Thorbjörn Ferber, Nationaler Antisemitismus im literarischen Realismus, Berlin 2014.
Wenn es in der Literaturgeschichte ein überforschtes Themengebiet gibt, dann ist es die Frage nach negativen Judenbildern in den Werken des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Seit den 1990er Jahren haben sich Studien zum „literarischen Antisemitismus“ aus der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte gelöst und verstehen sich zunehmend als Teildisziplin der Antisemitismusforschung.[1] Zwar gilt dies auch für Thorbjörn Ferbers Buch, jedoch sticht es aus der Masse der autorenbiografisch, diskursanalytisch, werk- oder motivgeschichtlich arbeitenden Forschungsliteratur heraus. Fünf kanonisierte Werke des Realismus unterzieht der Autor einer theoriegeleiteten Analyse, die sich von den eingefahrenen Methoden der Literaturwissenschaft löst und sich in Richtung Soziologie und Geschichte öffnet. Ferber begnügt sich nicht damit, Judenfeindlichkeit an bestimmten textimmanenten Merkmalen zu identifizieren[2], sondern fragt auch nach ihrer politischen Bedeutung im historischen Kontext. Diese erkennt er – wie der Titel schon nahelegt – im Nationalismus.
Der mit 200 Seiten etwas überdimensionierte Theorieteil lotet vor allem die Zusammenhänge von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus aus. Dabei gibt der Autor die Thesen der neueren Forschung zwar zutreffend wieder, orientiert sich aber viel zu unkritisch an ihnen. Alles läuft auf die Annahme hinaus, dass Nationalismus und Rassismus die Selbstaufwertung einer „ingroup” durch die Abwertung einer „outgroup” betreiben, weshalb sie durch die Auswahl der Juden als „outgroup“ quasi naturgemäß mit dem Antisemitismus verbunden gewesen seien.[3] Zum einen steht diese anthropologische Zweckbestimmung von Nationalismus und Rassismus in einem befremdlichen Gegensatz zur konstruktivistischen Neuorientierung des Forschungsfeldes seit den 1980er Jahren. Zum anderen widersprechen die historischen Fakten der Annahme, dass Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus schon immer eine Einheit gebildet hätten. Wie ist zu erklären, dass der moderne Antisemitismus auch in nichtnationalen Zusammenhängen in Erscheinung trat (z.B. in der katholischen Kirche und in Stalins Sowjetunion, wo es durchaus nicht beim Antijudaismus bzw. Antizionismus blieb)? Wie ist zu erklären, dass die Judenemanzipation 1848 und 1870/71 ausgerechnet in Phasen nationalistischer Euphorie ihren Höhepunkt erreichte? Wie ist zu erklären, dass Konservative in den 1850/60er Jahren ihren Antisemitismus gegen die liberale Nationalbewegung richteten? Wie ist zu erklären, dass viele Zeitgenossen mit rassistischen Argumenten gegen den Antisemitismus vorgingen, beispielsweise indem sie die Lösung der „Judenfrage” durch Mischehen anstrebten? Der Gehalt von Nation und Rasse lässt sich nicht anthropologisch fixieren, da die Zugehörigkeitskriterien dieser „imaginierten Gemeinschaften“ (Benedict Anderson) permanent neu ausgehandelt werden. Der moderne Antisemitismus geht daher weder im Nationalismus noch im Rassismus auf, sondern muss als eigenständiges Phänomen untersucht werden.[4]
Dennoch wäre es lohnenswert gewesen, die Thesen von Klaus Holz[5], dass der Antisemitismus ein Spezialdiskurs innerhalb des nationalistischen Interdiskurses gewesen sei und dass die Antisemiten die Juden als „Nicht-Nation” konzipierten, d.h. als Verschwörer gegen die nationale Ordnung der Welt, an den Werken des bürgerlichen Realismus zu überprüfen. Leider arbeitet Ferber nicht ergebnisoffen, sondern zwingt Holz‘ Interpretation den Quellen geradezu auf. So entgeht ihm, dass die Feinbildkonstruktionen des „nationalen Antisemitismus” zwar punktgenau auf Goedsches „Biarritz“ (1868) passen, doch in anderen Werken eher soziale als nationale In- und Exklusionsprozesse verhandelt werden. So stehen sich in Freytags „Soll und Haben“ (1855) Bürgertum und jüdische Parvenüs sowie in Oesers „Das Volk und seine Treiber“ (1859) Bauern und jüdische Händler feindlich gegenüber.
