„Volksgemeinschaft“ ist ein zentraler Begriff der NS-Ideologie. Er steht programmatisch für die Idee des nationalen Sozialismus. Das Volk als Rasse- und Weltanschauungsgemeinschaft soll sich geschlossen hinter seinem Führer versammeln. Klassen- und Standesschranken sind aufgehoben. Durch Gleichschaltung der öffentlichen Meinung in der NS-Propaganda und durch ein konsequent nationalsozialistisches Erziehungssystem sollte die Volksgemeinschaft verwirklicht werden.
Geschichte des Begriffes
„Volksgemeinschaft“ war bereits um 1900 ein häufig gebrauchter Begriff. Als Gegenbild zur modernen von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft war er für die verschiedensten politischen Gruppierungen, völkischen und konservativen, aber auch liberalen und christlichen, attraktiv. Insbesondere in der romantisch geprägten Jugendbewegung des Wandervogels wurde die Volksgemeinschaft als Ideal der künftigen Gesellschaft propagiert. „Volksgemeinschaft! Die Jugend erbebt in hohem, höchsten Gefühl, wenn dieses Wort fällt“, konstatiert im Rückblick ein Zeitgenosse (Jonas Lesser: Von deutscher Jugend, Berlin 1932, S.131). Großen Einfluß hatte der Soziologe Ferdinand Tönnies. Mit seinem erstmals 1887 erschienen Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ prägte er wesentlich die Diskussion bis in die Weimarer Zeit. Tönnies konstatiert, daß sich das Individuum in der modernen Gesellschaft immer in zwei Typen sozialer Bindung befindet. Zum einen in einer Verbindung, die durch gewachsene Strukturen und Zugehörigkeitsgefühl geprägt ist: Familie, Nachbarschaft, Volk. Diesen Typus nennt Tönnies „Gemeinschaft“. Dagegen steht die „Gesellschaft“, ein Bindungstyp, der vor allem durch Nutzenüberlegungen bestimmt wird: Ökonomische und politische Verbindungen, Vereine und Versammlungen. Was von Tönnies als soziologische Beschreibung der modernen Welt gedacht war, entwickelte sich in der politisch zerrissenen Situation nach dem 1. Weltkrieg zu einem politischen Kampfbegriff: Gegen die anonyme, von ökonomischen Nutzenüberlegungen, egoistischem Individualismus und Parteienstreit bestimmte „Gesellschaft“ sollte die Gemeinschaft des Volks verwirklicht werden.
In der Euphorie der Kriegsbegeisterung vom August 1914 und der anschließenden Kameradschaft im Feld, sahen viele konservative, aber auch linke Kräfte geradezu das Modell der verwirklichten Volksgemeinschaft, in der alle Klassen- und Standesschranken gefallen waren. Der „Geist von 1914“ wurde in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit immer wieder beschworen. Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ vermittelte die Illusion, persönliche enge Verbindungen ließen sich auf den Status einer gesamten modernen Gesellschaft übertragen. „Volksgemeinschaft“ war so ein idealer Begriff für die politische Propaganda.
Das nationalsozialistische Konzept von Volksgemeinschaft
Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ spielte bereits in den 20er Jahren in den Kampfreden Hitlers eine große Rolle. Vage bestimmte das NSDAP-Programm, daß in einer künftigen nationalsozialistischen Volksgemeinschaft „alle Staatsbürger die gleichen Rechte und Pflichten besitzen sollten“ und „die Tätigkeit des einzelnen nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern (…) im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen“ sollte. Einen Begriff der „Volksgemeinschaft“, der auch theoretischen Ansprüchen genügt, haben die Nationalsozialisten nicht entwickelt. Aus den Reden der führenden NS-Ideologen und der Praxis läßt sich aber ein Konzept von Volksgemeinschaft rekonstruieren, das im wesentlichen auf zwei Elementen beruhte: Rasse und Weltanschauung.
