Reuth, Ralf Georg: Goebbels. Eine Biographie. München- Zürich 2012
In der ersten Auflage seiner Goebbels-Biographie fragte Ralf Georg Reuth seine Leser zum Auftakt des Vorwortes rhetorisch „Weshalb ausgerechnet ein Buch über Joseph Goebbels?“. Er rechtfertigt die Auseinandersetzung mit dem nicht zu entkräftenden Argument, die letzte Lebensbeschreibung liege bereits fast drei Jahrzehnte zurück. Autor Helmut Heiber konnte, „gemessen an dem heute zur Verfügung stehenden Material, auf eine eher bescheidene Quellenbasis“ zurückgreifen. Und er verweist auf die divergierenden Interpretationen, die im vergangenen Zeitraum in Aufsätzen und Lebensabrissen über den ehemaligen Minister für Propaganda und Volksaufklärung erschienen waren. Die Aussagen variierten jedoch erheblich zwischen „Dämon der Diktatur“ (Werner Stephan) und Viktor Reimann sieht in Goebbels den rationalen Propaganda-Macher. Reuth erkennt in seinem 1990 erstmals erschienen Buch Goebbels’ „eitle Selbstbespieglung und autosuggestive Lügenhaftigkeit“ im bisher zum Teil erschlossenen schriftlichen Nachlass. Er ist der Überzeugung, dass der Antisemitismus seines Protagonisten nicht mit Opportunismus erklärbar sei und seine Rolle während der Stennes-Revolte, den Strasser-Krisen, dem „Röhm-Putsch“ und den letzten Tagen im Bunker der Reichskanzlei sich objektiv anders darstellten als sie der Tagebuchschreiber der Nachwelt hinterlassen wollte.
Zwei Dezennien später legt Reuth eine vollkommen überarbeitete Neufassung der Biographie vor. Geblieben sind die Struktur mit ihren Kapitelüberschriften und die Gesamtseitenzahl. Was sich offensichtlich änderte, sind der Umfang der einzelnen Abschnitte, der komprimierte Anmerkungsapparat sowie die stark veränderten Quellen- und Personenverzeichnisse. Auf der Grundlage der seit 2008 vorliegenden, jedoch nicht kommentierten Tagebuchgesamtausgabe von Goebbels, den inzwischen zusammengeführten Aktenbeständen im Bundesarchiv, vielen Schriften und Zeitungsaufsätzen sowie erstmals in diesem Zusammenhang systematisch durchgesehenen zahlreichen dokumentierten Gerichtsverfahren und einen langen Zeitraum verschollen gegoltenen politischen Aufzeichnungen Horst Wessels in der Jagiellonen-Bibliothek im polnischen Krakau entstand die Neufassung. Dem allgemeingültigen Schema biographischer Literatur entsprechend ist die Ausführung chronologisch angelegt.
Kritisch interpretiert Ralf Georg Reuth die kürzlich erschienene Goebbels-Biographie des Londoner Sozialhistorikers Peter Longerich, weil dieser mehr deute – eine unzureichende quellenkritische Distanz zu den Tagebüchern gehe einher – als sich mit seinem Gegenstand auseinandersetze. Entstanden sei eine Mischung aus Lebensweg, allgemeiner Geschichte des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Propaganda. Außerdem verzichte er, Reuth, bewusst auf „die in der Zeitgeschichtsschreibung inzwischen gängigen moralischen Wertungen“ (S.11).
Mit dem körperlichen Gebrechen und seinem bisherigen Leben hadernd, zog sich Goebbels nach erfolgter germanistischer Promotion (1921) und vergeblichen Anstrengungen nach beruflichem Fortkommen ins elterliche Haus zurück. Auf der Suche nach einer Persönlichkeit, welche ihm und der „gedemütigten“ Nation den Weg weisen könnte, wurde er mit Adolf Hitler fündig. Im Tagebuch vom 13. März 1924 notierte er, dass er sich mit ihm und der nationalsozialistischen Bewegung auseinandersetze. Weil sie sich „mit allen schwierigen Problemen des Abendlandes“ (S.84) auseinandersetze. Einen ersten Schritt in die politische Neuausrichtung, zu dem Zeitpunkt war der junge Mann sozialistischen Ideen gegenüber nicht abgeneigt, unternahm er, indem Goebbels im August 1924 am Gründungskongress der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands, einer Nachfolgeorganisation der verbotenen NSDAP, teilnahm. Wenig später war er Mitbegründer der Ortsgruppe der Partei, profilierte sich als Redner und wurde journalistisch tätig. Goebbels’ Vorstellungen wichen zum Teil erheblich von Hitlers ab, der es aber stets verstand ihn für seine Zwecke und Interessen, auch gegen dessen zeitweiligen Mentor Gregor Strasser, zu instrumentalisieren. Als Vertrauensbeweis ernannte Adolf Hitler seinen Gewährsmann Joseph Goebbels Ende Oktober 1926 zum Gauleiter des desolaten, zerstrittenen und einflußlosen Landesverbandes Berlin-Brandenburg.
