Die Sportsoziologie weiß es längst: Sport und schwere Arbeit passen nicht zusammen. Wer schwer arbeitet, hat in aller Regel weder Motivation noch Kondition, Sport zu treiben. Und dieser Normalfall präsentierte sich im KZ noch mehrfach verschärft: Schwerste Arbeit, unzureichende Ernährung, ständige Bedrohung, schlechteste Bedingungen für Hygiene und medizinische Betreuung etc. schufen keinen Rahmen, in dem Sport überhaupt vorstellbar gewesen wäre.
So oder ähnlich hat es wohl auch die Forschung lange Zeit gesehen, da sie Sport im KZ mehr oder minder übersah. Dabei waren die Umstände, die für eine andere Sicht sprachen, von vornherein unverkennbar:
- In jedem KZ wurde Sport getrieben – von den SS-Bewachern, was aber die grundsätzliche Präsenz sportlicher Infrastruktur ermöglichte.
- Unter den Gefangenen fanden sich ausgesprochene Sportstars – nationale und internationale Meister, Olympiateilnehmer, Sportmediziner etc. -, die selber Sport treiben wollten oder sich in irgendeiner Weise zur Nutzung „anboten“.
- Sport konnte für die Zwecke der KZ-Aufseher eingesetzt werden – als therapeutisches Mittel zur Wiedererlangung der Gesundheit und vollen Arbeitskraft von Häftlingen, zum Abbau von Spannungen unter den nationalen Gefangenengruppen etc.
- Sport war als Disziplinierungsmittel aller Gefangenen tauglich.
Es ist den Krakauer KZ-Forschern zu verdanken, schon vor dreißig Jahren auf die Zwiespältigkeit des KZ-Sports aufmerksam gemacht zu haben. Zum einen war der zwar Teil der Lagerkultur, trat jedoch hinter Poesie, Malerei, Musik etc. weit zurück. Zum zweiten erschien nicht nur Wissenschaftlern Sportausübung im KZ als undenkbar, auch „viele Gefangene meinten, es habe im Hitlers Konzentrationslagern überhaupt keinen Sport gegeben“. Und zum dritten spielte sich der Sport im Lageralltag sozusagen in einer „Grauzone“ ab:
„Der Lagersport (sport obozowy) fügte sich offenkundig in Auschwitz-Birkenau in keine Lagerordnung ein, er entsprang spontanen Bedürfnissen der Gefangenen, war prinzipiell verboten, gelegentlich aber wieder toleriert von der SS. Lediglich der sog. »Quasi-Sport« wurde von den SS-Aufsehern gern in Form brutaler Repression eingesetzt“.
Mit anderen Worten: Den Sport gab es, weil die Gefangenen ihn wollten. Die SS-Bewacher nahmen ihn hin, weil sie entweder nichts Verdächtiges an ihm fanden oder ihn „gebrauchen“ konnten. Die Vielfalt sportlicher Interessen, Formen und Hilfsmittel ließ wiederum generelle Beschränkungen geraten zu sein – die sofort aufgehoben wurden, wenn man für sportliche Betätigung realen Bedarf hatte. Was hieß das praktisch? Aus Auschwitz wird folgende Episode aus dem Winter 1941 berichtet: Im sog. „Bauhof“ waren Hunderte Gefangene beschäftigt, die eines Tages ihren Arbeitsplatz völlig verschneit vorfanden. Die SS-Bewacher und Kapos kommandierten einfach „Hinlegen und rollen“, alle Gefangenen legten sich hin und rollten solange von einer Seite auf die andere, bis der Schnee zu einer festen Decke verdichtet war. Neu war dabei nur der unmittelbare Zweck einer Beseitigung von Wetterfolgen – die Kommandos und „sportlichen“ Übungen waren alltägliche Routine für die Gefangenen. Wie es genau mit dem Sport im KZ stand, wollten die Krakauer Forscher mittels ihrer bewährten Methode herausfinden: Sie schickten im Herbst 1972 einen entsprechenden Fragebogen an 372 Auschwitz-Überlebende und bekamen 62 Rückantworten – „davon 60 positive und zwei negative“. Die Antworten, „rund 200 maschinenschriftliche Seiten“, wurden eigentlich nicht analysiert, wohl aber redigiert und mäßig kommentiert veröffentlicht – als facettenreicher und sehr persönlicher Rapport derer, die es wissen mußten.
