Der Angriff gegen die Sowjetunion (Unternehmen Barbarossa) und der Holocaust
- „Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird.
- Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“
Dieses Ergebnis einer Arbeitsbesprechung von Staatssekretären des Generalrats der Vierjahresplanbehörde vom 2. Mai 1941, der die militärischen und wirtschaftlichen Aspekte der Angriffsplanung koordinierte und dem die Staatssekretäre aller wirtschafts- und sozialpolitisch wichtigen Ressorts sowie der Wehrwirtschaftsgeneral des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) Georg Thomas angehörten, bildete eine wesentliche Grundlage für die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Initiiert wurde der Plan, „zig Millionen Menschen verhungern“ zu lassen, von Göring und Führungsstellen der Wehrmacht, ausgearbeitet in erster Linie von Experten des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, unter dessen Staatssekretär Herbert Backe. Er sollte zum einen die negative Ernährungsbilanz im Reich ausgleichen, dessen Getreidevorräte eineinhalb Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges entscheidend zusammengeschmolzen waren. Zum anderen sollten die Nachschubwege der Wehrmacht bei ihren geplanten gigantischen Vorstößen von allem entlastet werden, was nicht absolut notwendig erschien; d.h. die drei Millionen Soldaten sollten „aus dem Lande“ ernährt werden. Eine wesentliche Einschränkung des Nahrungsmittelverbrauchs in Deutschland galt als Tabu. Eine Situation wie im Ersten Weltkrieg, bei dem der Hunger eine Destabilisierung der „Heimatfront“ bewirkte, sollte unter allen Umständen vermieden werden. Zum Zwecke der „Abschöpfung der für Deutschland nötigen Lebensmittel“ wurde die militärische Abriegelung der Industriezonen von den landwirtschaftlichen Überschussgebieten geplant – mit der in den „Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost“ vom 23. Mai 1941 klar ausgesprochenen Konsequenz: „Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.“
Die im Generalrat der Vierjahresplanbehörde zusammengeschlossenen Staatssekretäre rechneten mit etwa 30 Millionen Hungertoten. Diese Zahl nannte nicht nur der Höhere SS- und Polizeiführer von dem Bach-Zelewski in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, sondern Göring selbst schon im November 1941 gegenüber dem italienischen Außenminister Graf Ciano. Sie wurde durch den konkreten Kriegsverlauf nach dem 22. Juni nicht erreicht. Aber auf dieser Hungerstrategie basierten Befehle, sowjetische Großstädte nicht auf klassischem militärischen Wege zu erobern, sondern mit minimalen eigenen Verlusten und ohne die dortige Zivilbevölkerung ernähren zu müssen, einzuschließen und auszuhungern – eine Vorgehensweise, die allein in Leningrad während der 900 Tage währenden Blockade ca. eine Million Menschen das Leben kostete. Die Gewinnung von Nahrungsmitteln für das Reich und seine Soldaten mit den Folgen der Entstädterung und Entindustrialisierung im Okkupationsbereich, dessen Preis die Menschen in der Sowjetunion – nicht selten mit Hunger und Tod – zu bezahlen hatten, blieb bis 1944 ein wesentliches Ziel der deutschen Besatzungspolitik. Die heutige Forschung, z.B. Hans-Heinrich Nolte, Osteuropa-Historiker an der Universität Hannover, beziffert unter Einbeziehung neuerer russischen Forschungen die sowjetischen Menschenopfer im Unternehmen Barbarossa auf ca. 27 Millionen – darunter allein sieben Millionen Hungertote hinter der Front.
Nicht verkannt werden sollte, dass Hitlers „Ostprogramm“ ein Amalgam von strategischen, ökonomischen und rassenideologischen Elementen darstellt. Dessen rassenideologische Basis hatte auch eine praktische, sozusagen für den intendierten Eroberungskrieg funktional günstige Seite. Der Kampf um „Lebensraum im Osten“ rechtfertigte den Krieg als Recht des Stärkeren zur Durchsetzung machtpolitischer und wirtschaftlicher Interessen in einer nach der vermeintlichen rassischen Wertigkeit ihrer Völker eingeteilten Welt. Für die geplante Unterwerfung der Sowjetunion war es von Vorteil, die slawischen Völker als „Untermenschen“ anzusehen. Deren entmenschlichter Status ermöglichte den Abbau moralischer Barrieren für die notwendige Entgrenzung von Gewalt im „totalen Krieg“, der zwecks Optimierung seiner Erfolgsaussichten auch mit inhumansten Mitteln geführt werden sollte. Die „Endlösung der Judenfrage“ steht in engem Kausalzusammenhang mit dieser vernichtenden Kriegführung. Der weltweit bedeutendste Hitler-Forscher Ian Kershaw fasst diesen Zusammenhang von Russlandfeldzug und Holocaust in seiner neuen jüngst erschienenen Biographie „Hitler 1936 – 1945“ wie folgt zusammen: „Es war kein Zufall, dass der Krieg im Osten zu einem Genozid führte. Das ideologische Ziel der Auslöschung des ,jüdischen Bolschewismus‘ stand im Mittelpunkt, nicht am Rande dessen, was man bewusst als einen Vernichtungskrieg angelegt hatte. Er war mit dem militärischen Feldzug untrennbar verbunden. Mit dem Anrücken der Einsatzgruppen (der SS), das in den ersten Tagen des Angriffs einsetzte und durch die Wehrmacht unterstützt wurde, war die völkermordende Natur dieser Auseinandersetzung bereits eingeleitet. Die deutsche Kriegführung im Russlandfeldzug sollte sich schnell zu einem umfassenden Völkermordprogramm entwickeln, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Hitler sprach während des Sommers und Herbstes 1941 zu seinem engeren Gefolge häufig in den brutalsten Ausdrücken über die ideologischen Ziele des Nationalsozialismus bei der Zerschlagung der Sowjetunion. Während derselben Monate äußerte er sich bei zahllosen Gelegenheiten in seinen Monologen immer wieder mit barbarischen Verallgemeinerungen über die Juden. Das war genau die Phase, da aus den Widersprüchen und dem Mangel an Klarheit in der antijüdischen Politik ein Programm zur Ermordung aller Juden im von den Deutschen eroberten Europa konkrete Gestalt anzunehmen begann“ (S.617).
