Theorie und Empirie der „Lagerszpracha“ 1
Sprache hat nicht nur mit Kultur zu tun – sie ist Kultur! Und sei es in einem Sinne, der „Kultur“ auf den Kopf stellt: Nur in einer Sprache kann man lügen. Generell ist der Mensch durch die Sprache vom Tier unterschieden, denn nur über die Fähigkeit zur artikulierten Rede kann er sich mitteilen, Gedanken und Botschaften formulieren, kommunizieren, sich verstellen etc.
Menschen sprechen verschiedene Sprachen, innerhalb jeder Sprache gibt es viele differierende Ausdrucksarten und -ebenen: Die Hoch- und Standardsprache („Literatursprache“) findet sich vorwiegend in den Medien, während Menschen gemeinhin eine „Umgangssprache“ sprechen. Innerhalb bestimmter Landschaften spricht man Dialekte, die sich wiederum zu den Großgruppen der Regiolekte zusammenfassen lassen. Fachleute haben ihre Fachsprachen oder Technolekte, Gruppen (wie etwa Jugendliche) ihre Gruppensprachen (Jargons) oder Soziolekte, Gemeinschaften, die ihre Kommunikation „abschotten“ wollen, verwenden Geheimsprachen oder Kryptolekte. Mit der Natur und dem Wirken dieser sprachlichen Varietäten beschäftigt sich die Sprachsoziologie (Soziolinguistik), deren „Credo“ der Linguist Joshua Fishman 1965 so formulierte: „Wer spricht in welcher Sprachvariante zu wem, wo, wann, über welche Themen und mit welchen Absichten und sozialen Folgen“.
Alle diese (und weitere) Aspekte fanden sich natürlich auch in den Sprachkonventionen der KZs wieder. Wie bereits mehrfach erwähnt, waren in jedem KZ Angehörige von 35 bis 40 verschiedenen Völkern oder Volksgruppen versammelt. Jede dieser Gemeinschaften brachte natürlich ihre eigene Nationalsprache mit und innerhalb dieser die erwähnten Subsysteme: Es versteht sich von selber, daß etwa ein älterer Hochschulprofessor andere Sprachgewohnheiten und Ausdrucksformen besaß als z.B. ein jugendlicher Krimineller, auch wenn beide demselben Volk entstammten. Alle Gefangenen lebten in einer Extremsituation, die von der deutschen Sprache bestimmt wurde: Die Kommunikation mit den Bewachern erfolgte grundsätzlich auf deutsch, Lagerpost musste in deutscher Sprache abgefasst sein (schon um eine Postzensur zu ermöglichen), in allen Blöcken wurde auf die Pflicht verwiesen, deutsch zu sprechen etc. Ohne deutsche Sprachkenntnisse war ein Überleben nahezu unmöglich.
Die Dominanz des Deutschen spielte sich jedoch mehr oder minder auf der offiziell-schriftlichen high variation ab, unterhalb derer diverse nichtoffiziell-nichtschriftliche low variations existierten. Das konnte auch gar nicht anders sein, wenn man die Gemeinschaft der Gefangenen näher betrachtet. Die weiter oben erwähnte „Hierarchie“ unter ihnen, die von der SS aus rassistischen Erwägungen heraus praktiziert wurde, hatte ihre funktionalen Entsprechungen im KZ-Alltag. Man sprach anders, wenn man unter sich war, man verwendete eine Lexik, die es außerhalb des Lagers nicht gab, man warnte einander vor drohender Gefahr, man tröstete einander in schweren Momenten – und was es sonst noch Anlässe dafür gab, ein situativ variables, KZ-spezifisches, multilinguales Idiom zu reden.
