„Nicht, wer ist der Mann, sondern: wie ist der Mann?“
Paul Singer, 1844 als jüngstes Kind einer jüdischen Familie in Berlin geboren, war mehr als zwei Jahrzehnte zusammen mit August Bebel Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei und eine der wichtigsten Figuren der deutschen Sozialdemokratie vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Heute weitgehend vergessen, wirft seine ungewöhnliche Lebensgeschichte Schlaglichter nicht nur auf die Geschichte der Sozialdemokratie Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern allgemein auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen im Kaiserreich. (1)
Und wer nun glaubt, dass oben in der Überschrift gewählte Zitat von Paul Singer sei Ausdruck einer antifeministischen Haltung, täuscht sich gewaltig: Singer hat sich schon früh sehr ausdrücklich auch auf die Seite der sozialistischen Frauenbewegung gestellt. Dabei ging es ihm nicht nur um die Möglichkeit, dass Frauen studieren konnten, sondern um die gleichen Rechte für alle Frauen in allen Bereichen der Männerwelt und insbesondere um das gleiche Wahlrecht auch für Frauen (was selbst im sozialistischen Lager in Europa bis weit ins 20. Jahrhundert nicht uneingeschränkt vertreten wurde).
Seit 1995 gibt es einen Paul-Singer-Verein, der seinen Sitz aus gutem Grund in Berlin-Friedrichshain hat und von ehrenamtlichen Mitgliedern betreut wird; wichtigster Vereinszweck: Betrieb und Unterhalt des „Friedhofs der Märzgefallenen“, hierzu weiter unten.
I) Äußerer Werdegang
1) Als Paul Singer am 16. Januar 1844 in Berlin als jüngster Sohn eines Edelmetallhändlers geboren wurde, schien seine Zukunft in einem jüdisch-bürgerlichen Milieu zumindest materiell gesichert. Doch nach dem frühen Tod des Vaters rutschte die Familie sehr rasch in ärmliche Verhältnisse ab.
Als er am 31. Januar 1911 ebenfalls in Berlin verstarb, hatte er ein turbulentes und unvorhergesehenes Leben hinter sich; sowohl im privaten Bereich als unerwartet erfolgreicher Unternehmer, der aber gesundheitlich stark angeschlagen war, aber auch als führender Vertreter der -Ende des 19. Jahrhunderts noch jungen- Sozialdemokratie.
Dabei stand Singer nie bewusst im Rampenlicht. Vielmehr entsprach es dem Eindruck seiner Zeitgenossen, dass er eher im Schatten August Bebels gestanden habe, dessen Einfluss auf die politische Arbeiterbewegung damals in Deutschland aber auch unerreichbar war. Aber als ein Mann aus der zweiten Reihe hatte Singer viele wichtige Impulse setzen können, die auch heute noch Respekt und Würdigung verdienen.
Nach Schulbesuch und einer kaufmännischen Lehre gründete Paul Singer mit seinem älteren Bruder Heinrich eine Fabrik für Damenmäntel, aus der er sich wegen chronischer Gesundheitsprobleme 1887 zurückziehen musste. Schon vor seiner Zeit als Unternehmer war Singer begeisterter Anhänger der demokratischen Bewegung, so dass er im Laufe der 1860er Jahre zunächst der liberalen Fortschrittspartei angehörte. Einige Zeit später kam er in Kontakt zu August Bebel und Wilhelm Liebknecht und wurde noch Ende der 1860er Jahre Mitglied in einem Berliner Arbeiterverein, so dass sein weiterer politischer Weg ab dann vorgezeichnet war.
Zu beiden unbestrittenen Anführern der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland (Liebknecht gehörte bereits 1863 zu den ersten Organisatoren der politischen Arbeiterbewegung, Bebel folgte nur wenig später, zuvor hatte er Praxiserfahrung in der Gewerkschaftsarbeit sammeln können), pflegte Paul Singer von Anfang an ein loyales, sogar freundschaftliches Verhältnis.
Zu Franz Mehring, der um 1880 als einer der bekanntesten Historiker des Marxismus galt und einer der wenigen Intellektuellen war, der dezidiert gegen die Politik der Diskriminierung der Sozialisten agierte, aber selbst erst 1891 in die SPD eintrat, pflegte Paul Singer ebenfalls ein freundschaftliches Verhältnis.
Spätestens ab Mitte der 1870er Jahre entfaltete Singer sein großes soziales Engagement. Ein besonders prägnantes Beispiel war seine Förderung des ersten Obdachlosenasyls in Berlin.
2) Politische Einstellung und Werte
In der SPD, wie sie nach der Vereinigung im Jahre 1890 und dem Auslaufen des Sozialistengesetzes (hierzu weiter unten) entstanden war, gab es bereits relativ früh unterschiedliche Strömungen.
Dies hatte natürlich auch etwas mit der gesamten „Geschichte des Sozialismus“ in West- und Mitteleuropa zu tun; an dieser Stelle müssen aus Platzgründen wenige Stichworte genügen.