Ohne hier die Entschlussbildung zur „Endlösung der Judenfrage“ nachzeichnen zu können, muss festgestellt werden, dass der historische Rahmen für die „Endlösung“ durch die Planungen des Unternehmens Barbarossa als Vernichtungskrieg gesetzt wird. In diesem Zusammenhang sollte die Tatsache mehr Beachtung finden, dass dem Entschluss, die europäischen Juden zu ermorden, die Entscheidung darüber vorausgegangen war, aus ökonomischen Gründen viele Millionen Russen verhungern zu lassen. Diese Entscheidung „erleichterte“ die Vernichtung der – zunächst sowjetischen, dann europäischen – Juden ungemein, standen sie in der Rassenhierarchie doch noch unter den Millionen dem Hungertod preisgegebenen „slawischen Untermenschen“.
Um den für die Eroberung und dessen wirtschaftliche Ausbeutung vorgesehenen „Lebensraum“ von den als überflüssig angesehenen Teilen der sowjetischen Bevölkerung freizumachen, wurden die Aufgaben von Wehrmacht, SS, Vierjahresplanbehörde bzw. deren Wirtschaftsorganisation Ost und Verwaltung nicht etwa klar getrennt, sondern eng miteinander verzahnt. Die Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Barbarossa vom 13. März 1941 übertrugen Himmler besondere Vollmachten für „Sonderaufgaben im Auftrag des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme ergeben“. Zur Erledigung dieses Auftrages wurden vom Reichssicherheitshauptamt vier besondere „Einsatzgruppen“ aus Angehörigen des SD, des Polizeiapparats und der Waffen-SS – insgesamt etwa 3000 Mann -aufgestellt. Sie hatten die Aufgabe, unmittelbar hinter der vorrückenden Wehrmacht alle tatsächlichen oder vermeintlichen „jüdisch-bolschewistischen“ Gegner zu liquidieren. Das Oberkommando des Heeres interessierte in diesem Zusammenhang vor allem die „Vermeidung von Störungen der eigenen militärischen Operationen“. Durch die SS-Einsatzgruppen wurden allein zwischen Ende Juni 1941 und April 1942 mehr als 500.000 Menschen getötet – mit den Juden als weitaus größter Opfergruppe. Nach neueren, auf umfassender Quellenbasis vorgenommenen, seriösen Schätzungen der Forschung sind von den ca. fünf Millionen am 22. Juni 1941 im sowjetischen Herrschaftsbereich befindlichen Menschen jüdischer Herkunft durch den NS-Terror und die vom ihm entfesselten Verfolgungsmaßnahmen ca. 2,8 Millionen umgekommen. Aufgrund ihrer schon zahlenmäßig begrenzten Stärke konnten die Einsatzgruppen ihre Aufgaben nur mit Wehrmachtsunterstützung durchführen. Dabei gestaltete sich die praktische Zusammenarbeit von Heer und SS hinsichtlich der Aktionen gegen die Juden so, dass die Armeeoberbefehlshaber unmittelbar nach dem Einmarsch in den besetzten Orten die Kennzeichnung und Registrierung der jüdischen Bevölkerung an ihrem Wohnsitz anordneten, so dass den Kommandos der Einsatzgruppen der Zugriff bequem möglich war. Beispielsweise wurde die größte Einzelaktion der Judenvernichtung in der UdSSR, die Erschießung von über 33.000 Menschen in der Schlucht von Babi Yar Ende September 1941, bei einer Besprechung des Befehlshabers der Einsatzgruppe C, Emil Otto Rasch, und des Befehlshabers des Sonderkommandos 4a, Paul Blobel, mit dem Stadtkommandanten von Kiew, Generalmajor Eberhardt, organisiert. Die Propagandakompanie der 6. Armee druckte 2000 Plakate, mit denen die Juden zur „Umsiedlung“ aufgerufen wurden. Heerespioniere der 6. Armee besorgten die Absperrung der Schlucht und sprengten – nachdem die Kiewer Juden dann innerhalb von zwei Tagen von Paul Blobels Sonderkommando 4a erschossen worden waren – die Wände der Schlucht ab, um die Leichenberge zu verdecken. Dass es bei dieser Wehrmachtshilfe für die SS, einer Art Beihilfe zum Holocaust, nicht blieb, sondern Wehrmachtseinheiten die „Säuberung“ des flachen Landes von Juden, getarnt als „Partisanenbekämpfung“, in eigener Regie übernahmen, hat die jüngere Forschung insbesondere für Weißrussland nachgewiesen. Wie sehr im ersten Kriegsjahr der angebliche Partisanenkampf als Rechtfertigungsfloskel zur Ermordung von Juden und sonst irgendwie „verdächtiger“ Zivilisten diente, zeigen die Liquidierungszahlen. Alleine die 707. Infanteriedivision, die dem Wehrmachtsbefehlshaber Ostland unterstand, erschoss innerhalb eines Monats von 10.940 gefangenen „Partisanen“ 10.431, hatte aber selbst bei Kampfhandlungen mit „Partisanen“ lediglich zwei Tote und fünf Verwundete zu beklagen.