Dieses Idiom bestand also, und aus ungezählten Publikationen, Glossaren, Archiv-Materialien etc. wissen wir von seiner Existenz, seiner Lexik, Phonetik, Anwendung etc. Sprachsoziologisch aber können wir es nicht eindeutig einordnen. Natürlich war das KZ-Idiom eine Sondersprache – aber was für eine? Mit jeweils leicht verändertem Blick auf Sprecher, Situationen und Absichten kommen wir zu höchst disparaten Funktionsbestimmungen, wie sie für Sondersprachen gemeinhin zutreffend sind. Das Problem ist nur, daß diese „Sprache“ alle üblichen Kriterien zugleich erfüllte, das aber nicht immer und nicht ausschließlich tat. Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Gruppe „alter Häftlinge“ (oder „alter Nummern“) unterhält sich ungestört, und was da geredet wird, kann als „Gruppensprache“ angesehen werden; ein SS-Mann tritt hinzu, vor dessen Kommen gewarnt wird („Achtzehn!“), wodurch die Sprachkonvention augenblicklich zur Geheim- oder Tarnsprache wird. Der SS-Mann hat nichts gemerkt, und es entspinnt sich eine kurze Unterhaltung über die nächsten Arbeitsschritte, und nunmehr ist die Unterhaltung rein fachsprachlicher Natur. Dieses lagertypische Nebeneinander aller denkbaren sondersprachlichen Formen macht das Wesen der „KZ-Sprache“, für die noch niemand einen wissenschaftlich schlüssigen Gesamtbegriff gefunden hat. Um 1985 hat der Verfasser, nach endlosen Debatten mit Linguisten, vorgeschlagen, den (im KZ durchaus frequenten) Begriff „Lagerszpracha“ als vierte Grundform der Sondersprachen, die situativ-variabel die anderen drei Formen einschließt, zu verwenden. Wie in der obigen kleinen Szene angeführt, kann die „Lagerszpracha“ bei Bedarf alle konstitutiven Kriterien aller Sondersprachen zu den ihrigen machen, was in graphischer Darstellung so aussähe:
Fachsprache | Gruppensprache | Geheimsprache | Lagerszpracha | |
Sachorientierte Deskription | ||||
Gruppenorientierte Integration | ||||
Tarnung, Ausschließung |
Glaubt man KZ-erfahrenen polnischen Fachleuten 2, dann war das ureigenste Kriterium der Lagerszpracha ihre Hässlichkeit: Sie war „sprachlicher Abfall“ (mierzwa j e zy-kowa), nämlich „ein pathologisches Gebilde, das hauptsächlich aus gebrochenem Deutsch und Polnisch bestand, inmitten einer Menschenmasse, die schlug und ge-schlagen wurde, wo das Böse prämiert wurde und eine Subkultur der niedrigsten Provenienz dominierte, wo ein rücksichtsloser Kampf, wenigstens den nächsten Tag zu überleben, alles beherrschte. Unter dem Aspekt der Lagerrealität ist das dortige Vokabular indessen deren logisches Produkt“.
Wie definiert man sprachliche „Schönheit“? Und kann eine Sprache „schöner“ sein als die Gemeinschaft ihrer Sprecher und die Situation ihrer Verwendung? Wichtig ist der (im letzten Satz des Zitats anklingende) Aspekt, daß sich KZ-Realität nur aus dem Widerhall der KZ-Sprachkonventionen erschließen lässt. Ein Beispiel: Die SS-offizielle Kürzel war K (onzentrations-) L (ager) AU (schwitz) O (ber-) S (chlesien), und das OS am Ende wurde von den Gefangenen als „oboz s mierci“ (Todeslager) dechiffriert. Ersetzt nicht dieser eine Ausdruck der Lageszpracha manche lange Analyse dieses Lagers? In den 1980-er Jahren hat der Verfasser jahrelang in jedem März ein, zwei Wochen im Archiv von Auschwitz gearbeitet, dabei Stapel von Dokumenten und Kassibern fotographiert (weil das einzige vorhandene Kopiergerät meist defekt war). Dabei geriet ihm auch das folgende Papier vor die Linse, das hier im originalen Aussehen und mit eigener Übersetzung wiedergegeben wird. Es handelt sich um ein Lied der Gefangenen, das in der Wortwahl und den Reimen so KZ-typisch drastisch war, daß der Sänger Alexander Kulisiewicz bei einer späteren Aufnahme nicht den Mut besaß, die originale Version zu singen. Die sah so aus:
Lied der Gefangenen des Konzentrationslagers in Auschwitz | |
Morgens Kaffee, abends Kaffe und zum Mittag etwas „Awa“ steh‘ am Morgen, steh‘ am Abend steh‘ beim Appell wie ein Penis. Ein Schlag Kaffee, ein Schlag Suppe
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Ist dieses Lied „schön“ oder nicht? In jedem Fall ist es authentisch: Ein Lied, in dem „Awa“ – eine Art Gewürz, die kochendem Wasser einen Geschmack von Fisch oder Fleisch verlieh – erwähnt ist, konnte nur aus Auschwitz stammen. Daß Ausdrücke wie huj (Penis) oder dupa (Arsch) vorkommen, die anderweitig im Polnischen nur als Flüche verwendet werden, ist ebenso verständlich: So hat man im KZ Auschwitz geredet – der Ausdruck dupa nie szklanka (= der Arsch ist nicht aus Glas, d.h. eine Prügelstrafe wird dich nicht umbringen) war im Lager ein so häufiger „Trost“, daß sich Überlebenden später an ihn als an den Satz der Lagerspzracha erinnerten. Die befohlene „stramme Haltung“ bei den stundenlangen Appellen mit einer Erektion zu vergleichen, zeugt von einem gewissen Witz – und ausgerechnet im Anblick der Kamine der Krematorien den eigenen Überlebenswillen zu beschwören, gibt dem Lied einen heroischen Unterton.
