Als deutscher Kaiser und preußischer König (1888 – 1918) repräsentierte Wilhelm II. (1859 – 1941) eine Epoche der deutschen Geschichte, die nach ihm als „Wilhelminisches Zeitalter“ benannt wird. Doch Glanz und zur Schau gestellte militärische Macht dieser Jahre dürfen nicht über innen- und außenpolitische Spannungen sowie Umbrüche hinwegtäuschen, die den Rahmen seiner Politik bildeten: der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft; ein enormes Bevölkerungswachstum; große Zuwächse der von ihm bekämpften Sozialdemokratie; eine Monarchie, die sich trotz propagiertem Gottesgnadentum auf konstitutioneller Basis Reichstagsmehrheiten suchte; sowie eine Außenpolitik der europäischen Staaten, die von Nationalismus und Imperialismus geprägt war. Die Politik Wilhelms II. war Teil europäischer und globaler Spannungen zwischen Kolonialmächten, zu denen auch das deutsche Kaiserreich gehörte. Hinzu kamen beständige Versuche der Einflussnahme von Politikern und Ratgebern auf einen in seiner Meinung schwankenden und in seinen Äußerungen oft unbedachten Kaiser.
Herkunft und Ausbildung
Wilhelm II. wurde als Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen am 27. Januar 1859 im Berliner Kronprinzenpalais geboren. Er war das älteste von acht Kindern des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (der spätere Kaiser Friedrich III., 1831 – 1888) und seiner Gemahlin, Prinzessin Victoria (1840 – 1901). Sein jüngerer Bruder Heinrich (1862 – 1929) wurde 1909 Großadmiral sowie Generalinspekteur der Kaiserlichen Marine. Seine Schwester Sophie (1870 – 1932) heiratete 1889 den griechischen König Konstantin I. (1868 – 1923).
Wilhelms Großeltern väterlicherseits waren Wilhelm I. von Preußen (1797 – 1888; der spätere Kaiser Wilhelm I.) und Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach (1811 – 1890). Wilhelm I. hatte 1857 die Stellvertretung seines erkrankten Bruders, König Friedrich Wilhelms IV. (1795 – 1861) übernommen und nach dessen Tod selbst den preußischen Thron bestiegen. Die Großeltern mütterlicherseits waren Königin Victoria von Großbritannien und Irland (1819 – 1901), sowie ihr Gemahl Albert von Sachsen-Coburg-Gotha (1819 – 1861).
Da es bei der Geburt zu Komplikationen gekommen war, trug Wilhelm lebenslange körperliche Beeinträchtigungen davon: Neben Verletzungen der Halswirbel und des linken Gehörgangs, war sein linker Arm nicht vollständig entwickelt und in seiner Beweglichkeit eingeschränkt [1].
Als Erzieher wirkte der Pädagoge Georg Ernst Hinzpeter (1827 – 1907). Dessen strikte Methoden sollten helfen, die körperlichen Behinderungen auszugleichen. Ab 1874 besuchte Wilhelm das Gymnasium in Kassel-Wilhelmshöhe, wo er 1877 Abitur machte. Im gleichen Jahr begann er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Bonn, bevor er 1879 den aktiven Militärdienst in Potsdam antrat. Es folgten ab 1883 Unterweisungen im Verwaltungsdienst und ab 1886 in den Auswärtigen Angelegenheiten [2].
Verhältnis zu Wilhelm I. und Otto von Bismarck
Wilhelm wurde Zeuge der Konflikte zwischen dem von ihm bewunderten Großvater Wilhelm I. und seinem Vater, dem in manchen Fragen liberaleren Kronprinzen Friedrich [1]. Als 1863 unter Otto von Bismarck (1815 – 1898) als preußischem Ministerpräsidenten ein verschärftes Pressegesetz in Kraft trat, distanzierte sich der Kronprinz davon [3]. Für Bismarck hegte Wilhelm lange Zeit Bewunderung. Jedoch kam es 1890 zum Bruch zwischen beiden [1].