Die ideologische Grundlage für diese Integration der Wehrmacht in den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg bildete, so der ehemalige Leitende Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Wilhelm Deist, „ein ausgeprägter, aggressiver Antikommunismus, ein zwar weniger aggressiver, aber um so tiefer sitzender Antisemitismus und Antislawismus, die die führenden Offiziere mit der Mehrheit der Deutschen teilten.“ Liest man die Befehle der im Osten eingesetzten Wehrmachtsstäbe, so stößt man häufig auf die Vorstellung, einem undurchsichtigen Konglomerat von Kommunisten, Juden und Kriminellen gegenüberzustehen, die es gilt, mit allen Mitteln zu vernichten. Diese Befehle wurden keineswegs nur von hitlerhörigen Nazigenerälen erteilt. So erließ beispielsweise der später als Widerstandskämpfer des „20. Juli 1944“ hingerichtete Befehlshaber der Panzergruppe 4, Generaloberst Hoepner, noch vor Ergehen des Kommissarbefehls eigenständig einen Befehl, in dem er zur „Abwehr des jüdischen Bolschewismus die völlige Vernichtung des Feindes“ forderte. Die Generäle und ihre Soldaten konnten sich der kirchlichen Unterstützung für diesen Krieg gewiss sein. Das in beiden christlichen Konfessionen eindeutig vorhandene totale Feindbild vom Bolschewismus trug zur moralischen Rechtfertigung der deutschen Kriegführung bei und förderte die Bagatellisierung der damit verbundenen ethischen Probleme.
Russlandfeldzug und Holocaust sind zwei Seiten einer Medaille, schließlich ging es bei diesem Krieg um die Vernichtung des Weltfeindes Nr.1: des „jüdischen Bolschewismus“. Zum einen in der Gestalt der Juden – mit dem Holocaust als Ergebnis; zum anderen in der Gestalt der bolschewistischen Sowjetunion – mit dem Ergebnis des „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieges“ der Geschichte (Ernst Nolte, 1963).
Autor: Wigbert Benz; Homepage zum Thema „Russlandfeldzug in Wissenschaft und Unterricht“: http://www.historiker.de/Wigbert.Benz
Literatur
Aly, Götz / Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt a.M.: Fischer (TB) 1991.
Benz, Wigbert: Das „Unternehmen Barbarossa“ 1941 – Vernichtungskrieg und historisch-politische Bildung. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Heft 66 (2000). Wochenschau Verlag, S.5-33 (Dieser Beitrag enthält alle Quellennachweise für den Online-Artikel oben.)
Benz, Wigbert: Der Russlandfeldzug des Dritten Reiches: Ursachen, Ziele, Wirkungen. Zur Bewältigung eines Völkermords unter Berücksichtigung des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a.M. 1986; 2.Auflage 1988
Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburg: Hamburger Edition 1999.
Kaiser, Wolf: Täter im Vernichtungskrieg. Berlin 2002.
Kershaw, Ian: Hitler. 1936 – 1945. Stuttgart: DVA 2000.
Müller, Rolf-Dieter / Ueberschär, Gerd. R.: Hitlers Krieg im Osten 1941 – 1945. Ein Forschungsbericht. Darmstadt: WBG 2000
Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941. Frankfurt a.M.: Fischer (TB) 1991
Weiterführende Links
Das „Unternehmen Barbarossa“ 1941 – Vernichtungskrieg und historisch-politische Bildung: http://www.friedenspaedagogik.de/service/unter/benz.htm Darstellung der fachwissenschaftlichen und didaktischen Aspekte des Themas. Mit Unterrichtsentwurf Quellen und Belegen. Online-Version des gleichnamigen Beitrags aus den „Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer“, H.60/2000, S.5-33, mit allen Quellennachweisen;
Wissenschaftliches Forum „Unternehmen Barbarossa“ beim Historischen Centrum Hagen sowie Nachrichtendienst für Historiker: http://www.historisches-centrum.de/barbarossa/index.html