Als der neu ernannte Funktionär in der Reichshauptstadt aus dem provinziellen Elberfeld eintraf, begab er sich in eine dynamische, verlockend glänzende Großstadt, in der trotz wirtschaftlichen Aufschwungs soziale Gegensätze aufeinanderprallten: prahlerischer Reichtum und bittere Armut. Wie er hier erfolgreich sein kann, erkannte der Gauleiter schnell und bekundet sein Wirken im Buch „Kampf um Berlin“ (München 1934) ehrlich kurzweg: „Berlin braucht seine Sensation wie der Fisch das Wasser. Diese Stadt lebt davon, und jede politische Propaganda wird ihr Ziel verfehlen, die das nicht erkannt hat“ (S. 122). Dabei setzte er neben Kundgebungen auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit ideologischen Feinden, SPD und KPD und deren Formationen, sowie persönliche Beleidigungen Verwaltungsbeamter der Landes- und Reichshauptstadt. Beredt legen eine Fülle von Prozessakten vom Auftreten Zeugnis ab. Seine Kontroverse fand oft im jüdischen Vizepräsidenten der Berliner Polizei, Bernhard Weiß, ihr Ziel. Als Leiter der politischen Polizei veranlasste Weiß ein Parteiverbot der NSDAP. Seitdem verhöhnte ihn Goebbels mit dem Spitznamen „Isidor“ in Reden und Schriften. Und das, obwohl er kein „Radauantisemit“ sein wollte, bezeichnete der Gauleiter Juden als „Volksfeinde und Bazillen“, die ihr „Gastrecht“ nutzen, um das deutsche Volk mit Betrug und Korruption auszubeuten. Mit dem Verlassen der der Heimat verlor Goebbels die vorhandenen Rudimente „(klein-) bürgerlicher“ Anständigkeit schnell.
Durch seine „Erfolge“ um Einfluss in Berlin wurde er im April 1930 Reichspropagandaleiter. Damit war Joseph Goebbels für die politische Ausrichtung in der Partei, ihre Wahlkämpfe und Großveranstaltungen, zuständig. Die Presse war ihm versagt, denn hier dominierte sein lebenslanger Rivale um Einflussnahmen, denn Alfred Rosenberg bleibt Schriftleiter des „Völkischen Beobachters“ und stieg 1934 sogar als installiertes Konkurrenzunternehmen zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda zum „Beauftragten des Führers für die weltanschauliche Überwachung der NSDAP“ auf. Beider Kampf um die Deutungshoheit in der Partei füllt eigene Bände. Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 zu Ministerehren gelangt, schuf sich Goebbels sein eigenes politisches und kulturelles Imperium durch Gleichschaltung von Vereinen und Institutionen. Kurz nach der Amtsübernahme, schon am 24. April 1933, verlieh ihm seine Heimatstadt die Ehrenbürgerschaft. Im Festvortrag bescheinigte Schulleiter Harring dem besten Abiturienten des Jahrgangs 1917, dass dieser eine „Zierde dieser Schule“ und „Stolz dieser Stadt“ ist. Den Grund sah der Direktor darin, dass der „Herr Reichsminister“ einen Entwicklungsweg genommen habe, „den ich den wahrhaft humanistischen nennen möchte“ (S. 305). Den Dank der Ehrenbürgerschaft nahmen auf einer Großkundgebung die Einwohner der Stadt Reydt auf dem überfüllten „Adolf- Hitler- Platz“ entgegen.
Privat hatte Goebbels nach der Trennung vor seiner Ehe mit Magda, geschiedene Quandt, einige flüchtige Liebschaften („Bock von Babelsberg“), die er auch nach der Eheschließung im Dezember 1931, Trauzeuge war der „Führer“, weiterführte. Nachdem Goebbels Minister geworden war, leistete sich das Paar einen üppigen Lebensstil. Der von Speer umgebauten Dienstwohnung folgten ein Seegrundstück auf der Insel Schwanenwerder und später ein Landhaus. Sechs Kinder wurden während der Ehe geboren. Auf Amouren ließen sich beide Ehepartner ein.
Mit Kriegsbeginn installierte Reichsminister Goebbels zur wirksamen täglichen Steuerung der Medien Konferenzen im Propagandaministerium: „Ministerkonferenz“, an der die Leiter der politischen Abteilungen des Hauses, Vertreter anderer Dienstellen und der Wehrmacht teilnahmen. Anschließend folgte die „Tagesparolen-Konferenz“, die Reichspressechef Otto Dietrich leitete und schließlich die Reichspressekonferenz, in der die Berliner Vertreter der Inlandspresse vertraut gemacht wurden. Die Provinzpresse erhielt die Weisungen über die „Presse-Rundschreiben“ oder als „Vertrauliche Informationen“. Um die Intelligenz im In- und Ausland zu erreichen, gab Goebbels die Wochenzeitung „Das Reich“ heraus. Erfolgreich erwies sich sein Ansinnen, denn bis 1944 stieg die Auflage auf 1,4 Millionen Exemplare. Mit allen genannten und ungenannten Mitteln erreichte der umtriebige Reichspropagandaminister die Menschen und spornte sie mit der Parole über den „totalen Krieg“ zu übermenschlichen Leistungen an. Was aber nicht die militärische Niederlage, die bedingungslose Kapitulation im Mai 1945 verhindern konnte. Diesen Zeitpunkt erlebten Joseph und Magda Goebbels nicht mehr. Ihnen schien das Leben nach dem Selbstmord Hitlers nichts mehr wert. Selbst die Existenz ihrer Kinder löschten sie aus. Ralf Georg Reuth legt mit der umfangreichen Neubearbeitung seiner Goebbels-Biographie eine lesens- und beachtenswerte Mischung aus Persönlichem und Politischen des Menschen, Politikers, Propagandisten und Intriganten vor. Wie er ihn charakterisierte, beschrieb er ihn:
„In seiner Person verbanden sich ein sozial motivierter und aus Minderwertigkeitskomplexen gespeister abgrundtiefer Hass, ein aus katholischer Herkunft resultierendes unbeirrbares Glaubensbedürfnis und eine beachtliche intellektuelle Schärfe und wohl einer einzigartigen Waffe im Dienste der Massenbeeinflussung“ (S.7).
Autor: Uwe Ullrich
Reuth, Ralf Georg: Goebbels. Eine Biographie; Scharzweißabbildungen, S. 747, München- Zürich 2012; 26,99 Euro