Erste Ehe und Kinder
Wilhelm verlobte sich 1880 mit Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (1858 – 1921). Die Hochzeit erfolgte 1881. Dieser Ehe entstammten sieben Kinder: Kronprinz Wilhelm (1882 – 1951), Eitel Friedrich (1883 – 1942), Adalbert (1884 – 1948), August Wilhelm (1887 – 1949), Oskar (1888 – 1958), Joachim (1890 – 1920) und Viktoria Luise (1892 – 1980) [3].
Das Erbe Bismarcks
Während des von Bismarck provozierten Deutsch-Französischen Krieges hatte am 18. Januar 1871 zur Demütigung Frankreichs im Spiegelsaal von Versailles die Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser stattgefunden. Bismarck – bislang preußischer Ministerpräsident – ernannte er zum Reichskanzler. Wilhelm I. regierte bis zum Tod am 9. März 1888. Sein Nachfolger wurde Friedrich III. Doch dieser litt unheilbar an Kehlkopfkrebs und starb nach nur 99 Tagen auf dem Thron. Ihm folgte am 15. Juni sein Sohn als Kaiser sowie preußischer König Wilhelm II. Somit war er der dritte deutsche Kaiser des Jahres 1888 („Dreikaiserjahr“).
In den ersten beiden Jahren seiner Regierung amtierte Bismarck noch immer als Reichskanzler. Er hatte nicht nur die Gründung des Kaiserreiches bis 1871 vorangetrieben, sondern auch dessen Politik maßgeblich geprägt: außenpolitisch durch ein komplexes Bündnissystem und ab 1884 – auf Druck kolonialpolitischer Verbände sowie der öffentlichen Meinung – mit dem Erwerb erster deutscher Kolonien („Schutzgebiete“); innenpolitisch mit der Bekämpfung des politischen Katholizismus („Kulturkampf“) ab 1871, sowie der Sozialdemokratie („Sozialistengesetz“) ab 1878; ferner mit der von ihm begonnenen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre. Besonders „Kulturkampf“ und „Sozialistengesetz“ hatten die gesellschaftlichen Gräben innerhalb der Bevölkerung des Kaiserreiches vertieft.
Kampf gegen die Sozialdemokratie
Dem gesellschaftspolitischen Konfliktpotential der sozialen Gegensätze hatte Bismarck versucht, durch eine neue, staatliche Sozialpolitik entgegenzuwirken. Sein Ziel war, die Arbeiterschaft der Sozialdemokratie zu entfremden und an den monarchischen Staat zu binden. Diesem Zweck diente das Krankenversicherungsgesetz von 1883 und das Unfallversicherungsgesetz von 1884. Das erst 1871 geschaffene deutsche Kaiserreich sah er durch die Gefahr einer sozialistischen Revolution gefährdet. Seit 1875 existierte eine einheitliche sozialistische Partei in Deutschland durch den Zusammenschluss des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Für zwei Attentate des Jahres 1878 auf Kaiser Wilhelm I. machte Bismarck bewusst fälschlich die Sozialdemokratie verantwortlich. Folge war das am 21. Oktober vom Reichstag mehrheitlich genehmigte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zum Verbot ihrer Vereine, Versammlungen und Publikationen.
Wilhelm II. setzte die Politik zur Bindung der Arbeiterschaft an den Staat im Grunde fort. Die Alters- und Invaliditätsversicherung folgte 1889 schon unter seiner Regierung, fiel aber auch noch in die Amtszeit Bismarcks [1]. Zudem ließ der Kaiser eine erste internationale Arbeiterschutzkonferenz für März 1890 in Berlin einberufen. Doch der Reichstag lehnte im Januar 1890 eine weitere Verlängerung des Sozialistengesetzes ab [3] und die Sozialdemokratie konnte bei der kurz darauf folgenden Reichstagswahl vom 20. Februar mit über 1,4 Mio. Wählerstimmen große Zugewinne erzielen. Meinungsverschiedenheiten zwischen Wilhelm II. und seinem Reichskanzler führten am 20. März zur Entlassung Bismarcks. Sein Nachfolger wurde bis 1894 Leo von Caprivi (1831 – 1899).