Aufschlussreich ist Ferbers Blick auf die Vorgeschichte des literarischen Antisemitismus in der Romantik.[6] Schon hier wurden viele Stereotype vorgeprägt, die sich dann auch in der realistischen Literatur wiederfinden lassen. Die von Ferber betonte Kontinuität zur Romantik löst den paradoxen Befund auf, dass ausgerechnet die an wirklichkeitsnaher Darstellungsweise orientierte realistische Literatur wirklichkeitsferne Judenbilder zeichnete. Allerdings wirft dies die unbeantwortete Frage auf, ob und in wie fern sich der Antisemitismus überhaupt literaturepochenspezifischen Normen anpasste. Welchen Sinn macht es, zwischen einem romantischen und einem realistischen Antisemitismus zu unterscheiden, wenn die Stereotypen und Feindbilder dieselben blieben?
Ferbers Werkanalysen sind durchweg gut recherchiert. Leider sind sie nicht chronologisch angeordnet und verfügen über keine einheitliche Struktur, was den Vergleich der Werke erheblich erschwert. Mal stehen die verwendeten Judenstereotypen im Mittelpunkt, mal Handlungsverlauf und Personenkonstellationen, mal wird eher die Produktionsästhetik untersucht, mal eher die Wirkungsästhetik, mal wird ein autorenbiographischer und werkgeschichtlicher Zugang gewählt, mal wird diese Option als irrelevant verworfen.
Dass man die Nutzung von Judenstereotypen nicht umstandslos mit einer antisemitischen Autorenintention und Wirkungsabsicht gleichsetzen kann, zeigt Ferber im Abschnitt über Anette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“ (1842). In Bezug auf die übrigen Werke verzichtet er jedoch auf diese Differenzierung, so dass anspruchsvolle Romane von Gustav Freytag und Wilhelm Raabe mit den platten antisemitischen Pamphleten eines Rudolf Oeser und Hermann Goedsche auf eine Stufe gestellt werden. Tatsächlich verwenden alle Werke ähnliche antisemitische Stereotype, doch ihre Aussageabsicht ist nicht dieselbe. Bei Grillparzer, Freytag und Raabe werden die Juden zum Problem für die Mehrheitsgesellschaft, weil sie angeblich einen schnellen sozialen Aufstieg anstreben, ohne sich zu assimilieren. Die Botschaft lautet: Die Juden müssen zuerst ihr Judentum durch Assimilation ablegen, bevor sie in Bürgertum und Nation aufgenommen werden können.[7] Bei Oeser und Goedsche sind die Juden ohnehin Verschwörer gegen die christlich-germanische Sozialordnung. Die Assimilation wird nicht implizit gefordert, sondern explizit abgelehnt. Es kann nicht darum gehen, mit Freytag und Raabe die „Stars” des bürgerlichen Realismus vom berechtigten Antisemitismusvorwurf freizusprechen, doch die von Ferber vorgenommene Nivellierung liberaler und konservativer Autoren (S. 429) ist nicht haltbar. Unter Berufung auf Michel Foucault erklärt Ferber die Ermittlung von Autorenintentionen und Letztbedeutungen schlichtweg für obsolet. (S. 18, 220, 433f.) Deshalb unternimmt er nicht einmal den Versuch, zu erklären, warum Freytag und Raabe antisemitische Romanbestseller verfassten und in anderen Zusammenhängen den Antisemitismus scharf verurteilten.[8]
An interpretierend arbeitenden Studien zum literarischen Antisemitismus besteht kein Mangel. Über die Rezeption der entsprechenden Werke ist hingegen kaum etwas bekannt, obwohl sie durch die Auswertung zeitgenössischer literarischer Zeitschriften nachvollzogen werden könnte.[9] Bedauerlicherweise verzichtet auch Ferber auf diese Quellengattung. Er begnügt sich mit der eher spekulativen Frage nach der Wirkungsästhetik, d.h. der Leserlenkung durch den Autor. Dass die Werke „Segregation, Separation oder Vernichtung“ als Lösungen der „Judenfrage” nahegelegt hätten (S. 428), mag aus der Nach-Holocaust-Perspektive plausibel erscheinen, geht jedoch am Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts vorbei. Insgesamt bleibt der Eindruck einer hermeneutisch kompetenten Studie, die einen innovativen interdisziplinären Zugang versucht, dann aber doch die üblichen Schwächen der literaturgeschichtlichen Antisemitismusforschung perpetuiert und nur wenige Forschungslücken schließt.