Das beginnt schon bei den Begrifflichkeiten bzw. unterschiedlichen Wortbedeutungen von „Sozialismus“, „Kommunismus“ oder aber „Sozialdemokratie“. Teilweise – je nach den zeitlichen Umständen – gibt es entweder Überschneidungen oder zumindest keine trennscharfe Abgrenzung zwischen diesen politischen Oberbegriffen (ein faktisches Problem der SPD bis zum Godesberger Programm 1959).
Ein ganz besonderes Kapitel in der Geschichte der Sozialdemokratie in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts war der sog. Revisionismus-Streit. Dieser begann nach Auslaufen der Bismarckschen Anti-Sozialisten-Politik etwa ab Mitte der 1890er Jahre und war besonders mit der Person Eduard Bernsteins verbunden. Die theoretischen Grundlagen zielten darauf ab, Reformen statt (kommunistische) Revolution zu verfolgen und somit auch am damals bestehenden politischen System eine erste Teilhabe zu erlangen.
Der genannte Bernstein war auch 1891 maßgeblich am sog. Erfurter Programm der SPD beteiligt, jedoch bevor er begann, revisionistische Ansätze zu vertreten, was ihn in Opposition zu den „Parteilinken“ (wie z,B. Luxemburg oder Kautsky), aber auch zur Parteiführung um Bebel brachte.
Auf weitere Einzelheiten hierzu muss aus Platzgründen verzichtet werden; jedoch führten diese theoretischen Grundlagendiskussionen zu schweren Zerwürfnissen innerhalb der damaligen SPD.
Paul Singer hielt sich zwar aus den zugespitzten Diskussionen heraus und wollte einen Bruch mit den bis dahin geltenden Programmpunkten vermeiden, war jedoch nicht damit einverstanden, Bernstein aus der Partei zu werfen, sprich: Er setzte sich für den Verbleib Bernsteins in der SPD ein, auch wenn er seine Ansichten und Positionen nicht teilte.
Im Großen und Ganzen war Paul Singer also eher ein Pragmatiker und hatte trotzdem in wichtigen Politikfeldern eine selbständige und exponierte Haltung.
Im Mittelpunkt stand für ihn die immer aktueller werdende „soziale Frage“ und damit zusammenhängend die „wirtschaftliche Besserung des Arbeiterstands“, welche er als Voraussetzung für die gewünschte politische Umgestaltung im verkrusteten Bismarckreich ansah.
Ob zu Fragen des Steuersystems, zur Außenpolitik oder aber beim Thema „Wahlrechtsreform“, Singer stand – obwohl ja kein typischer Arbeitervertreter – immer auf der Seite des „kleinen Mannes“. (2)
Das Verhältnis Rosa Luxemburgs, der wahrscheinlich interessantesten Sozialdemokratin zur Jahrhundertwende und in der Zeit bis 1914, zu Paul Singer (beide waren säkulare Juden, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Christentum konvertieren wollten), war zwar durchaus in Ordnung, hätte aber vielleicht deutlich enger sein können. Es lag wohl möglich an der Außenseiterposition bzw. der Einzelgängerstellung Luxemburgs, dass kein innigeres Verhältnis zwischen beiden entstanden ist. (3)
Der Biograph von Rosa Luxemburg (Peter Nettl) hat Singer zwar nur sehr selten erwähnt, aber immer als einen kritischen Vertreter, der auch gegen den eigenen Parteivorstand stimmen konnte.
Im Übrigen stellte Singers Position im Parteivorstand keinen Widerspruch zu seiner Seite als (erfolgreichem) Unternehmer dar, denn die frühe Sozialdemokratie hatte nicht wenige Unternehmer, Ärzte, Anwälte oder auch Kaufleute in ihren Reihen, so dass Singer ohne Probleme den sog. „Radikalen“ bzw. „Linken“ SPDlern zugerechnet werden konnte.
Allerdings kam es bei ihm nicht mehr zum Schwur, da er ja bereits 1911, also über drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verstarb, so dass er nicht mehr bei der Frage der Zustimmung zu den Kriegs-krediten in Gewissensbisse kommen konnte. Bekanntlich stellte die mehrheitliche Zustimmung der SPD-Fraktion im Reichstag (August 1914) den Anfang vom Ende einer glaubwürdigen pazifistischen Grundhaltung der deutschen Sozialdemokratie dar; die späteren Abspaltungen in die „Spartakusgruppe“ bzw. „Unabhängige SPD“ hatten in der Kriegsunterstützung der SPD-Führung von 1914 ihre tiefere Ursache. (4)
Hinzu kam, dass Paul Singer seine ersten Wahlkämpfe und Wahlerfolge in Berlin der 1870er Jahre in einem schwierigen Umfeld zu bestehen hatte:
„Der Wahlkampf war von heftigen Auseinandersetzungen zwischen der liberalen Mehrheit und der konservativantisemitischen „Berliner Bewegung“ des berüchtigten Hofpredigers Adolf Stöcker geprägt, deren aggressive antisemitische Stimmungsmache schon seit Ende der 1870er-Jahre das politische Klima in Berlin vergiftete. Singers Kandidatur stellte für letztere eine Provokation in zweierlei Hinsicht dar: Er war kein Proletarier, sondern ein etablierter Wirtschaftsbürger, und er war Jude.“ (5)
Wer diese Feuertaufe bestehen konnte, hatte auch innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung das Zeug für Führungspositionen.
