„Stellvertreter des Führers“, dritthöchster Würdenträger der NSDAP-Hierarchie
Rudolf Heß wird am 26. April 1894 in Alexandria (Ägypten) als Sohn eines deutschen Kaufmanns und seiner Frau geboren. 1914 meldet er sich freiwillig und kämpft zuerst in der Infanterie, später, bis zum Kriegsende als Jagdflieger. 1919 beginnt er in München ein Studium der Volkswirtschaft, Geschichte und Geopolitik. Er rezipiert vor allem die geopolitischen Thesen Karl Haushofers und wird Mitglied in der Thulegesellschaft. Im gleichen Jahr schließt er sich dem Freikorps von General Ritter von Epp an und nimmt an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik teil. Im Januar 1920 erfolgt, nachdem er Adolf Hitler reden gehört hat, sein Eintritt in die NSDAP als Mitglied Nr. 16, und er wird Führer der Studentenhundertschaft der Partei. Heß nimmt am 9. November 1923 am Hitler-Putsch teil und flieht nach seinem Scheitern in die Schweiz. Anfang 1924 kehrt er zurück und wird zu fünfzehn Monaten Festungshaft (in Landsberg am Lech) verurteilt. Dort hilft er Hitler bei der Schlußredaktion von „Mein Kampf“ und avanciert zu seinem Privatsekretär. 1927 heiratet Heß Ilse Pröhl, Adolf Hitler ist Trauzeuge. Bis 1932 hat er keinen besonderen Rang in der Partei, im Dezember des gleichen Jahres wird er zum Vorsitzenden der Politischen Zentralkommission der NSDAP, deren Spitze in Folge des Parteiausschlußes von Georg Strasser neu gegliedert wird. Seine Aufgabe ist die Überwachung der Parteiarbeit in den Ländern und Gemeinden sowie die Kontrolle des Parteipresseapparates. Nach der Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 wird er Minister ohne Geschäftsbereich und Obergruppenführer der SS. Am 21. April 1933 wird er zum „Stellvertreter des Führers“ ernannt und ist damit hinter Göring die Nr. 3 in der NSDAP-Hierarchie. Selbst ein blinder Anhänger Adolf Hitlers, dem er quasi religiöse Verehrung entgegenbringt und den er als Vaterfigur verehrt, ist er in dieser Funktion entscheidend an der Etablierung des Führerkultes beteiligt. Das Vorgehen Hitlers während des „Röhm-Putsch“ am 30. Juni 1934 billigt er kritiklos, da die SA-Führung dem Führer nicht loyal untergeben gewesen sei. Obwohl Heß zu den mächtigsten Männern des Dritten Reichs zählt, wird er aufgrund mangelnder Intelligenz und Redetalents, seiner Unsicherheit und seiner Unfähigkeit zur Intrige langsam von Martin Bormann in den Hintergrund gedrängt und nimmt hauptsächlich repräsentative Aufgaben war. Sein politischer Einfluß sinkt immer weiter, obwohl er am 4. Februar 1938 Mitglied des geheimen Kabinettsrates und am 30. August 1939 Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung wird.
Nach der verlorenen Luftschlacht um England und vor dem kurz bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion fliegt Heß am 10. Mai 1941 mit einer Messerschmitt Me 110, einem zweimotorigen Jagdflugzeug, nach Schottland. Er springt in der Nähe des Wohnsitzes des Duke of Hamilton bei Glasgow mit dem Fallschirm ab und wird von einem Bauern gefunden. Ziel seines Fluges ist es, über den Duke Friedensgespräche zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien anzuregen. Die britische Regierung geht jedoch nicht auf seinen Wunsch ein, er wird verhaftet und als gewöhnlicher Kriegsgefangener behandelt. Hitler erklärt Heß für geisteskrank, er wird allen Parteiämtern enthoben, sein Nachfolger wird Martin Bormann.
In der Gefangenschaft leidet Heß tatsächlich an Nervenkrankheiten und begeht am 15. Oktober 1941 einen Selbstmordversuch. Nach Kriegsende wird er nach Nürnberg überführt, um ihm vor dem Kriegsverbrechergericht den Prozeß zu machen. Er wird in den Anklagepunkten „Planung eines Angriffkriegs“ und „Verschwörung gegen den Weltfrieden“ schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wird, wie die anderen NS-Hauptkriegsverbrecher, in das unter Kontrolle der vier Siegermächte stehende Militärgefängnis in Berlin-Spandau gebracht. Ab dem 30. September 1966 ist er der einzige verbleibende Insasse. Gnadengesuche von Prominenten und Angehörigen, im Jahr 1984 – anläßlich seines 90. Geburtstags – sogar von der Bundesregierung, werden wegen des sowjetischen Vetos abgelehnt. Am 17. August 1987 begeht Heß Selbstmord und wird in Wunsiedel beigesetzt.
Autor: Fabian Grossekemper
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage / Manon Eppenstein- Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999
Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt/Main 2003
Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker. Militzke Vlg., Leipzig 1999.
Rudolf Heß: Botengang eines Toren? Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941. Rainer F. Schmidt. , München 1997.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998