Kurt Pätzold: Stalingrad und kein Zurück. Wahn und Wirklichkeit, Militzke Verlag, Leipzig 2002.
Dem Autor geht es in seiner Stalingrad-Monographie weniger um die Beschreibung der Kampfhandlungen auf dem Schlachtfeld als vielmehr um die historische Verortung der Schlacht als zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts. Zu den Kampfhandlungen selbst liegen einschlägige Studien, u.a. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes vor. Die Studie Pätzolds geht dem Denken der Akteure auf den Grund. Sie konzentriert sich auf Fragen, die bis heute umstritten sind: Wovon ließen sich Hitler und seine Berater leiten, als sie im Frühjahr 1942 eine Million deutscher Soldaten auf einen extrem abenteuerlichen Feldzug schickten? Was ging in dem Armee-Oberbefehlshaber Paulus und den eingeschlossenen Generalen vor, als sie sich in aussichtsloser Lage jedes eigenen Entschlusses enthielten, ihre Untergebenen zu retten? Wie blickten die militärischen Führer, die sich in Gefangenschaft begaben und überlebten auf ihre Rolle zurück? Warum und wie gelang es den Machthabern an der Regimespitze, der politisch-psychologischen Krise, zu der sich die katastrophale Entwicklung an der Ostfront ausweitete, Herr zu werden? Daraus folgt, dass der Schwerpunkt der Untersuchung auf der deutschen Seite liegt. Nach Auffassung Pätzolds könnte die bestehende so genannte „Wehrmachtsausstellung“ durch eine zweite ergänzt werden – Thema: „Die Verbrechen deutscher Militärführer an den deutschen Soldaten“ (S.14).
Der Autor liefert keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Er erörtert deren Handlungs- und Bedingungsfelder, scheut sich aber auch nicht, die von der Forschung weitgehend ausgeblendeten (Schein-)Widersprüche im Denken der Verantwortlichen klar vor Augen zu führen. So konfrontiert er z.B. die strategischen Überlegungen des Paulus-Vorgesetzten Generalfeldmarschall Erich von Manstein auf ein „Remis im Osten“ mit dessen angeblich vorrangiger Zielsetzung die 6. Armee „herauszuhauen“. Er zeigt auf, dass letztere in der Zielhierarchie Mansteins als nachrangig anzusehen war, „auch wenn er diese Gegenrechnung auch im engen Kreis lieber nicht publik machte. Ihre denkbare Zwischensumme unterschied sich von jener nicht, die sich Hitler auf seine Weise errechnete.“ (S.77). Solche Analysen machen die Stärke des Buches aus.
Sehr klar zeichnet Pätzold die mit den realen Kräfteverhältnissen an der Ostfront immer weniger in Übereinstimmung zu bringenden Planungen der Operation „Blau“, die dann auch immer wieder geändert wurden, nach. Während zunächst die Weisung Nr. 41 die Eroberung der kaukasischen Erdölquellen erst als Abschluss der Sommeroffensive vorsah, zumindest nach Erkämpfung des Raumes von Stalingrad, wurde schließlich in der Weisung Nr. 45 vom 23. Juli 1942 festgelegt, den Angriff der Heeresgruppe A zur Eroberung Kaukasiens noch vor Erreichen der Wolga zu beginnen. Beide militärische Operationen sollten also nicht mehr nacheinander, sondern parallel zueinander durchgeführt werden. Zwar notierte damals am gleichen Tag der Generalstabschef des Heeres Halder in das Kriegstagebuch, die Unterschätzung der Möglichkeiten des Gegners nehme „groteske Formen an und werde gefährlich“ (S.192), doch die Weichen für die haltlose Überdehnung der Ostfront und die in der Tat „wahnhafte“ (siehe Untertitel des Buches) Überschätzung der eigenen Möglichkeiten generierte die militärische Planung des Feldzugs. Intensiv wertet Pätzold in diesem Zusammenhang „Hitlers Tischgespräche“ (insbesondere S.42ff.) aus.
