Nach dem „Anschluß“ Österreichs begannen die Planungen für eine Eroberung der Tschechoslowakei. Wieder diente das Selbstbestimmungsrecht als Deckmantel für das Ausgreifen auf den Nachbarstaat. Wieder war es das Interesse an einer Machterweiterung im Südosten und an Rohstoffen und Industrieanlagen, die eigentlich hinter dem Vorhaben der „Zerschlagung der Tschechoslowakei“ standen. Hitler war nun auf eine militärische Lösung fixiert, was den Einsatz politischer Mittel nicht ausschloß. In einer Besprechung mit dem Oberkommando der Wehrmacht am 21. April nannte er dafür zwei Möglichkeiten, die ein weiteres Mal den politischen Stil des Nationalsozialismus charakterisieren: 1. „Handeln nach einer Zeit diplomatischer Auseinandersetzungen, die sich allmählich zuspitzen und zum Krieg führen“. 2. „Blitzartiges Handeln aufgrund eines Zwischenfalls (zum Beispiel Ermordung des deutschen Gesandten im Anschluß an eine deutschfeindliche Demonstration).“ Hitler zog für den Moment die zweite Lösung vor.
Die Nationalitätenproblematik der Tschechoslowakei und die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Volksgruppen waren der Hebel, mit dem die innere Zersetzung der Tschechoslowakei vorangetrieben werden sollte. Dazu erhielt der Führer der „Sudetendeutschen Partei“, Konrad Henlein, seine Anweisungen aus Berlin. In einer Besprechung mit Hitler am 28. März 1938 wurde festgelegt, Henlein solle ein Maximalprogramm aufstellen, das die tschechische Regierung nicht erfüllen könne. Im „Karlsbader Programm“ der Sudetendeutschen Partei vom 24. April wurde diese Strategie umgesetzt. Es forderte die weitgehende Selbstverwaltung der Sudetendeutschen und ihre volle Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit mit dem tschechischen Staatsvolk, was aus Berliner Sicht allerdings nur eine Durchgangsstufe für die angestrebte völlige Auflösung des tschechoslowakischen Staates bedeuten sollte. Als die tschechische Regierung den Forderungen Henleins, nicht zuletzt aufgrund des Druckes aus London und Paris, schrittweise nachgab, geriet Henlein in eine taktische Sackgasse. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Verhandlungen abzubrechen und auf einen Anlaß für eine weitere Eskalation zu warten.
Mit seiner Weisung vom 30. Mai 1938, die im Eingangssatz den Entschluß bekräftigte, „die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“, hatte sich Hitler zunehmend unter Zugzwang gesetzt. Sollte Prag nicht weiter nachgeben, blieb nur noch die Alternative zwischen einem Krieg mit einem unkalkulierbaren Risiko oder einem Abbruch der bereits eingeleiteten operativen Vorbereitungen. Um sich aus der taktischen Sackgasse zu befreien, gab Hitler auf dem Nürnberger Parteitag seinen Forderungen öffentlich Nachdruck und verlangte für die Sudetendeutschen das „freie Recht der Selbstbestimmung“.
Gleichzeitig kam es in den Sudetengebieten zu neuerlichen Unruhen. Das bewog die britische Regierung, die bislang eher hinhaltend agiert und ihr Mitspracherecht in Mitteleuropa mit der Entsendung eines Vermittlers nach Prag deutlich artikuliert hatte, zu dem Versuch, durch weitere Verhandlungen den Konflikt zu entspannen. Premierminister Arthur Neville Chamberlain (1869–1940) bot sich an, Hitler persönlich aufzusuchen. Er trat am 15. September 1938 die für ihn zu damaliger Zeit noch ungewohnte Flugreise nach Deutschland an, um Hitler in Berchtesgaden das Angebot zu unterbreiten, die sudetendeutschen Gebiete ans Reich anzugliedern und auch die französische Regierung von der Notwendigkeit dieses Schrittes zu überzeugen. Der Tschechoslowakei blieb nichts anderes übrig, als sich diesem ultimativ vorgetragenen Votum zu beugen, um nicht einem deutschen Angriff schutzlos preisgegeben zu sein. Hitler war von der Konzessionsbereitschaft Londons, das allerdings deutlich auf Gewaltfreiheit bestand, überrascht.
Appeasementpolitik
Die britische Bereitschaft zur Abtretung der Sudetengebiete war Ausdruck eines politischen Konzeptes, das unter dem Namen Appeasementpolitik als angebliches Modell für politische Leichtfertigkeit und Naivität gegenüber einer Diktatur in die Geschichte eingegangen ist. Neben den Gewissensbissen vor allem britischer Intellektueller über die Art und Weise, in der 1919 das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu Lasten der Deutschen angewandt worden war, stand ein durchaus rationales und konservatives Kalkül hinter dieser Politik.