Als kurz nach Kriegsende in vielen Ländern Europas KZ-Überlebende daran gingen, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen, da geriet ihnen natürlich mancher lagertypische Ausdruck, den sie jahrelang verwendet hatten, in die Feder. Das schuf Probleme: Mochte ein Wort wie „Blocksperre“ im Deutschen noch halbwegs verständlich sein, so wurde es in einem polnischen Text völlig unverständlich, zumal in seiner flexierten Form „w blockszperze“ (in der B.) nicht einmal mehr als Germanismus zu erkennen. Also wurden solche Ausdrücke von Lektoren getilgt oder zu Glossaren am Buchende versammelt, und beide Behelfe nahmen den Texten irgendwie ihre „Seele“ fort: Was wie der Leidensbericht eines Überlebenden angelegt war, nahm sich wie die Reportage eines Außenstehenden aus.
Den umgekehrten Weg ging der Rumäne Oliver Lustig – fostul häftling (ehemaliger H.) nr. 112398 – , der 1982 ein Dicionar de lagar (Lagerwörterbuch) veröffentlichte, in welchem er seine KZ-Erlebnisse an den jeweils passenden deutschen Wörtern, von „ab“ bis „Zynismus“, festmachte. 1984 erschien davon eine ungarische Übersetzung „Lagerszótár“, und noch im Januar 2004 meinte „OTER“, eine jüdische Zeitschrift aus dem rumänischen Timi oara, es sei „ein Buch, das allen Jugendlichen zu empfehlen ist“, denn seine Methode der Darstellung schüfe einen „Prätext für neues Erinnern an das Inferno“.
Zu den lexikalischen, morphologischen, syntaktischen etc. Eigenheiten der Lagerszpracha sei auf die Analyse der Dokumente – Anhang dieses Skripts (siehe Anmerkungen) – verwiesen; hier nur ein paar Bemerkungen zu ihren Besonderheiten:
- Eine ausnehmende Schwierigkeit der Lagerszpracha liegt in der Neigung zu tarnsprachlicher Verhüllung, die auf beiden Seiten – bei den deutschen Bewachern und bei den Gefangenen – die Norm war. Wenn die Deutschen auch immer vorgaben, in den KZs eine „kriegswichtige“ Aufgabe „anständig“ zu erfüllen, so wußten sie doch, daß ihr Tun verbrecherisch war, und darum bemühten sie sich um diese Tarnung. Beispielsweise war offiziell niemals von Tötung die Rede, denn dafür benutzte man andere Ausdrücke, zumeist noch in Abkürzungen: S(onder-) B(ehandlung), N(acht und) N(ebel), R(ückkehr) U(nerwünscht) etc. Auf Seiten der Häftlinge wurden Nachrichten und Informationen oftmals so kunstvoll getarnt, daß sie die Zensur ohne Beanstandung passierten. Beispielsweise schrieben Roma einen (scheinbar) ganz normalen Brief, der mit der Zeile endete: „Extragruß von Baro Nasslepin, Elenta und Marepin“, und diese Wörter hießen „große Krankheit, Elend und Mord“. Jüdische Häftlinge schrieben ihre Nachrichten in hebräischen Buchstaben auf Notenzeilen, so daß es wie ein Notenblatt aussah.