Weiterhin unter der Prämisse, die Sozialdemokratie zu schwächen und die Arbeiterschaft an den Staat zu binden, setzte Wilhelm II. die Sozialgesetzgebung in den kommenden Jahren fort [2]. Wie wenig er selbst von der neuen politischen Kraft hielt belegt seine Aussage von 1895, nach der es sich bei Sozialdemokraten um eine „Rotte von Menschen“ handele, „nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen“ [4]. Doch sein Ziel, die Sozialdemokratie zu schwächen, erreichte er nicht. Denn die 1890 neu gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) wurde bei den Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912 mit 110 Abgeordneten stärkste Fraktion [3]. Und im Oktober 1918 trat sie unter Reichskanzler Prinz Max von Baden (1867 – 1929) sogar in die letzte Regierung des Kaiserreichs ein.
Deutsche Kolonien
Die noch unter Kaiser Wilhelm I. und Bismarck begonnene deutsche Kolonialpolitik setzte Wilhelm II. ebenfalls fort. Jedoch hatte Bismarck zunächst gezögert, Kolonien zu erwerben. Denn da sich die Kolonialmächte in Europa befanden, bestand die Gefahr, dass ursprünglich koloniale Konflikte in einen europäischen Krieg münden konnten. Ebenso war er bestrebt, das Kaiserreich aufgrund seiner ungünstigen geopolitischen Lage in der Mitte Europas durch ein Bündnissystem abzusichern.
In der Zeit Bismarcks waren 1884 Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo als sogenannte „Schutzgebiete“ deutsche Kolonien geworden. Hinzu kamen 1885 Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neuguinea und die Marschall-Inseln. Im April 1888 wurde Nauru besetzt und im Oktober – bereits unter Wilhelm II. – annektiert. Durch Pachtvertrag erwarb Deutschland 1898 von China die Kolonie Kioutschou auf 99 Jahre. Die Marianen, die Karolinen, die Palau-Inseln und Teile Samoas kamen 1899 im Pazifikraum hinzu [1]. Damit war Deutschland verglichen mit anderen europäischen Mächten erst spät in die Kolonialgeschichte eingetreten. Der wirtschaftliche und militärische Wert seiner Kolonien war gering.
Großmachtpolitik
Als verheerend erwies sich die Art und Weise, mit der unter Wilhelm II. deutsche Großmachtpolitik präsentiert und betrieben wurde. Zum außenpolitischen „Säbelrasseln“ sowie dem Militarismus in Politik und Gesellschaft kamen unbedachte Äußerungen des Kaisers. Sie schlugen innen- und außenpolitisch hohe Wellen. Die Folge war eine Verstärkung vorhandener Konflikte in Europa und ein wachsendes Misstrauen gegenüber dem deutschen Kaiserreich [5].
Für Empörung sorgte die sogenannte „Hunnenrede“ Wilhelms II. am 27. Juli 1900. Er hielt sie in Bremerhaven anlässlich der Ausschiffung deutscher Soldaten zur Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands. Mit der Bemerkung „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht, führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ [nach: 6] rief er die Soldaten zu abschreckender Vergeltung auf.
Der Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika wurde 1904 nicht nur niedergeschlagen. Es setzte eine harte Verfolgung ein, bei der die Herero in die trockene Omahekesteppe gedrängt wurden. Zwischen 40.000 und 60.000 Herero sowie 10.000 Nama kamen dabei ums Leben [1].
Die Beziehungen zu Großbritannien, mit dessen Königshaus Wilhelm II. dynastisch verwandt war, verschlechterten sich. Zum einen wurde das politische Klima durch unvorsichtige Äußerungen des Kaisers beschädigt. Zum anderen begab sich Deutschland durch den Aufbau einer Flotte, die sich zahlenmäßig an der britischen orientierte, in ein verheerendes Flottenwettrüsten.