Es war Reflex der vielfachen Belastungen eines im Niedergang befindlichen Weltreiches. Großbritannien, sowohl von der wirtschaftlichen Depression als auch von überdehnten Verpflichtungen in seinem Empire beschwert, mußte aus nationalem Interesse darauf achten, den Frieden in Europa zumindest mittelfristig aufrecht zu erhalten. Sowohl im Mittelmeer als auch im fernen Osten befand es sich in der Defensive. Eine forcierte Nachrüstung als Antwort auf die Herausforderungen durch die revisionistischen Mächte Italien, Japan und Deutschland hätte eine finanzielle Belastung bedeutet, die Großbritannien im Augenblick einer umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung im Innern nicht hätte zusätzlich leisten können.
Hinzu kam, daß die britischen Dominions ein militärisches Engagement des Mutterlandes auf dem europäischen Kontinent genauso ablehnten wie die Mehrheit der englischen Bevölkerung. Nur wenn alles unternommen würde, internationale Spannungen und Konflikte einzudämmen und am Verhandlungstisch abzubauen, so das britische Konzept, ließen sich Situationen vermeiden, die den Bestand des britischen Empire in Frage stellen würden. Unter normalen Umständen, das heißt unter der Voraussetzung nüchtern verfolgter politischer Ziele und einiger Verläßlichkeit im Umgang der politischen Führer miteinander hätte dieses Konzept durchaus zur Beilegung der Krise führen können.
Das traf aber nicht auf Hitler zu, der das englische Verhalten als Ausdruck von Schwäche deutete und beim nächsten Zusammentreffen mit Chamberlain, am 22. September in Bad Godesberg, seine Forderungen erhöhte. Nicht nur, daß er schon zuvor Warschau und Budapest ermuntert hatte, ihrerseits territoriale Forderungen an Prag zu stellen und damit die Auflösung des tschechischen Staates voranzutreiben. In Godesberg verlangte er nun eine Verkürzung der Räumungsfristen und drohte offen mit Gewalt. In seinem ungezügelten Drang zum Vabanque-Spiel hätte Hitler beinahe überreizt, denn Frankreich und die Tschechoslowakei machten mobil und Großbritannien versprach für den Fall eines militärischen Konfliktes ebenso seine Unterstützung wie auch die UdSSR, die sich nun in die Konfliktpolitik einschaltete. Hitler seinerseits ließ sieben Divisionen in die Ausgangsstellungen vorrücken, ohne daß er den Truppen den Befehl zum Angriff auf die Tschechoslowakei gab.
Überall in Europa waren das Tage und Stunden höchster Spannung, die wieder an den Sommer 1914 erinnerten. Auch im Inneren des Reiches gab es deutliche Warnungen vor einem Überziehen. Zum ersten Mal entfaltete sich unter wesentlicher Initiative von Oberstleutnant Hans Oster aus der militärischen Abwehr eine aktive Fronde von Militärs und konservativen Politikern, die den Kontakt nach London knüpften und für den Fall eines von Hitler ausgelösten bewaffneten Konfliktes seinen Sturz planten. Schon im August 1938 hatte General Ludwig Beck (1880–1944) gegen die riskante Außenpolitik protestiert, hatte aber angesichts der Wirkungslosigkeit seines Vorstoßes resigniert und sein Amt als Generalstabschef des Heeres zur Verfügung gestellt. Unabhängig davon hatte der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler ebenfalls im Sommer 1938 den Versuch unternommen, durch Kontakte mit englischen Politikern eine Front gegen Hitlers Aggressionspolitik aufzubauen.
Das waren die Anfänge des nationalkonservativen Widerstandes, der zunächst noch systemimmanent gegen die riskante Außenpolitik protestierte, aber auch bereit war, den Schritt zur Konspiration zu wagen. Auch in der Bevölkerung herrschte, wie die Lageberichte im Sommer 1938 unmißverständlich zum Ausdruck brachten, eine gedrückte Stimmung angesichts der wachsenden Kriegsgerüchte. Als die Machthaber eine kriegsmäßig ausgerüstete motorisierte Division am 27. September durch Berlin schickten, gab es keine Begeisterung, sondern nur Schweigen und Kriegsangst.