Einen der Schwerpunkte des Buches stellt die Untersuchung der Goebbelschen Propaganda zur Umdeutung der Stalingrader Schlacht in einen für den „totalen Krieg“ mobilisierenden Heldenmythos dar. Die Möglichkeiten und Grenzen der Goebbels-Propaganda werden im Kontext der tatsächlichen Auswirkungen des für Hitler-Deutschland katastrophalen Verlaufs der Schlacht erörtert. Nach Erhebungen des SD sanken die Sympathien der Bevölkerung für Hitler im Winter 1942/43 deutlich. Immer weniger Menschen wollten die propagandistische Analogie zur Situation 1941/42 wie die Bewältigung einer angeblich neuen „Winterkrise“ hören (vgl. S.137ff). Es war nicht so sehr die Wirkung der Goebbelschen Propaganda als die Deutung der eigenen Lebensumstände, welche die Menschen veranlassten den totalen Krieg mitzutragen: So schufteten die „Unabkömmlichen“ in den Betrieben in Tag- und Nachtarbeit, da dies gegenüber dem Leiden im Hagel von Geschossen und Granaten und einem Dasein in Dreck, Schnee und Eis allemal vorzuziehen war. Da zudem die Ernährungssituation in Deutschland im Winter 1942/43 auf Kosten der hungernden und verhungernden Menschen in den von der Wehrmacht okkupierten Teilen der Sowjetunion weit besser war als jene des Jahres 1917, verfügte Hitler-Deutschland über eine materielle Basis, auf der es sich in den Augen großer Teile der Bevölkerung eben doch lohnte weiterzukämpfen. So gelang es laut Pätzold dem NS-Regime, das „Opfer“ von Stalingrad für seine Zwecke zu instrumentalisieren: „Es rechtfertigte als Vorbild jede weitere Anstrengung, jedes weitere Opfer, die – so die Verheißung – schließlich den Kriegssieg herbeiführen müssten. Diese Verheißung aber war der Haken, an den die Mehrheit der Deutschen noch immer genommen werden konnte. Sie wollte nicht verlieren. Sie wollte den Endsieg, wenn schon nicht den ganzen gedachten, so doch wenigstens eine reduzierte Variante davon.“ (S.144)
Die geschichtlichen Bedeutungen der Stalingrader Schlacht werden unter drei Aspekten erörtert: ihren konkreten Auswirkungen an der deutsch-sowjetischen Front, den Folgen für den gesamten Kriegsverlauf in Europa und schließlich ihrer Bedeutung in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei wendet er sich gegen Geschichtsdeutungen, welche die Bedeutung der Stalingrader Schlacht als Kriegswende bestreiten und als bloße Legende abwerten, die „keine kriegsentscheidende Wirkung“ gehabt habe.[1] Der Autor verweist darauf, dass zeitgenössische Umfragen in Großbritannien und den USA, ebenso wie Einschätzungen des US-Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) bis hin zu rückblickenden Einschätzungen von Historikern wie Eric Hobsbawm die gemeinsame Essenz haben: „Seit Stalingrad hat jeder gewusst, dass die Niederlage Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit war“[2]. Die Fernwirkung der Stalingrader Schlacht liegt also darin, dass „die Europäer nicht (mehr) unter dem Hakenkreuz leben mussten“ (S.157). Offen bleibt für Pätzold die Frage, ob „die Stalingrader Schlacht, die alle vergleichbaren militärischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts überragt“, nicht doch auch den Kristallisationspunkt einer auch in den Jahrzehnten danach nicht mehr kompensierbaren Überforderung der materiellen und mentalen Kräfte der in einem unvorstellbaren Ausmaß zerstörten Sowjetunion darstellt, die letztlich auch einer der Faktoren für die Implosion des Riesenreiches 1991 war. Historiker, aber auch Laien, finden in Pätzolds Studie, die durch eine umfassende Chronik abgerundet wird, eine informative, anregende und im besten Sinne auch provozierende Lektüre.
Anmerkungen
[1] Stalingrad. Ereignis, Wirkung, Symbol. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. v. Jürgen Förster, München – Zürich 1992, S.9
[2] Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Yvonne Badal, Wien 1995, S.61
Autor: Wigbert Benz. Rezensiert für: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 20 (2003)
Kurt Pätzold: Stalingrad und kein Zurück. Wahn und Wirklichkeit, Militzke Verlag, Leipzig 2002, 206 S., ISBN 3-86189-275-8.