Volksgemeinschaft als Rassegemeinschaft
Grundvoraussetzung für die Teilhabe an der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft war die Angehörigkeit zur arischen Rasse. Hitler verkündet beim Erntedankfest auf dem Bückeberg am 1. Oktober 1933, das Volk sei eine „blutsmäßig bedingte Erscheinung“. Während das einzelne Individuum „vergänglich“ sei, sei das Volk „bleibend“. Obgleich es eine Vielzahl von rassekundlichen Publikationen im Dritten Reich gab und auch ein – vages – Idealbild des blonden, blauäugigen und großgewachsenen nordischen Menschen, fehlte eine exakte Bestimmung von „Rasse“. Tatsächlich war Volksgemeinschaft als Rassegemeinschaft vor allem ein negativer Begriff: So unpräzise „Rasse“ war, so klar war, gegen wen der Begriff sich richtete: Vor allem gegen die Juden. Diese galten der NS-Ideologie als dem Arier entgegengesetzte Rasse. Damit war der Rassebegriff vor allem ein Instrument, die Juden aus der Volksgemeinschaft auszuschließen. Klar bestimmt wurde dies lange vor dem Holocaust in den sogenannten Nürnberger Rassegesetzen, die auf dem Reichsparteitag 1935 beschlossen wurden. Mit dem Verbot von Eheschließungen und Verkehr von Juden mit Nichtjuden, wurde auch juristisch der Ausschluß der jüdischen Menschen aus der Volksgemeinschaft besiegelt.
Volksgemeinschaft als weltanschauliche Gemeinschaft
Der Nationalsozialismus hat sich nicht nur als politische Bewegung gesehen, sondern als Weltanschauung. Als Quasireligion hatte er den Anspruch auf umfassende Deutung und aktive Gestaltung der Welt bis ins Privatleben des einzelnen. Die Zugehörigkeit zur arischen Rasse war zwar eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft, aber sie war nicht hinreichend. Diese hätte einen – gerade von Propagandachef Goebbels immer wieder abgelehnten – „Rassenmaterialismus“ bedeutet. Volksgemeinschaft war eine Gesinnungsgemeinschaft, die das Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung erforderte. In der Praxis bedeutete dies vor allem das uneingeschränkte Bekenntnis zum „Führer“. Nur wer sich dazu bekannte, war vollwertiges Mitglied der Volksgemeinschaft. Wer sich abwartend verhielt, mußte durch Propaganda noch zur Volksgemeinschaft erzogen werden. „Das Wesentliche“ der nationalsozialistischen Revolution war nach Hitler, nicht „Machtübernahme, sondern die Erziehung des Menschen“ (Rede am 03.07.1933 vor SA-Führern in Bad Reichenhall). Ausgeschlossen von der Volksgemeinschaft blieben dagegen grundsätzlich und unabhängig von ihrer Rassezugehörigkeit diejenigen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und die sich auch der weltanschaulichen Umerziehung widersetzen. Kommunisten, Demokraten und Widerstandskämpfer waren so nicht einfach Gegner des NS-Regimes, sondern per definitionem keine Mitglieder der Volksgemeinschaft. Es entspricht konsequent dieser Logik, daß in Urteilen gegen Widerständler im Dritten Reich immer wieder beschlossen wurde, diese hätten ihre die „Bürgerehre verwirkt.“
Inszenierung und Realisierung von Volksgemeinschaft
Die Formatierung des Volkes zu einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft erfolgte in einer bereits 1933 einsetzenden und bis 1945 ununterbrochenen Propaganda. Dies begann bereits im offiziellen Sprachgebrauch in Behörden, Schulen und Presse. An Stelle des demokratischen Begriffs „Bürger“ trat jetzt das Wort „Volksgenosse“, womit bereits eine gewissen Zusammengehörigkeit suggeriert werden sollte. In den Betrieben sollte nicht mehr die nach Ansicht der NS-Propagandisten klassenspalterischen Begriffe Arbeitnehmer und Arbeitgeber gebraucht werden. Statt dessen war von Betriebsgemeinschaft die Rede, in der „Arbeiter der Stirn und Faust“ vereint waren. Die Firmenchefs mußten sich nun „Betriebsführer“ nennen. Die Propagierung einer Volksgemeinschaft war auch der Grund, warum bereits in den ersten Jahren der NS-Diktatur alle selbständigen Vereine, Verbände und Organisationen – selbst dann wenn sie sich positiv zum Regime stellten – verboten bzw. in die entsprechenden NS-Organisationen integriert wurden. Es sollte jeder Partikularismus vermieden werden.