Für britische Empörung sorgte die kaiserliche Gratulation vom 3. Januar 1896 an Paulus Krüger (1825 – 1904), den Präsidenten der südafrikanischen Republik Transvaal, zum erfolgreichen Widerstand gegen englische Angriffe (sogenannte „Krügerdepesche“) [3]. Ein am 28. Oktober 1908 im „Daily Telegraph“ veröffentlichtes Interview mit Wilhelm II. über die Ziele der deutschen Außenpolitik stellte zwar seine Freundschaft zu England heraus, die nach kaiserlicher Aussage aber in Deutschland nicht geteilt werde. Ferner habe er während des englischen Burenkrieges Großbritannien wichtige Ratschläge gegeben. Die Engländer wiederum würden die friedliche Gesinnung des Reiches nicht sehen („Daily-Telegraph-Affäre“). Während man die Aussagen in Großbritannien als anmaßend empfand, forderte die deutsche Öffentlichkeit verfassungsrechtliche Einschränkungen der monarchischen Kompetenzen [3]. Letztlich führte die Affäre zum Sturz des Reichskanzlers Bernhard von Bülow (1849 – 1929), dessen Büro den Text vor der Freigabe geprüft hatte, der sich angesichts der Affäre aber vom Kaiser distanzierte.
Zum Bau einer Schlachtflotte verabschiedete der Reichstag drei Flottengesetze (1898, 1900 und 1912) [1] [3]. Mit ihnen sollte das Verhältnis zwischen deutschen und britischen Schiffen auf ein Verhältnis von 2:3 gehoben werden. Treibende Kraft im Reichsmarineamt war Staatssekretär Alfred von Tirpitz (1849 – 1930). Der von diesem beeinflusste Deutsche Flottenverein, der expansionistische Alldeutsche Verband, sowie der Deutsche Wehrverein setzten sich für die Aufrüstung ein. Versuche zur Rüstungsbegrenzung scheiterten am Widerstand des von Tirpitz beeinflussten Kaisers [7].
Das seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 1871, der Ausrufung Wilhelms I. im Spiegelsaal von Versailles sowie den hohen französischen Reparationszahlungen von 5 Milliarden Franc schwer belastete deutsch-französische Verhältnis, nahm durch die Marokkokrisen der Jahre 1905 und 1911 weiteren Schaden. Auslöser war der Besuch Kaiser Wilhelms II. am 31. März 1905 beim Sultan in Tanger. Damit wollte die deutsche Seite ein Zeichen gegen die französische Interessenpolitik im Land setzen, da man dort eigene Wirtschaftsambitionen hatte [3].
Frankreich versuchte jedoch, auch nach internationalem Regelungsversuch deutschen Einfluss zu behindern und besetzte 1911 die Städte Rabat und Fez. Dass am 27. März des Jahres das deutsche Kanonenboot „Panther“ vor Agadir erschien, war eine unverhohlene Drohung. Das militärische „Säbelrasseln“ konnte im November vertraglich beigelegt werden: Zwar stimmte Deutschland der Besetzung Marokkos durch Frankreich zu, jedoch blieb für alle Staaten die Handelsfreiheit gewahrt [3].
Bündnispolitik
Auf Betreiben Bismarcks war 1887 ein geheimer „Rückversicherungsvertrag“ mit Russland geschlossen worden. Dieser lief über drei Jahre und hätte verlängert werden können. Darin verpflichteten sich beide Seiten zur Neutralität, sofern der andere Vertragspartner von einem dritten Staat angegriffen würde. Bismarck versuchte damit, französischem Revanchismus für die Niederlage und Demütigung von 1871 vorzubeugen. Zudem gab es sowohl in Frankreich wie auch in Russland Befürworter eines französisch-russischen Bündnisses, durch das Deutschland eingeklammert worden wäre. Über den „Rückversicherungsvertrag“ jedoch war das Kaiserreich im Falle eines französischen Angriffs im Osten abgesichert [1].
Doch unter Einfluss seines neuen Reichskanzlers Caprivi, der Bismarcks Bündnissystem für zu kompliziert und moralisch angreifbar hielt, verlängerte Wilhelm II. den Vertrag nicht [8]. Diese Entscheidung trug zu einer Verschlechterung der deutschen Position in Europa bei.
