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Startseite > Rezensionen > Buchrezensionen > Antiliberalismus und Antisemitismus – von Henning Albrecht
Geschrieben von: Uwe Ullrich | Erstellt: 31. August 2011

Antiliberalismus und Antisemitismus – von Henning Albrecht

Rezension über:
Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe, Band 12). Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 596 Seiten, ISBN 978-3-506-76847-6.

Die Grundlagen des „modernen“ Antisemitismus

Henning Albrecht zeigt anhand des Politikers Hermann Wagener die enge Verschränkung zwischen einem negativen Judenbild und preußischer Großmachtpolitik

Hermann Wagener (1815–1889) zählte nach Mitte des 19. Jahrhunderts zu den bedeutenden und vor allem publizistisch aktiven (Sozial-)konservativen im Königreich Preußen. Bis auf den heutigen Tag fehlt eine den wissenschaftlichen Standards genügende Biografie über ihn ebenso wie die historische Darstellung parteipolitischer konservativer Entwicklung zwischen Vormärz und Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches.

Über das Vierteljahrhundert hinweg begleitet Henning Albrecht den Lebensweg seines Protagonisten. Auf der Grundlage neuer Quellenfunde, der Auswertung stenografischer Berichte der jeweiligen Parlamente, denen Wagener angehörte und den privaten, zum Teil kriegsbedingt ausgedünnten oder vernichteten Nachlässen, welche sich aber durch frühere Editionen bruchstückhaft erhielten und vor allem gründlicher Analyse gegenwärtig (fast) vergessener Zeitungen und Zeitschriften preußischer Sozialkonservativer rekonstruiert der Autor die gebrauchte Kombination von antiliberalen, antikapitalistischen und antisemitischen Gedankengutes, welches den Akteuren und ihrem Umfeld anhaftete. Zwischen diesen Spannungspolen bewertet Albrecht in seiner Dissertation Hermann Wageners politisches und publizistisches öffentliches Wirken. Als langjähriger Chefredakteur der stockkonservativen Kreuzzeitung, Herausgeber verschiedener, zum Teil massenwirksamer „Blättchen“, Kalender und des wenig erfolgreichen, mehrbändigen Staats- und Gesellschaftslexikons gab er Meinungen vor.

Zwischen der 1848er-Revolution und kleindeutscher Reichsgründung spielte der preußische Landtags- und Reichstagsabgeordnete, zeitweilig Mitarbeiter und Berater Otto von Bismarcks sowie Vortragender Rat im preußischen Staatsministerium, eine nicht unbedeutende Rolle in der Innenpolitik. Charakterlich durchaus unausgeglichen und folglich wenig zimperlich bei Durchsetzung seiner Projekte, nachzulesen in der Biografie von Hans-Christoph Kraus über Ernst Ludwig von Gerlach (1994), konnte ihn selbst der Reichskanzler 1873 nicht im Amt halten, nachdem bekannt geworden war, dass Hermann Wagener in Spekulationsgeschäfte bei der Gründung der Pommerschen Zentralbahn verwickelt war. Bis zu seinem Lebensende blieb er publizistisch aktiv und verfasste die bedeutende, anonym erschienene Schrift Die Lösung der sozialen Frage. Vom Standpunkte der Wirklichkeit und Praxis. Von einem praktischen Staatsmanne (1878).

Mit dem Übergang vom ständisch-korporativen zum bürokratisch-konstitutionellen Staat, der adligen Privilegienordnung zur bürgerlichen Klassengesellschaft und der frühkapitalistisch-agrarischen zur kapitalistisch-industriellen Wirtschaftsordnung ging soziale Differenzierung einher, die den unaufhaltsamen Aufstieg des Bürgertums und ihrer Ideologie der Aufklärung und des Liberalismus mit sich brachte. In Furcht um Machtpositionen stellten Konservative die sich ändernden politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse von nun an dauernd infrage. Obwohl Henning Albrecht Konservative allgemein als Gegner politischen, sozioökonomischen oder religiösen Wandels bezeichnet, gesteht er ihnen zu, dass sich deren sozialer Flügel (meist) positiv zu technischen und industriellen Modernisierungen äußert. Die Akkumulation des Kapitals, die schrankenlose Konkurrenz und das Finanzkapital, welches keine „ehrliche Arbeit“ leiste, waren Ziel ihrer (Sozial-)Kritik.

Erst unter dem Druck einer tiefen politischen und parlamentarischen Krise der Konservativen Partei (1858) versuchte die jüngere Generation um Wagener und Moritz von Blanckenburg eine breitere Wählerbasis zu schaffen. Angesprochen sollten sich die „Opfer“ nivellierender Liberalisierungspolitik und des Modernisierungsprozesses fühlen und diesem Zweck diente die Gründung des Preußischen Volksvereins 1861. In dieser Phase des Übergangs begann der „moderne“ Antisemitismus den christlich bestimmten Antijudaismus sukzessive abzulösen. Er fand seinen Ausdruck im Vorwurf, konstatiert der Autor, die Juden hätten mit Unterstützung der kapitalismusfreundlichen liberalen Politik das soziale und wirtschaftliche Leben und somit die Stabilität der nationalen Volksgemeinschaft zerstört. So wurde unter anderem im Preußischen Volksblatt gegen das verfassungsmäßige Recht der Religionsfreiheit und des Gleichheitsgrundsatzes im Hinblick auf die „Judenfrage“ argumentiert. Anfang 1860 wurde auch in der Wochenschrift Berliner Revue das Thema aufgegriffen. Ersichtlich und als exemplarisch für andere Publizistik zu kennzeichnen ist in beiden Publikationen, die instrumentelle Verwendung des negativen Judenbildes gegen die Liberalen, die später eine der Grundlagen für das judenfeindliche Klima des Kaiserreichs war, welche in der Forderung gipfelte, sich „von den Juden zu emanzipieren“. Die politisch-instrumentelle Gleichsetzung von Liberalismus und Judentum, judenfeindliche Stereotype inbegriffen, ist gleichfalls im von Wagener und ab 1861 vom dissidenten Linkshegelianer Bruno Bauer herausgegebene Staats- und Gesellschaftslexikon (1859–1867) anzutreffen.

Die Anfangserscheinungen des „modernen“ Antisemitismus definiert Albrecht als zyklisch, da die Bedeutung des äußeren Feindes zeitgeschichtlich in der konservativ-preußischen Großmachtpolitik „die Konstruktion des inneren Feindes“ ersetzte. Albrecht sieht darin den vorwiegend instrumentellen Charakter des sozialkonservativen Antisemitismus bestätigt. In diesem Sinne betrachtet der Historiker die antijüdische Haltung der (Sozial-)Konservativen im analysierten Zeitraum nicht als grundlegend für deren Weltanschauung. Er lässt aber keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass die Grundlegung des rassistischen Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich hier vorgenommen wurde.

Autor: Uwe Ullrich
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Die Grundlagen des „modernen“ Antisemitismus  ↗ auf der Website literaturkritik.de, 25. August 2011.

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