die Familie, zu der auch Mutter Elsa (Vera Farmiga, *1973) und Tochter Gretel (Amber Beattie, *1993) gehören, bedeutet dies einen Umzug in eine Villa in unmittelbarer Nähe des Vernichtungslagers Auschwitz. Der einsame Bruno vermisst seine Freunde, liebt es aber auch die Gegend zu erkunden. Das Naturell des Lagers nicht begreifend, nähert er sich dessen Zaun, wo er auf einen Jungen (Jack Scanlon, *1998) trifft, von dem er glaubt, er trage einen gestreiften Pyjama (in Wahrheit die KZ-Häftlingskleidung). Bruno und der Junge, der sich als Schmuel vorstellt, freunden sich an. Immer wieder geht Bruno heimlich zu dem Zaun, bringt Schmuel Essen mit, wenn er kann. Eines Tages wird Schmuel für Zwangsarbeiten in der Villa abgestellt, wo Bruno ihm erneut etwas zu essen gibt. SS-Obersturmführer Kurt Kotler (Rupert Friend, *1981) erwischt sie. Schmuel sagt aus, er habe das Essen nicht gestohlen, sondern Bruno habe es ihm gegeben. Von Kolter energisch befragt, lügt Bruno aus Angst. Elsa hat ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Mann, denn sie liebt ihn, verachtet aber seine Tätigkeit. Als sie beschließt, mit den Kindern nach Berlin zurückzukehren, will Bruno Schmuel, weil er Schuldgefühle hat, bei der Suche nach dessen Vater helfen, bevor er abreisen muss. Er gräbt ein Loch unter dem Zaun durch und zieht einen von Schmuel aus einer Baracke mitgebrachten „Pyjama“ an. Dann werden die beiden im Regen von einer Menge mitgerissen und finden sich in einem dunklen Raum wieder. Während das Buch hier nicht weiter ins Detail geht und anschließend zusammenfassend erzählt, wie die Familie Bruno vergeblich sucht und sein Vater ein Jahr später realisiert, dass sein Sohn im eigenen Lager vergast wurde, zeigt der Film, wie die beiden Jungen nackt in die Gaskammer getrieben werden und die Tür davor geschlossen wird, während der Vater durchs Lager eilt. Als er begreift, was passiert sein muss, brüllt er laut „Bruno!“, was auch Gretel und ihre Mutter, die am Zaun vor Brunos niedergelegter Kleidung stehen, realisieren lässt, was geschehen ist.
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist nicht ohne Grund ein äußerst polarisierender Stoff, denn obgleich es Fiktion zugestanden sein sollte, sich um der Botschaft und Absicht Willen gewisse künstlerische Freiheiten zu nehmen, neigt sich hier die Waage zur Gefühlsseite doch etwas zu sehr auf Kosten der Realismusseite. Roman und Film zielen nämlich ganz klar darauf ab, Leser und Zuschauer emotional an die Figuren und die Handlung zu binden und das um jeden Preis. Man kann darin die löbliche Absicht sehen, Menschen für die Schrecken des Holocaust und für das Schicksal von Kindern im NS-Regime zu sensibilisieren. Man kann die Geschichte als den Versuch werten, die Grauen des Dritten Reiches durch die unbedarften und unschuldigen Augen eines Kindes zu sehen. Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass der Stoff bei aller löblichen Absicht eher kontraproduktiv ist, weil er viele Aspekte der Geschichte verzerrt.
Woran ist dies festzumachen? Beginnen wir mit dem vielleicht größten Problem, das aber vor allem den Roman betrifft, da im Film nie spezifiziert wird, um welches Konzentrationslager es sich handelt: In Auschwitz gab es keine Kinder. Kinder, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreichten, wurde direkt nach der Ankunft als „nicht arbeitsfähig“ eingestuft und vergast. Holocaust-Experte Henry Gonshak wandte diesbezüglich zwar ein, es hätten sich kurz vor der Befreiung von Auschwitz 619 männliche Kinder im Lager befunden, doch spielt die Handlung mindestens ein Jahr vor der Befreiung, also um die Jahreswende 1943/44, als das Lager noch regulär betrieben wurde und nicht Ende 1944, als die Nazis dabei waren, es aufzugeben. Dass ein Kind in einem KZ die Möglichkeit hätte, sich vor der Arbeit zu drücken und unbemerkt am Zaun mit einem deutschen Kind zu reden und zu spielen, ist aber selbst dann undenkbar, wenn es sich um ein anderes Lager handeln sollte.
