Von Dominik Haffer: Nationalstaatbildung – Der Weg Deutschlands zwischen Deutschem Bund und Kaiserreich
Europa in den Augen Bismarcks. Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem
Biographien wie Spezialstudien von Dominik Haffer über Otto von Bismarck (1815 bis 1898) füllen inzwischen Bibliothekswände. Dominik Haffer breitet in fünf Hauptkapiteln seine Forschungsergebnisse über das Europabild seines Protagonisten aus. Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung – unter Rückgriff auf benachbarte Wissenschaftsdisziplinen – entwickelt sich zwischen den Überschriften „Überlegungen zum politischen Handeln Bismarcks“ und „Das Deutsche Reich als neue Größe im europäischen Staatensystem“ thematisch. Anliegen des Verfassers ist es, die außenpolitischen Gedankengänge seiner Bezugsperson zu analysieren und gleichzeitig zu versuchen, ihre vielfältigen Ursprünge zu rekonstruieren. Er will in seiner Studie vermeiden, ihn „aus dem Blickwinkel der europäischen Integration des 20. Jahrhunderts zu betrachten, sondern den Übergang, die Zeit des Strukturwandels und Transformation des europäischen Staatensystems, zu der Bismarck ohne Zweifel beigetragen hat, und die Sicht des letzteren auf die Veränderungen“ darzulegen.
Bismarcks Leben vollzieht sich in einem Jahrhundert des steten politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Europa. Bereits als Jugendlicher erfuhr er durch Reisen und Bekanntschaften seine ersten Eindrücke über die Inhomogenität sowohl politischer Systeme als auch Sitten und Gebräuche. Die Unterschiede erkannte der junge Adlige in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, aber auch historischen und geographischen Voraussetzungen. Somit erlangte Bismarck frühzeitig Kenntnis von der „Unvollkommenheit staatlichen, weil letztlich menschlichen Handels.“ Allerdings bleiben negative Folgen auf die internationalen Beziehungen der Staatengemeinschaft aus, solange ihre jeweiligen Interessen mit Rationalität und Berechenbarkeit verfolgt, und dabei Gewisse Grundregeln – Solidarität, Zurückhaltung, Vertragstreue und Zusammenarbeit –, sowie den gleichberechtigten sowie respektvollen Umgang miteinander, einhielten. Soweit die Theorie.
In der Praxis änderte sich Bismarcks, wie auch dessen politischen Umfeldes, Blickwinkel nach den Revolutionen 1848/49 und dem Krimkrieg 1854 bis 1856 erheblich. Als preußischer Bundesgesandter, der Deutsche Bund war 1815 (bis 1866) als Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches auf dem Wiener Kongress gegründet worden, musste er erkennen, dass die Solidarität unter den europäischen Kabinetten an Gewicht verlor und „der allgemeine Verlust von Werten vom Aufstieg nationaler Tendenzen begleitet“ war. Selbst mit den Partnern in Wien konnte im Bund keine Einigung mehr auf Grundlage des konservativen Solidaritätsgedankens erzielt werden. Nur noch einmal verteidigten Preußen und Österreich vor dem deutschen Bruderkrieg 1866 gemeinsames Interesse: Im Kampf gegen Dänemark, in dem England anfangs sogar bereit gewesen war, selbst „den Bruch internationalen Rechts durch das Kopenhagener Kabinett zu tolerieren und gleichzeitig den Protest der deutschen Kabinette zu ignorieren.“
Durch die starre Haltung der Österreicher sah sich der preußische Ministerpräsident, seit 1862, Bismarck vor die Wahl gestellt, entweder den status quo und damit das für den preußischen Großmachtstatus nachteilige Verhältnis mit den Habsburgern zu akzeptieren oder die Konfrontation zu suchen. Wien weigerte sich, Kompromisse hinsichtlich der deutschen Machtfrage – Groß- oder Kleindeutsche Lösung – einzugehen und dessen Diplomatie schickte sich an, die innerdeutsche Auseinandersetzung durch die Einmischung anderer europäischer Großmächte entscheiden zu lassen. Eine militärische Auseinandersetzung war unausweichlich geworden. Mit dem Sieg bei Königgrätz Anfang Juli 1866, der folgenden Gründung des Norddeutschen Bundes lag das Ziel, Proklamierung des Deutschen Reiches in Reichweite. Ein letzter Schritt war der vermeidbare, Napoleon III. neigte zur Verständigung der sich jedoch einige Politiker durch Emotionspolitik in französische Öffentlichkeit widersetzten, Deutsch-französischer Krieg. Die Folge: Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal zu Versailles.
Streckenweise ausufernd, entrollt Dominik Haffer auf breiter Quellen- und Literaturbasis ein breitgefächertes Tableau der wesentlichen außenpolitischen Schritte, die Otto von Bismarck zwischen seiner Zeit als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund bis zum Kanzler des Deutschen Reiches vollzieht. Dazu nutzt der Autor ebenso bekannte, aber interpretatorisch neu gelesene Archivalien und zieht zum Teil bisher unbekannte Akten heran. Die Fleißarbeit behandelt den Zeitraum 1848 bis 1871 ausführlich, stellt aber die Zeit der Kanzlerschaft nur in groben Zügen dar. Leider bleibt die notwendige, ausführliche Analyse des europäischen Mächtesystems, mit den Möglichkeiten und Perspektiven im behandelten Zeitraum wie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur in vagen Andeutungen stecken. Dominik Haffer betont abschließend, dass Bismarck zwar ein Großmachtpolitiker war, dass er aber unter klar bestimmten und rationalen Aspekten handelte und sein Wirken nicht undifferenziert und losgelöst von den Entscheidungen der Politiker andere Nationen betrachtet werden darf. Denn veränderte Verhältnisse erfordern entsprechende Anpassungen und durch sie bemühte sich Otto von Bismarck immer um Stabilität des europäischen Staatensystems.
Autor: Uwe Ullrich
Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks. Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem; gebunden, 723 Seiten; Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2010; 68 Euro