„Seit 1886 Mitglied, seit 1890 Vorsitzender des Fraktionsvorstands, wurde er einer der einflussreichsten sozialdemokratischen Parlamentarier vor und hinter den Kulissen des Reichstags. Seit 1887 amtierte er bei fast allen Parteitagen, und war schließlich ab 1890 Ko-Vorsitzender der wieder legalen Partei (seit 1892 mit Bebel) sowie – last but not least – ein Pionier der sozialdemokratischen Kommunalpolitik.“ (6)
Besonders dieser kommunalpolitische Aspekt und Einsatz war Singer sehr wichtig, was z.B. auch daran zu sehen ist, dass er sich schon früh für das erste Berliner Obdachlosenasyl aktiv einsetzte; – eigenartig, dass auch noch im Jahr 2023 derartige Einrichtungen notwendig sind (ähnlich die „Tafeln“): Ausdruck des Versagens anderer gesellschaftspolitischer Akteure und Institutionen auf Bundes- wie Landesebene.
„Für ihn war der Kampf um die politische Emanzipation der Arbeiterklasse entscheidend – für die jüdische Minderheit wünschte er eine vollständige Assimilation in einer sozialistischen Gesellschaft.“
Von 1884 bis zu seinem Tod war Singer Reichstagsabgeordneter, also über ein Vierteljahrhundert.
Bedenkt man, dass laut Artikel 32 der Reichsverfassung von 1871 die Abgeordneten bis zur Änderung im Jahre 1906 weder Besoldung noch Entschädigung für ihr Amt erhielten, war dies sicherlich kein normaler Beruf zum „Broterwerb“, sondern erforderte neben einer ökonomisch unabhängigen Stellung eine Menge Enthusiasmus und Begeisterung für die politischen Ideen bzw. Ziele und besonders für die Menschen, die man repräsentieren wollte.
Daher stellten zusätzliche Belastungen der parlamentarischen Arbeit erst recht hohe Anforderungen an die davon betroffenen Abgeordneten.
Außerdem war er ab 1892 neben August Bebel einer der Ko-Vorsitzenden der SPD (ab 1890 schon mit dem weniger bekannten Alwin Gerisch).
August Bebel, zusammen mit Wilhelm Liebknecht, waren unbestritten die Aushängeschilder in der deutschen Sozialdemokratie (vielleicht insgeheim bis heute) und auf jeden Fall die Hassfiguren der konservativen Mehrheitsgesellschaft im Deutschen Reich unter Wilhelm II.
Unvergessen dürften Bebels Aussagen sein: »Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben« oder »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!«. (7)
Doch eine erfolgreiche Politik bzw. Parteiarbeit konnte damals nur gelingen mit aktiven und loyalen Männern in der zweiten Reihe; hierzu zählte ganz besonders Paul Singer.
II) Singer und die Zeit des Sozialistengesetzes
Als Paul Singer zum ersten Mal in den Reichstag gewählt wurde, galt bereits seit einigen Jahren das sog. Sozialistengesetz, das im Oktober 1878 erlassen worden war.
Dieses eigenartige „Ausnahmegesetz“ sollte zwar „sozialistische Umtriebe“ verhindern, aber nicht die Wahl sozialdemokratischer Politiker in die Parlamente der Länder bzw. in den Reichstag.
Das bedeutete also, dass zwar „Wahlkampf“ unterbunden, zumindest stark reglementiert werden konnte, was in aller Regel auch mit äußerster Härte geschah, aber nicht die Wahl bzw. die Entsendung sozialdemokratischer Abgeordneter (gleichsam als Privatpersonen) in die Parlamente; zumindest als Reichstagsabgeordnete genossen sie dann auch – meist stark eingeschränkt – Immunität im Sinne von Art. 31 der Reichsverfassung von 1871. Dessen ungeachtet, galten die Sozialdemokraten in der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft der 1880er Jahre im Deutschen Kaiserreich als „Reichsfeinde“ (was teilweise bis 1918 und noch darüber hinaus fortwirkte). Historisch wie politisch wirft dies natürlich einige Fragen auf:
Vor dem Hintergrund, dass Bismarcks Versuche, 1877 im Reichstag eine neue Steuer- und Zollpolitik (Abkehr vom liberalen Freihandelsgedanken) durchzusetzen, gescheitert waren und 1878 mal wieder Wahlen zum Reichstag anstanden, kam in Otto v. Bismarck der alte Machtpolitiker (wie in den 1860er Jahren) offen zum Vorschein: „Schon vor der Wahl hatte Bismarck, zunächst vergeblich, versucht, eine neue innenpolitische Front aufzubauen. Im neuen Reichstag unterstützten die Konservativen und Nationalliberalen dieses Vorhaben mit dem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21.10.1878 (…).