Frankreich und Großbritannien legten bereits 1904 ihre gegenseitigen Kolonialkonflikte bei und begründeten die britisch-französisch Entente. Der Versuch Wilhelms II., 1905 im finnischen Björkö ein Defensivbündnis mit Russland zu begründen, scheiterte. Es hätte beide Seiten im Kriegsfall zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichtet. Doch Russland wollte diese bei einem französischen Angriff auf Deutschland ausschließen [9]. Der Vertrag wurde aufgrund des Widerstandes von Reichskanzler Bernhard von Bülow nicht ratifiziert. Dagegen ermöglichte die weitere Annäherung Russlands und Frankreichs sowie eine koloniale Interessenabgrenzung zwischen Russland und Großbritannien im arabischen und asiatischen Raum 1907 sogar den Ausbau der Entente zur Triple-Entente [3]. Deutschland war von ihren Mitgliedern eingekreist.
In Österreich-Ungarn besaß es dagegen einen Verbündeten (Mittelmächte). Doch angesichts permanenter Spannungen und der Existenz der Triple-Entente erschien das Deutschland Wilhelms II. für einen möglichen Zweifrontenkrieg schlecht gewappnet. Als Strategie besaß es dazu ausschließlich den 1905 vom preußischen Generalfeldmarschall Alfred Schlieffen (1833 – 1913) entwickelten und nach ihm benannten „Schlieffenplan“ [1]. Dieser sah vor, den Großteil der militärischen Kräfte zunächst im Westen einzusetzen. Durch das neutrale Belgien hindurch marschierend, sollte der französische Ostteil umfasst und das französische Heer gegen die Schweiz gedrängt werden. Danach sei der Schwerpunkt der deutschen Truppen nach Osten zu verlegen. In den Details durch Schlieffens Nachfolger, Generalstabschef Helmuth Moltke (1848 – 1916) variiert, kam dieser Plan zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur Anwendung [10].
Der Erste Weltkrieg
Nach dem von serbischen Nationalisten verübten, verheerenden Attentat von Sarajewo auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand (1863 – 1914) und seine Gemahlin vom 28. Juni 1914 [3] versicherte Wilhelm II. Österreich-Ungarn am 6. Juli 1914 uneingeschränkte Bündnistreue für den Fall kriegerischer Auseinandersetzung [11]. Einem von Serbien am Ende der sogenannten Julikrise abgelehnten österreichischen Ultimatum folgte die österreichische Beschießung Belgrads am 29. Juli und die russische Mobilmachung als Schutzmacht Serbiens am 30. Juli. Deutschland erklärte Russland am 1. August den Krieg. Am 3. August folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich, das am 2. August mobil gemacht hatte. Nach dem variierten „Schlieffenplan“ marschierten am 3. August deutsche Truppen durch das neutrale Belgien gegen Frankreich. Großbritannien erklärte als belgische Garantiemacht Deutschland am 4. August den Krieg [3].
Die ebenfalls am 4. August vom deutschen Reichstag zur Kriegsfinanzierung beschlossenen Kriegskredite wurden – trotz interner Gegenstimmen – in dieser Situation noch einstimmig von der sozialdemokratischen Fraktion mitgetragen. Mit ihren Stimmen hatte Wilhelm II. nicht gerechnet. Ungeachtet seiner Abneigung gegen sie, rief er in einer Thronrede aus: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ [nach: 5] („Burgfrieden“)
Doch die in vielen europäischen Ländern – auch in der deutschen Politik und Öffentlichkeit – aus der eigenen vermeintlichen militärischen Stärke resultierenden Erwartungen eines höchstens bis Weihnachten 1914 andauernden Krieges zerschlugen sich schnell. Stattdessen erlebte die Welt einen durchindustrialisierten Stellungs- und Abnutzungskrieg mit einer noch nie dagewesenen Anzahl an Opfern.
Die deutschen Kolonien – ehemals Ausdruck deutscher und kaiserlicher Großmachtambitionen – waren militärisch nicht zu halten. Und besonders nach der Berufung Paul von Hindenburgs (1847 – 1934) und Erich Ludendorffs (1865 – 1937) in die 3. Oberste Heeresleitung (OHL), verlor Wilhelm II. als militärischer Oberbefehlshaber zunehmend den Einfluss auf militärische Entscheidungen [1] [5]. Er gab sogar dem Druck der OHL nach, als Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (1856 – 1921) im Juli 1917 eine Reform des von liberaler und sozialdemokratischer Seite immer wieder kritisierten preußischen Dreiklassenwahlrechts ankündigte: Um den Rücktritt der OHL zu verhindern, entließ der Kaiser den Reichskanzler [3].