Autor: Thomas Gräfe
Thorbjörn Ferber, Nationaler Antisemitismus im literarischen Realismus, Berlin: Weidler Buchverlag 2014. ISBN 978-3-89693-616-5
Anmerkungen
[1] Zum Forschungsstand vgl. Florian Krobb, Was bedeutet literarischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert? Ein Problemaufriss, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart 2007, S. 85-102; Torben Fischer, Judenbilder und literarischer Antisemitismus. Bemerkungen zur Forschungsgeschichte, in: Text + Kritik 180 (2008), S. 115-124; Mona Körte, Literarischer Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd.3, Berlin 2010, S. 195-200; Jan Süselbeck, Tertium non datur. Gustav Freytags „Soll und Haben“, Wilhelm Raabes „Hungepastor“ und das Problem des literarischen Antisemitismus – eine Diskussion im Wandel, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2013, S. 51-71.
[2] Dies im Gegensatz zu Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998.
[3] So übereinstimmend bei allen Unterschieden im Detail: Michael Jeismann, Der letzte Feind. Die Nation, die Juden und der negative Universalismus, in: Peter Alter/ Claus-Ekkehard Bärsch/ Peter Berghoff (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999, S. 173-190; Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001; Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004; Christian Jansen/ Henning Borggräfe, Nation- Nationalität- Nationalismus, Frankfurt a.M. 2007.
[4] Auch Ferber verfällt in die Tendenz, die Bedeutung und Eigenständigkeit religiöser und sozioökonomischer Ideologieelemente im modernen Antisemitismus zu unterschätzen. Dort, wo er sie erwähnt, ordnet er sie vorschnell dem – vom nationalsozialistischen Ergebnis her gedachten – Primat einer nationalistisch-rassistischen Weltanschauung unter. Dagegen: Christoph Nonn, Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 16-32; Thomas Gräfe, Antisemitismus in Deutschland 1815-1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt (3.Aufl.) 2016, S. 118-156.
[5] Holz, Nationaler Antisemitismus, S. 540-552.
[6] Dazu ausführlich: Wolf-Daniel Hartwich, Romantischer Antisemitismus von Klopstock bis Wagner, Göttingen 2005.
[7] Die Judenfiguren Grillparzers, Freytags und Raabes scheitern eben nicht an ihrer grundsätzlichen Unassimilierbarkeit, wie Ferber meint (S. 426), sondern daran, dass sie die Assimilation nur zum Zweck des sozialen Aufstiegs vortäuschen, ohne sie ernsthaft zu vollziehen. Zum Konzept der integrationalistischen Assimilation in den Werken des bürgerlichen Realismus vgl. Hannah Burdekin, The ambivalent author. Five German writers and their Jewish Characters 1848-1914, Oxford 2002, S. 321-325; Christine Achinger, Gespaltene Moderne. Gustav Freytags „Soll und Haben”. Nation, Geschlecht und Judenbild, Würzburg 2007, S. 167-244.
[8] Hierzu besonders aufschlussreich: Hannah Burdekin, Kontinuität oder Veränderung? Freytags Judenbild vor und nach „Soll und Haben“, in: Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre „Soll und Haben“. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 269-289.
[9] Ein historisch angemessenes Textverständnis lässt sich grundsätzlich nur durch Rezeptionsforschung erzielen, in keinem Fall aber durch einen präsentischen „ethical criticism“. Dies im Gegensatz zu Süselbeck, Tertium non datur, S. 68-71.