Es verbot einschlägige Vereine, Versammlungen und Druckschriften und schuf ein umfangreiches Kontrollinstrumentarium. (…) Sicher war die Revolutionsfurcht der führenden sozialen Klassen größer. Aber begreiflich wird der jetzt wiederum in Gang gesetzte große Unterdrückungsaufwand des Staates nur, wenn man die Sozialistengesetzgebung als ein Stück gewaltsamer Integrations- und Disziplinierungspolitik des neuen Staates begreift. Diese stieß freilich auch hier rasch an Grenzen. Gewählt werden konnten die verfemten Sozialdemokraten nach dem geltenden Persönlichkeitswahlrecht weiterhin.“ (8)
Bismarck, der zwar einerseits eine (kurze) innige „Brieffreundschaft“ mit Ferdinand Lassalle, der 1863 den Vorläufer der späteren SPD gegründet hatte und eine Art „Intimfeind“ von Karl Marx war, pflegte, andererseits aber immer ein Feindbild brauchte (z.B. Frankreich unter Napoleon III., dann den politischen Katholizismus und anschließend die politisch organisierte Arbeiterklasse), setzte nach der Reichsgründung grundsätzlich auf das Prinzip der „negativen Integration“.
Dazu musste jeweils eine bestimmte, genau abgrenzbare Bevölkerungsgruppe gleichsam als Außenseiter herhalten, um die restliche „Mehrheitsgesellschaft“ gegen diese zusammenzuschweißen.
Zwar war Bismarck zu intelligent und aufgrund persönlicher Freundschaften zu einflussreichen jüdischen Bürgern der gehobenen Gesellschaft auch privat involviert, um offen antisemitisch zu agieren (dies wird ihm kein Historiker vorwerfen können), doch lieferte er (zumindest unabsichtlich) die Blaupause für spätere politische Bewegungen und Richtungen, die dann ganz offen und ungeniert gegen ihre deutschen jüdischen Nachbarn hetzen konnten; ein erster Vorgeschmack war der „Berliner Antisemitismussteit“ Ende der 1870er Jahre (ein besonderer Exponent war hierbei bekanntlich Heinrich v. Treitschke).
Von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit dieser Facetten Bismarckscher Innenpolitik ganz abgesehen, war er aber auch erfolgreich mit dem Versuch, die politische Arbeiterbewegung kleinhalten zu wollen?
Exkurs: „Das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“
Um die eben aufgeworfene Frage mit einem älteren deutschen Historiker zu beantworten, eine etwas längere Wiedergabe einer fachlich zutreffenden Beschreibung:
„Noch schwerer als der Mißerfolg im Kulturkampf wog die Niederlage, die Bismarck in seiner zweiten großen innenpolitischen Auseinandersetzung nach 1870 erlitt. Das Sozialistengesetz hatte das Ziel, die Arbeiter von ihrer sozialistischen Führung zu trennen, und stellte zu diesem Zweck beide unter Ausnahmerecht. Aber es trug den »Stempel brutaler Klassenherrschaft« an sich (G. Schmoller) und erwies sich deswegen als ein Versuch am untauglichen Objekt. Daß er gelingen würde, konnte nur glauben, wer die Lebensverhältnisse und die Bewußtseinslage der Industriearbeiter so wenig kannte wie Bismarck. Um diese größte Fehlleistung seiner politischen Laufbahn nur einigermaßen zu verstehen, muß man sich die Situation vergegenwärtigen, aus der sie entsprang. Erst Marx in London, dann Bebel im Reichstag hatten die Pariser Kommune für den Sozialismus, das Proletariat, die Internationale in Anspruch genommen (…).
Mußte aber eine Partei, die sich zur Kommune bekannte, nicht vollkommen revolutionär, auf den gewaltsamen Umsturz von Verfassung und Gesellschaftsordnung ausgerichtet sein? Als unmittelbarer Anlaß kamen zu dieser Überlegung zwei Attentate auf den alten Kaiser. Sie entsprangen vielleicht – sicher ist nicht einmal das – anarchistischem Ideengut. In Erinnerung an die Kommune wurden sie fast allgemein der Sozialdemokratie angelastet, sehr zu Unrecht; denn diese stand dem Anarchismus von Grund auf feindselig gegenüber. Das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, das Bismarck nach dem zweiten Attentat gegen erhebliche Widerstände durchsetzte, war (…) außerordentlich scharf und gänzlich unliberal, insofern es die Partei und den einzelnen der Willkür und Schikane von Staatsanwalt und Polizei weitgehend auslieferte; Geld- und Gefängnisstrafen und zahllose Ausweisungen waren das Kennzeichen des Kampfes. Auch ein Teil der Unternehmer (…) leisteten zu ihm einen unschönen Beitrag, indem sie durch gegenseitige Abrede die Beschäftigung sozialdemokratischer Arbeiter zu unterbinden versuchten.