Die Münchener Konferenz
Als Chamberlain eine erneute Initiative startete und eine Überarbeitung des Zeitplanes der Räumung der sudetendeutschen Gebiete vorlegte, kam es durch die Vermittlung Mussolinis zur Münchener Konferenz am 29./30. September und damit zu einer Friedenserhaltung in letzter Minute; aber wie sich bald zeigen sollte, nur auf Zeit. Ohne Beteiligung der Prager Regierung und auch unter Ausschluß der Sowjetunion kamen Hitler, Mussolini, Chamberlain und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier (1884–1970) überein, die Sudetengebiete mit mehr als 50 Prozent deutscher Bevölkerung von der Tschechoslowakei ohne Volksabstimmung zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 1938 räumen zu lassen. Gleichzeitig mit der Räumung sollte die Besetzung durch deutsche Truppen erfolgen. Die Tschechoslowakei verlor durch diese erzwungene Amputation nicht nur wirtschaftlich und strategisch wichtige Gebiete. Mit der nun erfolgenden Autonomieerklärung der Slowakei und der Karpato-Ukraine begann auch ein innerer Auflösungsprozeß, der von Berlin aus zielgerichtet gesteuert wurde und der ein Ende des Rumpfstaates in absehbarer Zeit erwarten ließ. Auch die Grenzgarantien, die Paris und London ausgesprochen hatten, kamen zögerlich und machten deutlich, daß das weitere Schicksal des tschechischen Rumpfstaates, der aus eigener wirtschaftlicher Kraft nicht mehr lebensfähig war, nun allein von Rom und Berlin abhing.
Es verbreitete sich Erleichterung; nur Hitler war mit dem Ergebnis von München unzufrieden, denn man hatte ihm die Gelegenheit zum Losschlagen genommen. Diese Stimmung wurde noch verstärkt, als ihm am folgenden Tag Chamberlain das Angebot umfassender Konsultationen zwischen Berlin und London machte, um auf diese Weise „zur Sicherung des Friedens in Europa beizutragen“.
Vordergründig schloß das Jahr 1938 für Hitler mit einer überragend positiven Bilanz ab. Die Eingliederung des Sudetengebietes führte der deutschen Wirtschaft weitere wichtige Industriezweige, wichtige Lagerstätten für Erze, hochwertige Braunkohlevorkommen und Holzvorräte zu. Auch die sudetendeutsche Facharbeiterschaft, die ähnlich hoch qualifiziert und unterbeschäftigt war wie zuvor die deutsche, war ein willkommener Gewinn angesichts der eintretenden Engpässe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Amputation der Tschechoslowakei und vor allem die Art und Weise, wie einfach sie durch die Mischung von Druck und Konzessionsbereitschaft zu erreichen war, lösten einen Schock in Südosteuropa aus. Die Donau- und Balkanstaaten lehnten sich noch enger an Berlin an. Der großdeutsche Wirtschaftsraum, der Wunschtraum nationalsozialistischer Politiker und deutscher wirtschaftlicher Interessengruppen, war auf diese Weise weiter vorangetrieben.
Doch Hitler zeigte sich unzufrieden. Die breite Friedenssehnsucht irritierte ihn. Auch die Tatsache, daß er in München nur einen halben Sieg errungen hatte, führte dazu, daß er alles nur als ein Zwischenspiel verstand. Vorbereitungen zur Entfesselung eines bewaffneten Konfliktes, den er sich beim nächsten Mal nicht entgehen lassen wollte, begannen bereits an der Wende von 1938 auf 1939. Bei einer Rede in Saarbrücken am 9. Oktober 1938 setzte er seine Strategie der Drohungen und Werbungen fort. Die Eskalation der Vernichtungsgewalt im Inneren, durch die Reichspogromnacht vom 9. November, machte deutlich, daß das Regime einer weiteren politischen Radikalisierung zutrieb. Am 10. November, in einer Geheimrede vor den Vertretern der deutschen Presse, forderte Hitler einen radikalen Kurswechsel: weg von der Friedenspropaganda hin zur psychologischen Vorbereitung des Krieges. Die „pazifistische Platte“ habe sich jetzt „bei uns abgespielt“. Hinter den Kulissen liefen, unterstützt und administrativ vorbereitet von Offizieren, Beamten, Wirtschaftsunternehmen, bereits die militärisch-strategischen und operativen Planungen und rüstungstechnischen Vorbereitungen für den militärischen Ernstfall, ohne daß das nächste Ziel feststand.
Autor: Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamers. Auszug aus „Nationalsozialismus II“ der Schriftenreihe „Informationen zur politischen Bildung“. Mit freundlicher Unterstützung des Autors und der Bundeszentrale für politische Bildung.
Literatur
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