Ludendorff teilte dem Kaiser am 29. September 1918 die bevorstehende deutschen Niederlage mit. Im Versuch, sich der Verantwortung zu entziehen, trat Ludendorff am 26. Oktober zurück [3]. Hatten Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht der deutschen Bevölkerung schon im Januar 1918 zu Massenstreiks geführt, die niedergeschlagen wurden [1], so eskalierten Ende Oktober/ Anfang November 1918 Matrosenmeutereien in Kiel und Wilhelmshaven. Sie waren der Anfang der Novemberrevolution, die sich innerhalb weniger Tage im gesamten Reich ausbreitete. Die Monarchie in Deutschland – allen voran Kaiser Wilhelm II. – hatte ihre Akzeptanz verloren und wurde gestürzt.
Abdankung und Exil
Nachdem sich Wilhelm II. einem Rücktritt zunächst widersetzt hatte, gab Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November 1918 eigenmächtig die Abdankung des Kaisers bekannt. Zudem übertrug er das Amt des Reichskanzlers an Friedrich Ebert (1871 – 1925), den Parteivorsitzenden der SPD und Fraktionsführer im Reichstag. Die ehemals verfolgte Sozialdemokratie war inzwischen sogar mit zwei Ministern Regierungspartei geworden. Im Grunde wollte Ebert die monarchische Staatsform beibehalten. Doch gegen seinen Willen rief Philipp Scheidemann (1865 – 1939) um 14 Uhr vom Reichstag die Deutsche Republik aus, um die bürgerlich orientierte Führung der Bevölkerungsmassen auf der Straße zu übernehmen. Nur zwei Stunden später erfolgte die Ausrufung der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht (1871 – 1919). Er führte mit Rosa Luxemburg (1871 – 1919) den linksradikalen Spartakusbund, aus dem zur Jahreswende 1918/ 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorging.
Wilhelm II. begab sich am 10. November 1918 aus dem Hauptquartier im belgischen Spa ins niederländisches Exil [2]. Am 28. November verzichtete er auf den Thron und lebte bis 1920 in Schloss Amerongen, danach in Haus Doorn. Die niederländische Regierung hatte ihm das Exil unter der Bedingung gestattet, dass er auf weitere politische Betätigung verzichtet. Sie lehnte sogar seine Auslieferung an die Siegermächte ab und auch die Alliierten waren sich in dieser Frage nicht einig [3] [5].
Nach dem Tod seiner Frau Auguste Viktoria am 11. April 1921 heiratete Wilhelm 1922 in zweiter Ehe Hermine von Reuß ältere Linie (1887 – 1947) in Haus Doorn [2]. Das Exil nutzte er 1922 zur Publikation seiner Erinnerungen in „Ereignisse und Gestalten, 1878 – 1918“.
Antisemitismus und Nationalsozialismus
Antisemitismus spielte eine große Rolle im Denken Wilhelms II. [12] [13]. Er gab den Juden die Schuld am Ersten Weltkrieg, an der deutschen Niederlage und an seinem eigenen Sturz [3]. Am 10. Januar 1924 notierte sein Leibarzt Alfred Haehner (1880 – 1949) über eine Unterredung mit ihm in sein Tagebuch: „Die ganzen Juden müßten aus der Presse heraus, keiner mehr dürfe sein Gift wirken lassen, ich sollte einmal sehen, wenn er zurückkomme, was dann für ein Pogrom veranstaltet werde, aber anders und wirksamer wie alle die in Gallizien.“ [nach: 6]
Von einer nationalsozialistischen Regierung erhoffte sich Wilhelm II. offenbar die Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland. Hermann Göring (1893 – 1946) empfing er im Januar 1931 und im Mai 1932 in Haus Doorn [3] [6]. Doch wurde er in seinen Hoffnungen enttäuscht: Eine Anfrage seines Sohnes und ehemaligen Kronprinzen Wilhelm an Adolf Hitler (1889 – 1945) um Rückkehr seines Vaters nach Deutschland wurde im Februar 1935 abgelehnt. Daraufhin distanzierte sich der ehemalige Kaiser wieder von Hitler [3].