Die Wirkung des Gesetzes und der wirtschaftlichen Kampfmaßnahmen war der Absicht genau entgegengesetzt. Der harte Druck erzeugte große Erbitterung und eine Welle von Solidarität unter den Arbeitern; je mehr sie sich als Klasse vom bürgerlichen Klassenstaat bekämpft und verfolgt fühlten, um so enger schlossen sie sich um ihre Führer zusammen. Die Stimmen und Reichstagsmandate der Sozialdemokratie stiegen trotz oder gerade wegen der Verfolgung stark.“ (9)
Um den zuletzt zitierten Punkt etwas zu untermauern, muss man die eigentliche Meinung bzw. Absicht Bismarcks besser kennen, denn dieser wollte eigentlich das totale Verbot der Sozialdemokraten. In einem Brief an einen ihm untergebenen Mitarbeiter aus dem August 1878 (zwei Monate bevor das „Sozialistengesetz“ verabschiedet wurde) wurde der Reichskanzler hierzu sehr deutlich, als er den bis dahin in den Ausschüssen behandelten Gesetzesentwurf scharf kritisierte:
„Ferner bedarf das Gesetz meines Erachtens eines Zusatzes in betreff der Beamten dahingehend, daß Beteiligung an sozialistischer Politik die Entlassung ohne Pension nach sich zieht. Die Mehrzahl der schlecht bezahlten Subalternbeamten in Berlin, und dann der Bahnwärter, Weichensteller und ähnlicher Kategorien sind Sozialisten, eine Tatsache, deren Gefährlichkeit bei Aufständen und Truppentransporten einleuchtet. Ich halte ferner, wenn das Gesetz wirken soll, für die Dauer nicht möglich, den gesetzlich als Sozialisten erweislichen Staatsbürgern das Wahlrecht und die Wählbarkeit und den Genuß der Privilegien der Reichstagsmitglieder zu lassen. (…)
Die Vorlage, so wie sie jetzt ist, wird praktisch dem Sozialismus nicht Schaden tun, zu seiner Unschädlichmachung keinesfalls ausreichen (…).“ (10)
Aus diesen brieflichen Aussagen erkennt man die wahren Hintergründe, Ansichten und auch Absichten Bismarckscher Innenpolitik. Ein bezeichnendes Licht wird dabei auch auf den Beamtenstatus der sog. „Subalternbeamten“ (heute einfacher oder mittlerer Dienst) geworfen; wenn man Bismarck hier genau liest, hat es derartige Berufsgruppen mit Beamtenstatus eigentlich gar nicht gebraucht (heute werden – endlich – die meisten Beschäftigten im Öffentlichen Dienst im Angestelltenverhältnis geführt, sind somit auch viel einfacher kündbar und der blanke Unsinn von den „wohlerworbenen Rechten“ hat ausgedient).
Bekanntlich konnte sich Bismarck mit seiner sturen Haltung – im Ergebnis zumindest – nicht durchsetzen. Auch die von ihm als eine Art Doppelstrategie gedachte „Sozialgesetzgebung“ (ab 1881 wurden erstmals in Europa verschiedene Versicherungszweige eingeführt, die heute als Grundlage des geltenden Sozialversicherungssystems anzuerkennen sind), hatte zunächst noch nicht richtig gezündet:
„Die von Bismarck bezweckte Wirkung der Sozialgesetzgebung auf die Arbeiter blieb unter diesen Umständen zunächst vollkommen aus. Um 1890 war er bei den Arbeitern so verhaßt wie um 1863 bei den liberalen Bürgern. Erst nach seinem Sturz, nach Beseitigung des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie ist die erhoffte Wirkung doch noch eingetreten: ohne die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, freilich auch ohne ihre Erweiterung unter Wilhelm II. wären Revisionismus und Reformismus in der deutschen Sozialdemokratie nicht möglich geworden.“ (11)
Bis zum endgültigen Auslaufen der beschriebenen Maßnahmen im Herbst 1890 war die politische Arbeit der Sozialdemokraten und auch ihr privates Leben extrem schwierig.
Alle diese Einzelaspekte treffen auf Paul Singer, der zwar ab 1887 als „Privatier“ zumindest wirtschaftlich ausgesorgt hatte, zu; denn natürlich blieb er ebenfalls von den negativen Auswirkungen des Sozialistengesetzes nicht verschont.
Unter den unwürdigen Bedingungen des Sozialistengesetzes hatte auch er des Öfteren zu leiden: 1886 wird er auf Grund dieses Gesetzes aus Berlin ausgewiesen, weil er in einer Reichstagsrede einen Polizeiagenten entlarvt hatte, der organisierte Arbeiter zu Terroranschlägen verleiten sollte.
Ein Jahr später widerfuhr ihm die Ausweisung erneut, diesmal aus dem hessischen Offenbach – trotz seines Mandats als Reichstagsabgeordneter.
„Ausweisung“ bedeutete ein Verbot, dort zu wohnen bzw. sich überhaupt aufzuhalten! Erst ab 1890 konnte Paul Singer wieder legal in Berlin leben.
Daran sieht man, welche gravierenden Auswirkungen die damalige Innenpolitik im Kaiserreich haben konnte.
III) Friedhof der Märzgefallenen
Wie an anderer Stelle ausgeführt, jährten sich 2023 zum 175. Mal die revolutionären Ereignisse von 1848. (12)
Hierbei lässt sich trefflich streiten, an welchem Ort die Erinnerungen an die gescheiterte Revolution besser aufgehoben sind: Berlin oder Frankfurt am Main.