- Ein durchgehender Zug der Lageszpracha ist ihr mehrdimensionaler lexikalischer Mischcharakter, denn in mehr oder minder „reiner“ Form schlug sie bis in die offizielle Korrespondenz der SS durch: Wenn dort z.B. zu lesen war, die neu angekommenen Häftlinge seien größtenteils „Muselmänner“, dann war das ein typischer Lagerausdruck für Häftlinge im letzten Stadium der Entkräftung. Umgekehrt benutzten Gefangene SS-offizielle Begriffe 3, da anders die Realität eines KZ nicht auszudrücken war.
- Darüber hinaus war die Lagerszpracha ein lexikalisches Gemisch der Sprachen aller Gefangenen. Natürlich spielte die Lage des jeweiligen KZ insofern eine Rolle, als etwa in Auschwitz mehr polnische Bestandteile in der Lageszpracha waren als in Dachau. Davon abgesehen, gab es in allen KZs gewisse Begriffe, die man schon in ihrem sprachlichen Zuschnitt schwer dechiffrieren kann, geschweige denn in ihren verborgenen „Wegen“: Beispielsweise war das frequente Synonym für „gut“ der Ausdruck „extra prima Saloniki“ – den jeder Häftling verwendete und keiner erklären konnte. Angeblich soll er von griechischen Gefangenen geprägt worden sein, von denen es allgemein hieß, daß sie zum Erlernen fremder Sprachen am unfähigsten gewesen seien.
- Die KZ-typische Dominanz der deutschen Sprache prägte natürlich auch die Lagerszpracha, wobei diese das Deutsche auf spezifische Art veränderte: slavische Prä- und Suffixe bei Verben, Akzentwechsel, Nasalierungen, Genusendungen, Pluralbildungen etc.
Wie zu Beginn dieses Kapitels bemerkt, ist Kultur ohne Sprache schwer vorstellbar. Andererseits erschließt sich die spezifische Lagerszpracha auch nur schwer mit den herkömmlichen linguistischen, literarischen etc. Instrumentarien. Darum sei am Ende des Kapitels angeregt, zur Erforschung der Lageszpracha die grundlegenden Parameter der political culture heranzuziehen – und sei es auf eine leicht „abwegige“ Weise. Political culture erfasst politische Faktoren wie Ideologien, Haltungen und Werte, die für eine gegebene Gesellschaft charakteristisch sind; sie hat etwas zu tun mit kollektiven Mentalitäten, die eine intellektuelle oder emotionale Basis aufweisen und bestimmend sind für die Identität einer Gemeinschaft. Alle diese Momente kann man auch – gewiß widerstrebend – für ein KZ annehmen, obwohl man damit dem landläufigen Verständnis von „Gesellschaft“, „Gemeinschaft“, „Wert“ etc. einige Gewalt antäte.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Jagoda, Zenon et al.: „bauernfuss“, goldzupa, himmelautostrada“. Zum „Krematoriumsesperanto“, der Sprache polnischer KZ-Häftlinge, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Die Auschwitz-Hefte Bd. 1-2, Weinheim und Basel 1987, Bd. 2, S. 241-258
Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz- Birkenau 1939 – 1945. Danuta Czech. (1989)
Orth, Karin: Die Konzentrationslager der SS. Sozialstrukturelle Analysen und biografische Studien. Göttingen 2000.
Orth, Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hamburg 1999.
Oschlies, Wolf: „Lagerszpracha“ – Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik, in: Zeitgeschichte (Wien) Nr. 1/1985, S. 1-27, ders.: „Lagerszpracha“ – Soziolinguistische Bemerkungen zu KZ-Sprachkonventionen, in: Muttersprache Nr. 1-2/1986, S. 98-109
Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1996.
Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors – Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998.
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem, 4.A. Frankfurt M. 2001.
Anmerkungen
(1) Nach Wolf Oschlies: „Lagerszpracha“ – Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik, in: Zeitgeschichte (Wien) Nr. 1/1985, S. 1-27, ders.: „Lagerszpracha“ – Soziolinguistische Bemerkungen zu KZ-Sprachkonventionen, in: Muttersprache Nr. 1-2/1986, S. 98-109
(2) Zenon Jagoda et al.: „bauernfuss“, goldzupa, himmelautostrada“. Zum „Krematoriumsesperanto“, der Sprache polnischer KZ-Häftlinge, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Die Auswitz-Hefte Bd. 1-2, Weinheim und Basel 1987, Bd. 2, S. 241-258
(3) Ein sehr umfangreiches Glossar dieser Terminologie findet sich bei Martin Weinmann (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem, 4.A. Frankfurt M. 2001, S. IX-LXXXVIII