Relativ viele Antworten kamen aus der Psychiatrischen Klinik Krakau, wo Überlebende „im Zusammenhang mit Anträgen auf Kriegsinvalidenrente“ behandelt wurden. Die Probanden erinnerten sich vor allem an den „Quasi-Sport“, also jene „gymnastischen Übungen“, die bei Appellen und ähnlichen Gelegenheiten von Hunderten und Tausenden Gefangenen auf Befehl ausgeführt werden mußten. Die Übungen trugen harmlose Namen – „Froschhüpfen“, „Rollen“, „Entengang“, „Bärengang“ etc. -, waren tatsächlich aber sadistische Quälerei. In Polen wurde vor über 30 Jahren der Film „Prawdziwy koniec wielkiej wojny“ (Das wahre Ende des großen Kriegs) von Jerzy Kawalerowicz sehr populär, der in langen Einstellungen diese „Übungen“ ins Bild setzte, die Gefangene bis zur völligen Erschöpfung ausführen mußten. Dabei war es letztlich egal, ob die Übungen „nur“ als Gymnastik oder gleich als Strafe – für „falsche Meldung“, für „schlechtes Bettenbauen“, für „Marschieren ohne Takt“ etc. – verordnet wurden. Ein häufiges Opfer waren z.B. die Frauen der Lagerküche in Birkenau, die Weihnachten 1943 von SS-Mann Franz dazu verurteilt wurden, mit schweren Steinen in den Händen „Froschhüpfen“ um das Küchengebäude zu machen. Wurde bei diesen Übungen die Kleidungen beschmutzt, was der Regelfall war, dann folgte die Fortsetzung der Schikane: „In zehn Minuten sauber und trocken melden!“ Darunter hatten vor allem ältere Häftlinge, „Zugänge“ und Geistliche aller Konfessionen zu leiden, für die sich SS-Männer – genannt wurden immer wieder „Rapportführer“ Palitzsch und Kurpanek, „Blockältester“ Adek Rozenberg u.a. – besondere Schikane ausdachten, indem sie etwa „Laufschritt“ anordneten oder die Geistlichen bei der „Gymnastik“ noch Kirchenlieder singen ließen.
Von diesen pseudo-sportlichen Aktivitäten völlig verschieden war der „richtige“ Sport, der manchmal und selten als Demonstration inszeniert wurde, etwa wenn Journalisten oder ausländische Beobachter ein KZ besuchten. Aus Theresienstadt sind solche Besuche verbürgt, in Auschwitz dürften sie äußerste Seltenheit gewesen sein. Allerdings fanden sich in Auschwitz zahlreiche bekannte Sportler, besonders in den Anfängen des Lagers, die auch in ihrer neuen Situation nicht auf sportliche Betätigung verzichten wollten. Das wurde mehr oder minder geduldet, gelegentlich auch direkt gefördert, wie zahlreiche Berichte über Wettkämpfe im Fußball und Boxen belegen. „Favorit“ war zweifellos der Fußball, da er dazu verhalf, die stets vorhandenen „Distanzen“ unter Gefangenen und zu den SS-Aufsehern wenigstens für eine kurze Zeit zu überwinden: Unter den kibicy (Zuschauern) saßen oft auch SS-Männer. 1942 wurden erste Spiele ausgetragen, 1943/44 gab es „beinahe regelmäßige Fußballturniere“. Das lag daran, daß sich „besonders nach der Niederlage bei Stalingrad die Lagerordnung spürbar erleichterte“: „Sogar im Krematorium wurde Fußball gespielt“, aber generell diente der große „Appellplatz“ als Fußballfeld.