In die Frankfurter Paulskirche zieht es die heutigen Politiker besonders deswegen, weil man die damaligen Verfassungsberatungen gerne als Beginn einer Kontinuitätslinie „Frankfurt 1848 – Weimar 1919 – Bonn 1948/49“ betrachten möchte. Auf den ersten (oberflächlichen) Blick nachvollziehbar, hat doch der auf Herrenchiemsee bzw. im Parlamentarischen Rat entwickelte Grundrechtekatalog des geltenden Grundgesetzes große Ähnlichkeit mit dem Abschnitt VI der Paulskirchen-Verfassung 1849 (Die Grundrechte des deutschen Volkes).
Allerdings war im Spätsommer/Herbst 1948 unter den Teilnehmern des Konvents bzw. Rates die damals jüngste Vergangenheit nach wie vor viel zu präsent, um verfassungsgeschichtliche Seminare zu veranstalten. Die extrem belastete und belastende NS-Vergangenheit lag wie ein düsterer Schatten auf den jeweiligen Teilnehmern. Insoweit glaubhaft „Kontinuität“ konstruieren zu wollen, ist weit hergeholt (und könnte durchaus als eine der frühen Lebenslügen der jungen BRD gewertet werden). Außerdem ist relativ einfach zu erklären, warum die heutige Politikergeneration lieber die Paulskirche als Vorbild bzw. Deutungsmuster für die politische Struktur der Bundesrepublik heranzieht: Die in der Frankfurter Nationalversammlung aktiven Parlamentarier haben die Anfänge des heutigen Parteienstaates (Art. 21 GG) vorgegeben. Anders gewendet: Welcher Berufspolitiker würde sich mit zerrissenen Kleidern auf einer Barrikade am Berliner Schloss- oder Alexanderplatz positionieren, um der Toten des 18. März 1848 in Berlin zu gedenken? Und hier kommt Paul Singer wieder zur Geltung: Die knapp 300 toten Berliner (inkl. 11 getöteter Frauen und 10 Kinder), die der unüberlegte und brutale Militäreinsatz am 18. März 1848 verursachte, mussten ja halbwegs würdig beerdigt werden. Die ersten Beisetzungen erfolgten am 22. März auf dem heutigen Friedhof im Volkspark Friedrichshain, der schnell den Namen „Friedhof der Märzgefallenen“ erhielt. (13) Dieser gilt zumindest im volkstümlichen Sinne bis heute als Symbol der deutschen Demokratiebewegung.
Aber als Gedenk- und Feierstätte war er lange Zeit verboten, die preußischen Sicherheitskräfte überwachten mit Argusaugen, ob sich am 18. März jedes Jahr verbotene Ansammlungen bildeten, wenn Menschen also ihre Anteilnahme mit den getöteten Bürgern und Bürgerinnen Berlins ausdrücken wollten.
Besonders innerhalb der Berliner Arbeiterschaft entwickelte der Friedhof der Märzgefallenen identitätsstiftende Wirkung, daher auch die Angst der Obrigkeit vor den eigenen „Untertanen“.
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mehr als ein halbes Jahrhundert nach den blutigen Ereignissen vom März 1848, erhielt dieser Friedhof die ihm gebührende Bedeutung (aber nur bis zum Ende der Weimarer Republik – in der NS-Zeit fristete er erneut das Dasein eines Mauerblümchens).
Nach der Teilung Berlins im Spätsommer 1945 befand sich der Friedhof nunmehr im sowjetischen Sektor, wurde auch als Symbol der Arbeiterbewegung und auch der (sowjetischen) Novemberrevolution gepflegt.
Aufgrund der Wiedervereinigung wurde auch dieser öffentliche Platz neu gestaltet und für öffentliche Gedenkfeiern zugänglich gemacht. Ab 1995 konnte sich der auf private Initiative entstandene Paul-Singer-Verein besonders engagieren. (14)
IV) Fazit
Als Paul Singer 1911starb, gab es anlässlich seiner Beerdigung auf dem Zentralfriedhof Lichtenberg in Berlin-Friedrichsfelde eine beeindruckend große Anteilnahme unter der Berliner Bevölkerung (es wird von bis zu einer Million Trauernden gesprochen); deutlich mehr als beim Begräbnis August Bebels zwei Jahre später in Zürich.
Wie bereits kurz angerissen waren die Reichstagswahlen von 1912 die mit Abstand erfolgreichsten für die SPD; lediglich bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 konnten die Sozialdemokraten einen höheren Prozentsatz erringen – durfte Paul Singer daher zufrieden sein? Schaut man etwas genauer hin, fällt die Antwort doch eher ernüchternd aus: Die SPD konnte vor 1914 – trotz herausragender Persönlichkeiten – das Abgleiten Deutschlands in den Strudel des globalen Imperialismus nicht verhindern, so dass der Ausbruch der „Großen Krieges“ doch nur eine Frage der Zeit war. (15)
Der noch Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Alldeutsche Verband hatte um 1910 eine breite Basis an Mitgliedern und Unterstützern. (16)
Deren Propagandawirkung und Agitationsfeld ging sogar so weit, dass aus diesem Kreis 1912 der sog. „Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“ hervorging. Für führende Sozialdemokraten wie Bebel, Clara Zetkin oder eben auch Paul Singer waren solche Entwicklungen im gesellschaftspolitischen Establishment des ausgehenden Kaiserreichs ein Schlag ins Gesicht.