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begrüßte er jedoch die Wehrmachtstruppen, die am 13. Mai 1940 Doorn erreichten. Ebenso gratulierte er Hitler telegrafisch zur Einnahme von Paris, konnte bei den Nationalsozialisten aber keinen Eindruck machen [3] [6].
Wilhelm starb am 4. Juni 1941 an Herzversagen. Entgegen nationalsozialistischer Planungen, die ihn zu Propagandazwecken in Potsdam bestatten wollten, hatte Wilhelm seine Bestattung in Doorn verfügt: Dort solle sein Leichnam liegen, bis in Deutschland wieder die Monarchie eingeführt würde [3].
Charakterisierung
Wilhelm II. amtierte in einer innen- wie außenpolitisch von Spannungen, Brüchen und Krisen geprägten Zeit. Sowohl sein stark entwickeltes monarchisches Selbstbewusstsein, seine unbedachten Äußerungen, die von ihm vertretene deutsche Weltmachtpolitik sowie seine Beeinflussbarkeit durch Ratgeber verschlechterten die deutsche Position in Europa und trugen zur Konfliktverschärfung bei. Bismarck urteilte 1891 über den Kaiser: „Das furchtbar Gefährliche im Charakter des Kaisers ist, dass er dauernd keinem, momentan jedem Einflusse zugänglich ist und alles sofort zur Tat werden läßt, womit jede Stetigkeit aufhört.“ [1]
In einer Umbruchzeit mit neuen gesellschaftspolitischen Kräften und einem entwickelten Konstitutionalismus hat er die Möglichkeiten einer dynastisch geprägten Politik überschätzt. So hoffte er sogar während des Weltkriegs noch auf diplomatische Vermittlungen der niederländischen Königin Wilhelmina (1880 – 1962) oder des dänischen Königs Christian X. (1870 – 1947) [1].
Klee attestiert Wilhelm II. die Förderung von nationaler Überheblichkeit und Untertanengeist [6]. Röhl stellt die Frage, ob Wilhelm II. als Bindeglied zwischen Bismarck und Hitler zu sehen sei [12]. Diese Einschätzung wird von Clark kritisiert [3].
Autor: Martin Schneider, M. A.
Anmerkungen / Literatur
[1] Düwell, Kurt: „Kaiser Wilhelm II.“, in: Drei deutsche Kaiser. Wilhelm I. – Friedrich III. – Wilhelm II. Ihr Leben und ihre Zeit 1858 – 1918, hg. von Wilhelm Treue, Freiburg (Breisgau) 1996, S. 141 – 182.
[2] Kroll, Frank-Lothar: „Wilhelm II. (1888 – 1918)“, in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hg. von Frank-Lothar Kroll, 2. Aufl., München 2009, S. 290 – 310.
[3] Clark, Christopher: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008.
[4] Herre, Franz: Kaiser Wilhelm II. Monarch zwischen den Zeiten, Köln 1993.
[5] Schmierer, Wolfgang: „Wilhelm II.“, in: Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945. Ereignisse, Institutionen, Personen, hg. von Gerhard Taddey, 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 1360 – 1361.
[6] Klee, Ernst: Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt (Main) 2009.
[7] Cordes, Günter: „Flottengesetze, Flottenvorlagen“, in: Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945. Ereignisse, Institutionen, Personen, hg. von Gerhard Taddey, 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 365.
[8] Cordes, Günter: „Caprivi, Leo von“, in: Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945. Ereignisse, Institutionen, Personen, hg. von Gerhard Taddey, 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 199.
[9] Cordes, Günter: „Björkö, Vertrag von“, in: Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945. Ereignisse, Institutionen, Personen, hg. von Gerhard Taddey, 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 137.
[10] Cordes, Günter: „Schlieffenplan“, in: Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945. Ereignisse, Institutionen, Personen, hg. von Gerhard Taddey, 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 1128.
[11] März, Peter: Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, 2. Auflage, München 2008.
[12] Röhl, C.G. John: Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1995.