Die Spiele fanden meist am Sonntag statt und wurden von Teams mit neun (!) Spielern, manchmal auch nur sieben, ausgetragen: Torwart, zwei Verteidiger, drei Läufer und drei Stürmer. Überwiegend stellten die Arbeits-„Kommandos“ auch die Mannschaften, aber daneben kamen abenteuerliche Kombinationen zustande: „Krankenbau“ gegen „Block 15“, „alte Nummern“ gegen „Zugänge“, Polen gegen Deutsche (Österreicher, Franzosen, Russen) oder „jüdische Mannschaften“, und daß Kapos und Gefangene in einer Mannschaft spielten, war keine Seltenheit. Die SS schaute den Spielen interessiert zu, bedrohte aber gelegentlich den polnischen Tormann, wenn dieser bei Spielen gegen „deutsche“ Mannschaften allzu gut hielt. Die Polen, wohlbestückt mit Starspielern der berühmten Vorkriegsklubs (Cracovia, Warta, Wisla, Ruch u.a.) waren so etwas wie der „Angstgegner“ der anderen „nationalen“ Teams, und der Schrei der meist polnischen Zuschauer „Polska gol“ wirkte auf die Spieler wie „Doping“. Unter den Zuschauern war mit Czeslaw Sowul (Bild) auch der Mann, der in allen Berichten von Auschwitz-Überlebenden stets mit Hochachtung und in vielen „Rollen“ erwähnt wird: Er war Schlagzeuger im Lagerorchester und ein geborener Entertainer, der mit Witz und Schlagfertigkeit seine Mitgefangenen aufrichtete. Sowul, Häftlingsnummer 167, hat Auschwitz überlebt und später vor dem Auschwitz-Prozeß in Deutschland, 20. Dezember 1963 bis 20. August 1965, ausgesagt, jedoch nicht erlaubt, daß seine Aussage auf Tonband aufgenommen wurde. Warum nicht? Er wird seine Gründe gehabt haben. In seinem Auschwitz-Bericht schilderte Sowul die Erschießung des früheren polnischen Nationalspielers Antoni Łyko bei einer „Strafaktion“ der SS-Wachmannschaft. Boxen war die „zweite populäre Sportdisziplin“ im KZ Auschwitz. „Populär“ auch bei der SS, die mitunter an lebenden und durch Fesselung wehrlosen Gefangenen Boxschläge trainiert haben soll. Bei den Gefangenen selber ging es sportlicher zu, auch wenn die üblichen Gewichtsklassen nicht immer exakt eingehalten wurden. So konnte es geschehen, daß der Pole Kolczynski („Kolka“), vor dem Krieg Mitglied der polnischen Nationalstaffel, gegen einen konditionell und gewichtmäßig weit überlegenen Deutschen antreten mußte, was wie der „biblische Kampf David gegen Goliath“ anmutete. Aber „Kolka“ war seinem Gegner boxerisch in allen Belangen überlegen.
Ähnlich verfuhr der Boxer Tadeusz Pietrzykowski, der am 28. März 1941 gegen den deutschen Kapo Walter antrat. Bereits in der zweiten Runde traf er den Gegner so machtvoll, daß dieser eigentlich kampfunfähig war. Pietrzykowski ging zum ihn und fragte: „Was ist los, Walter?“ Der antwortete „in derselben sportlichen Art“: „Alles ist in Ordnung“ und gab den Kampf auf. Später boxte Pietrzykowski noch siegreich gegen die Deutschen Meyer und Stein, der immerhin Ex-Europameister und Deutscher Meister war. Im März 1943 wurde er auf eigenen Wunsch ins KZ Neuengamme verlegt, was ihn vor Auschwitzer Gaskammern rettete.