Um so wichtiger wäre es gewesen, wenn die künftige Führungsriege der SPD um Ebert, Scheidemann, und bis 1917 auch Haase, die von Singer vorgelebten Eigenschaften und Ideen weitergegeben hätten.
Denn es waren seine persönlichen Stärken, die Paul Singer prädestinierten, während der Verbotszeit als Vertrauensmann der illegalen Parteileitung in der Reichshauptstadt zu fungieren. Hier zeigten sich nun schnell seine Stärken: Durchsetzungs- und Integrationsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, persönliche Unbestechlichkeit und nicht zuletzt auch agitatorisches Talent. Die Sozialdemokratie hatte in den 1880er Jahren nur wenige Persönlichkeiten aufzuweisen, die solche Qualitäten besaßen.
All dies führte daher auch zu einer unverbrüchlichen Vertrautheit und Verbundenheit mit Bebel und Wilhelm Liebknecht.
Loyal, prinzipienstark und prinzipientreu, Singer hatte stets einen eigenen Standpunkt, den er auch dann zu vertreten wusste, wenn dadurch Nachteile oder auch Beleidigungen etc. resultierten.
Nicht zuletzt Paul Singer ist es zu verdanken, dass aus rechtlosen Proletariern gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger wurden. Er hat zu seiner Zeit die Fackel der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität entzündet und weitergetragen. (17)
„In diesem Sinne war ihm die eigene Herkunft letztlich nicht wichtig, wie er 1883 bei der Wahl zur Berliner Stadtverordneten-Versammlung postulierte: »Meine Kandidatur (…) gibt die Gewissheit, dass die Arbeiter auch in Zukunft die Gleichheit für alle hochhalten werden, dass sie nicht fragen, wer ist der Mann, sondern: wie ist der Mann.«“ (18)
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Vgl. bei Ursula Reuter, Internet-Präsenz der Friedrich-Ebert-Stiftung: https://www.fes.de/feshistory/blog/paul-singer-nicht-wer-ist-der-mann-sondern-wie-ist-der-mann
2) Auf dem Gebiet des Steuerrechts ging es Anfang des 20. Jahrhunderts um die Frage nach stärkerer direkter Besteuerung (ein allgemeines Reichs-Einkommensteuergesetz gab es nämlich im Kaiserreich noch nicht), auf Reichsebene bestanden neben den Zöllen lediglich sog. Verbrauchsteuern. Auf dem Gebiet der Außenpolitik bestanden dank der Unfähigkeit Wilhelms II. seit Ende der 1890er Jahre permanent Konflikte im europäischen Konzert der Großmächte (besonders angespannt ging es bei den beiden Marokkokrisen 1905/1911 und den sog. Balkankriegen zu). Und das Dauerthema „Wahlrechtsreform“ war nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts jahrelang ein Stein politischen Anstoßes, sondern – welch Wunder – auch noch über 100 Jahre später; Ausgang ungewiss.
3) Rosa Luxemburgs ganze Vita verdient mehr als eine Fußnote, doch an dieser Stelle kann nicht mehr geleistet werden als der Hinweis, dass ihr Verhältnis zu Deutschland sehr ambivalent war. Anfang 1898 (dank einer Scheinehe „legal“ im Deutschen Reich) begann sie ihre politische Karriere in der deutschen Sozialdemokratie als Außenseiterin, nachdem sie bereits 1896 durch aufsehenerregende Zeitungsartikel in die damals mediale Öffentlichkeit gelangte. Obwohl Bebel, Liebknecht oder auch Singer auf persönlicher Ebene Rosa Luxemburg unterstützten, gab es doch oft programmatischen Streit. Dabei isolierte sie ihre meist kompromisslose Haltung von der Parteimehrheit: in Deutschland, aber auch bei den russischen Genossen (mit Lenin lag sie oft über Kreuz, unter Stalin wäre sie sicher in Lagerhaft gekommen oder Schlimmeres). Persönliche Freundschaften pflegte sie in Deutschland eigentlich nur mit Clara Zetkin (die Beziehung zu deren jugendlichem Sohn Konstantin war im Wesentlichen körperlicher Natur) und auch zu Luise Kautsky. Die Gründe, warum sie mit den meisten deutschen Genossen auf Distanz ging, sind vielschichtig, und im Wesentlichen psychologisch bedingt. Tragisch ist besonders, dass der Befehl zur Tötung Luxemburgs (und damit auch verbunden von Karl Liebknecht) Mitte Januar 1919 aus der Reichskanzlei in Berlin gekommen ist; dies wurde noch nach dem Zweiten Weltkrieg von Waldemar Pabst (militärischer Anführer des Killerkommandos aus der Garde-Kavallerie-Schützen-Division) verklausuliert bestätigt. Als am 31. Mai 1919 der völlig entstellte Leichnam Luxemburgs aus dem Berliner Landwehrkanal geborgen wurde, dürfte in den Gräbern der alten Garde um Bebel, Wilhelm Liebknecht und Singer ein Beben entstanden sein.