Dabei verfielen die NS-Propagandisten auf immer neue Einfälle, um die vermeintliche klassen- und standeslose Volksgemeinschaft zu inszenieren. Ein Beispiel dafür war der sogenannte „Eintopfsonntag“, der mehrfach im Jahr veranstaltet wurde. Das ganze Volk wurde an diesem Tag verpflichtet, Eintopf zu essen. Während es den privaten Haushalten immerhin noch freigestellt blieb, wie der Eintopf zubereitet wurde, gab es für Gaststätten und Wirtshäuser genaue Anweisungen für die Zutaten. Effektvoll präsentierten sich die NS-Größen, allen voran Hitler selbst und Propagandaminister Goebbels, beim Eintopfessen in Presse und Wochenschau. Das ganze Volk vom einfachen Arbeiter bis zum Führer selbst als Volksgemeinschaft vor dem Eintopf vereint, sollte modellhaft die klassenlose nationalsozialistische Volksgemeinschaft zeigen. Die Differenz des billigen Eintopfes zu einem regulären Sonntagsessen sollte über NS-Organisationen gespendet werden und ärmeren „Volksgenossen“ zugute kommen. Goebbels sprach vom „Sozialismus der Tat“.
Eine andere Aktion, die ganz der Inszenierung der Volksgemeinschaft diente, war das sogenannte Winterhilfswerk (WHW). Im September 1933 als „Winterkampf gegen Kälte und Hunger“ gegründet, veranstaltete das Winterhilfswerk ganzjährig Sammelaktionen, mit denen notleidende Volksgenossen unterstützt oder Sonderaktionen wie Theater- und Filmveranstaltungen für Arme organisiert wurden. Nachdem sich der deutsche Angriff im russischen Winter festgefahren hatte, macht das Winterhilfswerk mit einer spektakulären Sammlungsaktion von Wintermänteln in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. Obwohl es für eine Diktatur ein Leichtes gewesen wäre, die nötigen Abgaben zwangsweise zu erheben oder durch Steuern zu finanzieren, wählte die NS-Propaganda bewußt den umständlichen Weg über die Sammelbüchse. Das persönliche Gefühl der Volksgenossen für die anderen etwas zu tun, sollte gestärkt werden. Die WHW-Parole „Ein Volk hilft sich selbst“ ließ sich überdies durch solche Sammelaktionen, zu denen immer wieder auch prominente Filmschauspieler wie Heinz Rühmann oder Zarah Leander herangezogen wurden, besser illustrieren. Das Tragen der WHW-Abzeichen, die bei den Sammlungen ausgegeben wurden, erschienen daher wie ein Bekenntnis zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.
Die tatsächliche Struktur der NS-Volksgemeinschaft
Die propagandistische Attraktivität der „Volksgemeinschaft“ beruhte auf einer einfachen Psychologie: der Vorstellung, die persönliche Bindung im Bereich der kleinen Gemeinschaften – Familie etc. – lasse sich übertragen auf den Bereich eines Millionenvolkes. Tatsächlich ist ein solcher Transfer nicht nur nicht möglich, sondern war in Wahrheit von der NS-Diktatur auch gar nicht angestrebt. Denn eine wirkliche Gemeinschaft hat ja gerade freie Individuen zur Voraussetzungen, an denen die NS-Diktatur kein Interesse hatte. Die „Parole“ der Volksgemeinschaft diente den NS-Herren dazu, ein ganz anderes Konzept zu realisieren. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft war in Wahrheit ein Verhältnis von Führer und Masse. Diese bestand nicht mehr aus freien Individuen, sondern aus willenlosen Teilchen, die vom Willen des Führers zu beliebigen Formationen organisiert werden konnten. Goebbels spricht entlarvend davon, das Volk zu einem „Stahlblock“ zusammenzuschweißen. Das Ideal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ist daher nicht das einer kommunitären Gemeinschaft sich gegenseitig helfender Individuen, sondern das einer gut funktionierenden Maschine. Diese sollte willenlos und mechanisch den Befehlen ihres Führers gehorchen. In der Umwandlung des Volkes zu einer Heimat und Front verbindenden Militärmaschine fand die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ihre eigentliche Bestimmung.
Autor: Dr. Bernd Kleinhans
Literatur
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Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
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Janka, Franz: Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997.
Stöver, Bernd: Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt, 3. Aufl. 1991 (erstmals 1887).
Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.