1944 kam es zu einem regelrechten „Nationenkampf“ Deutsche gegen Polen, den die Polen 18:2 gewannen. Die einzige Niederlage kassierte der berühmte Tadeusz „Teddy“ Sobolewski, der darüber so verärgert war, daß er von den Schiedsrichtern einen augenblicklichen zweiten Kampf forderte. Die Schiedsrichter hatten nichts dagegen, der deutsche Gegner auch nicht, so daß die Neuauflage sofort begann – die Teddy bereits in der ersten Runde durch k.o. für sich entschied. Insgesamt hat „Sobolewski in Auschwitz 37 Kämpfe ausgetragen und nur einen verloren – gegen Leo Sanders, einen holländischen Juden. Ähnlich erfolgreich war Antoni „Kajtek“ Czortek, der 1936 an der Olympiade in Berlin teilgenommen hatte. In Auschwitz boxten er und seine Kameraden um einen Kanten Brot, ein Stück Margarine, einen leichteren Arbeitsplatz etc., und zwar in Kämpfen „na smierc i zycie“ (auf Tod und Leben). Unblutiger verliefen andere Wettkämpfe, etwa in der Leichtathletik (3000- bzw. 100-Meter-Läufe, ausgetragen auf der „Hauptlagerstraße“, Hoch- und Weitsprung in eine 4 x 6 Meter Grube zwischen den Blöcken 20 und 21, Kugelstoßen etc.), im Handball, bei Schach- und Bridge-Turnieren (die Alfons Wrona in Block 14 ausrichtete), im Schwimmen und Turmspringen (in dem 1944 gebauten Feuerlöschteich, der 8 Meter breit, 25 Meter lang und ausreichend tief war) und anderes mehr.
Eine große und wachsende Bedeutung hatte schließlich der „therapeutische Sport“ (sport leczniczy), zumal bei diesem Mediziner wie Dr. Vladimír Hanák, 1936 Mannschaftsarzt des tschechoslowakischen Olympiateams, ein entscheidendes Wort mitredeten. Dieser Sport wurde auch von den „Funktionshäftlingen“ sehr geschätzt und der „Lagerälteste“ Bruno Brodniewitsch verpflichtete die Häftlinge dazu, z.B. die jungen Gefangenen der sog. „Maurerschule“. Bei der Schulung der Lagerfeuerwehr gehörte dieser Sport zum Lehrprogramm. Es handelte sich dabei um jede Art von prophylaktischen oder therapeutischen Übungen, von der Abhärtung gegen Kälte bis zur postoperativen Rehabilitierung, die die Gesundheit und Arbeitskraft der Gefangenen erhielten bzw. wiederherstellten. Die Gefangenen selber hatten daran das größte Eigeninteresse, denn allzu lange krank zu sein, vergrößerte die Gefahr, „ins Gas“ selektiert zu werden. Insofern war es verständlich, wenn Hanák und andere Fachleute regelrechte „Kurse“ organisierten, die von den Gefangenen eifrigst wahrgenommen wurden – als Mittel zur Eigen- und Kameradenhilfe.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998.
Orth, Karin: Die Konzentrationslager der SS. Sozialstrukturelle Analysen und biografische Studien. Göttingen 2000.
Orth, Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hamburg 1999.
Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1996.
Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors – Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993.
Zdislaw Ryn, Stanislaw Klodzinski: Smierc i umiranie w obozie koncentracyjnym (Tod und Sterben im Konzentrationslager), in: Przeglad Lekarski – Oswiecim Nr. 1-3/1982, S. 56-90.
Zdzislaw Ryn, Stanislaw Klodzinski: Patologia sportu w obozie koncentracyjnym Oswiecim-Brzezinka (Pathologie des Sports im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau), in: Przeglad Lekarski – Oswiemcim Nr. 1/ 1974.
Anmerkungen
1) Nach Zdzislaw Ryn, Stanislaw Klodzinski: Patologia sportu w obozie koncentracyjnym Oswiecim-Brzezinka (Pathologie des Sports im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau), in: Przeglad Lekarski – Oswiemcim Nr. 1/ 1974, S. 46-58