4) Ohne in krude Spekulationen verfallen zu wollen, besitzt das Thema „Zustimmung der SPD-Fraktion im Reichstag zu den Kriegskrediten ab August 1914“ aber auch heute noch historische wie politische Brisanz. Natürlich weiß niemand, ob eine derartige, nahezu vorbehaltlose Unterstützung der kaiserlichen Kriegspolitik auch noch zu Lebzeiten eines August Bebel oder eben auch Paul Singers erfolgt wäre (gerade Bebel hatte ja seine Abscheu gegenüber dem preußischen Militär immer offen bekundet). Man wird bei diesem Punkt höchstens einen Vergleich zur Haltung Rosa Luxemburgs wagen können; diese hatte bekanntlich im Herbst 1913 in einer öffentlichen Ansprache in Frankfurt/M. ihre anti-imperialistische Grundeinstellung geäußert, was ihr im Februar 1914 eine Gefängnisstrafe einbrachte, die unter merkwürdigen Umständen letztlich erst im November 1918 beendet wurde, als sie auf freien Fuß kam. Die inkriminierte Rede und der Strafprozess datierten somit noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und vor Verhängung des Belagerungszustandes (als innenpolitische Kriegsmaßnahme). Viel Phantasie bedarf es also nicht, damals abzuschätzen, welchen Schikanen auch ein Bebel oder Singer ab Spätsommer 1914 ausgesetzt gewesen wären, wenn sie die damals überall vorhandene Kriegseuphorie („Augusterlebnis“) einfach abgelehnt hätten.
5) Reuter, wie Anmerkung 1).
6) Dito.
7) Zitiert nach Nettl, S. 126.
8) Willoweit, S. 304.
9) Buchner, S. 365 ff. Besonders ernüchternd muss für Bismarck das Wahlergebnis bei der Reichstagswahl 1890 für die damals noch unter dem Kürzel „SAPD“ angetretene Sozialdemokratie gewesen sein: fast 20% Stimmenanteil und 35 Abgeordnete. Bei der letzten Reichstagswahl im Kaiserreich erreichte dann die SPD sensationelle 34,8 Prozent, die immerhin 110 Abgeordnete bedeuteten. Die unter Friedrich Ebert zum Radieschen (außen blass-rot, innen wässrig-farblos) gewandelte Partei war ab 1912 zwar stärkste Fraktion im Reichstag, aber merklich an ihre „Sättigungsgrenze“ (Volker Ullrich) gestoßen.
10) Zitiert aus dem Brief an Geheimrat Tidemann vom 15.08.1878, s. Bismarck, S. 415f.
11) Buchner, S. 368.
12) Mein Beitrag: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/revolution-1848-scheitern-misserfolg/
13) Im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_der_M%C3%A4rzgefallenen
14) Trägerverein des Gedenkortes Friedhof der Märzgefallenen ist der Paul Singer Verein. https://paulsinger.de/der-verein/ außerdem: https://www.friedhof-der-maerzgefallenen.de/ausstellung
15) Viele Historikergenerationen seit 1914 haben sich mit der Frage der Kriegsursachen und damit auch der Kriegsschuld beschäftigt. Ob nach den ganzen Entwicklungen in der Außenpolitik unter Wilhelm II. ein Kriegsausbruch überhaupt zu verhindern gewesen wäre (der als Außenpolitiker nahezu geniale Bismarck hatte ja keinen würdigen Nachfolger gefunden), muss wohl leider bezweifelt werden, da ja auch andere europäische Mächte an der Zuspitzung (wie der Julikrise) beteiligt waren. Zumindest konnte auch die (europäische) internationale Arbeiterbewegung nichts zur Friedenssicherung beitragen; als der Erste Weltkrieg einmal ausgebrochen war, verfielen fast alle „Sozialisten“ in ihre jeweilige nationale Kriegsbegeisterung (sehr zum Leidwesen Luxemburgs und weniger anderer Genossen).
16) Vor hundert Jahren „Alldeutsch“ heute „AfD“?
17) Vgl. H.-J. Vogel, am Ende seines Beitrags.
18) Reuter, wie Anmerkung wie 1).
Literaturhinweise
Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen, als Taschenbuch 1962 beim Goldmann Verlag München erschienen.
Buchner, Rudolf: Deutsche Geschichte im europäischen Rahmen. Darstellung und Betrachtungen, Darmstadt 1975.
Nettl, Peter: Rosa Luxemburg, aus dem Englischen v. Karl Römer, dt. Lizensausgabe Frankfurt/M. u.a. 1968
Reuter, Ursula: Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004.
Reuter, Ursula: https://www.fes.de/feshistory/blog/paul-singer-nicht-wer-ist-der-mann-sondern-wie-ist-der-mann
Ullrich, Volker: Die nervöse Grossmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 2013 (erweiterte Neuausgabe).
Vogel, Hans-Jochen: Wer war Paul Singer? Im Internet: https://vorwaerts.de/artikel/war-paul-singer
Willoweit, Dietmar: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 4. Aufl., München 2001.