Dann wäre da Brunos völlige Unbedarftheit. Er ist neun (im Film acht) Jahre alt und in Berlin unter nationalsozialistischer Herrschaft aufgewachsen. Im Buch hört er in diesem Alter zum ersten Mal das Wort „Führer“ und ist nicht in der Lage, es richtig auszusprechen. Er sagt „Furor“. Was im Englischen wegen des deutschen Lehnwortes oberflächlich noch funktionieren mag, verliert gänzlich an Glaubwürdigkeit und Plausibilität, wenn der Roman in Brunos eigentliche Muttersprache, das Deutsche, übersetzt wird. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Kind, das ins NS-Regime hineingeboren wurde, noch dazu in eine regimetreue Familie (der Vater ist immerhin SS-Offizier), neun Jahre alt werden konnte, ohne je das Wort „Führer“ gehört zu haben? Auch mit „den Juden“ als Feindbild kommt er erstmals mit neun Jahren in Kontakt. Boyne will hier aufzeigen, mit welchem Unverständnis ein Kind auf Rassismus reagiert, dass es ihn nicht versteht. Doch muss Bruno, der gerne Abenteuerromane liest, mit Anschlägen wie „Kauft nicht bei Juden“ großgeworden, muss in der Schule indoktriniert worden sein. Im Roman ist es sogar noch extremer und es ist nicht Bruno, sondern seine große Schwester, die glaubt, bei dem eingezäunten Gelände nahe der Villa handele es sich um einen Bauernhof.
Eine weitere sehr unglaubwürdige Szene spart der Film wohlweislich aus: Adolf Hitler (1889 – 1945) besucht Brunos Vater zusammen mit Eva Braun (1912 – 1945) persönlich zu Hause, um ihn mit der Lagerkommandantur zu betrauen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Hitler ohne Gefolge abends bei einem einfachen SS-Offizier zum Essen vorbeikam. Dass Brunos Vater Ralf eine frei erfundene Figur ist, kann man hingegen vernachlässigen. Die realen Lagerkommandanten waren im Übrigen:
- 4. Mai 1940[7] bis 11. November 1943: SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß (1901 – 1947)
- November 1943 bis Mai 1944: SS-Obersturmbannführer Friedrich Hartjenstein (1905 – 1954)
- Mai bis November 1944: SS-Hauptsturmführer Josef Kramer (1906 – 1945)
Brunos Vater wird am Ende des Buches von Truppen der Roten Armee verhaftet, obwohl die Kommandanten beim Eintreffen der Sowjets längst das Weite gesucht hatten. Dass die Erzählung durch Brunos Tod zu einer tragischen Familiengeschichte wird, ist ebenfalls nicht ganz unproblematisch. Zum einen lädt dies zur Empathie mit den Tätern ein. Man leidet mit den Eltern, die ihr Kind verlieren, mit und droht darüber zu vergessen, wie viele Kinder zumindest der Vater zuvor in den Tod geschickt hat.
Man muss sich also schon die Frage stellen, ob Boyne schlecht oder vielleicht gar nicht recherchiert hat, wie die Realität im nationalsozialistisch regierten Deutschen Reich aussah, oder ob er es recherchiert hat und seine Recherche zugunsten einer Geschichte, die ihr vermeintliches Ziel durch Profanierung zu verfehlen droht, ignoriert hat. Etwas polemisch könnte man Bertolt Brechts (1898 – 1956) Galilei zitieren: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“ Soweit zu gehen, Boynes Roman wirklich als ein „Verbrechen“ zu betiteln, ginge sicher zu weit, aber man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass bei allem Verständnis für künstlerische Freiheit alles in dem Roman dem Effekt, auf den er abzielt, untergeordnet wird. Dazu zählt dann auch, dass Hitler unbedingt persönlich in Erscheinung treten muss und es ausgerechnet das berüchtigte Lager Auschwitz sein muss. Der Roman richtet sich gezielt an ein Publikum ohne genaue Geschichtskenntnisse, und genau darin liegt das Problem, denn es ist dieses Publikum, das droht das Dargestellte für bare Münze zu nehmen, weil es Fiktion bzw. künstlerische Freiheit und Dramatisierung nicht von der Realität unterscheiden kann. Umfragen in Boynes Heimatland England zeigen, dass 75 % der Leser glaubten, die Geschichte beruhe auf wahren Begebenheiten.
Literatur
John Boyne: „Der Junge im gestreiften Pyjama“, Verlag S. Fischer; ISBN: 3-596-85228-5