Die „Reichspogromnacht“, auch bekannt als „Kristallnacht“ oder „Novemberpogrome“, war ein düsteres Kapitel in der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands, das sich am 9. und 10. November 1938 ereignete. Dieses Ereignis markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der Verfolgung der Juden und leitete eine Phase systematischer Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung ein. Als Historiker ist es unsere Aufgabe, die Hintergründe, den Verlauf und die Konsequenzen dieser schrecklichen Ereignisse zu beleuchten.
Die Reichspogromnacht wurde durch den Mord an Ernst vom Rath, einem deutschen Diplomaten in Paris, ausgelöst. Am 7. November 1938 erschoss der siebzehnjährige deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan vom Rath in einem verzweifelten Akt der Rache. Grynszpan hatte von der Deportation seiner Eltern, die von der Gestapo zur deutsch-polnischen Grenze verschleppt worden waren, erfahren und handelte aus Verzweiflung über ihr Schicksal. Vom Rath erlag seinen Verletzungen am 9. November 1938, und dieses Attentat wurde von der nationalsozialistischen Führung als Vorwand für die Pogrome genutzt.
Die Pogrome begannen in der Nacht vom 9. auf den 10. November und erstreckten sich über das gesamte Deutsche Reich. Joseph Goebbels, der Propagandaminister des NS-Regimes, spielte eine zentrale Rolle bei der Schüren von Hass und Gewalt. In einer wütenden antisemitischen Hetzrede heizte er die Stimmung an und kündigte weitere Ausbrüche des „Volkszorns“ an. Die nationalsozialistische Führung gab de facto grünes Licht für die Gewalttaten, und Gauleiter und SA-Trupps leiteten die Aktionen vor Ort.
Die Bilanz der Reichspogromnacht war verheerend. Über tausend Synagogen wurden angezündet oder zerstört, mindestens 8.000 jüdische Geschäfte wurden geplündert und verwüstet, und zahlreiche Wohnungen wurden demoliert. Zwischen 90 und 100 Juden wurden getötet, niedergestochen oder zu Tode geprügelt. Es entstanden Millionenschäden an zerstörten Geschäftseinrichtungen und Schaufensterscheiben. Dieser Gewaltausbruch wurde bald als „Reichskristallnacht“ bezeichnet, was die Zerstörung von Schaufenstern und die Trümmer, die auf den Straßen lagen, symbolisierte.
Die Pogrome bedeuteten eine dramatische Verschärfung der Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland. In den Tagen nach den Pogromen wurden etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Obwohl diese Aktion auf wenige Wochen beschränkt blieb, verursachte sie eine Katastrophe für die bürgerliche Existenz und das Selbstverständnis vieler Juden.
Die Reaktion der Bevölkerung auf die Pogromnacht war gemischt. Während nur eine Minderheit sich an den Plünderungen und Brandstiftungen beteiligte, zeigte die Mehrheit der Deutschen sich schweigend, eingeschüchtert oder angewidert von den Gewalttaten. Einige mutige Menschen zeigten jedoch Mitgefühl und halfen den gepeinigten jüdischen Mitbürgern.
Die Reichspogromnacht war ein zentraler Wendepunkt auf dem Weg zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden während des Holocaust. Sie verdeutlichte die Brutalität und Gewaltbereitschaft des nationalsozialistischen Regimes und zeigte, dass die Diskriminierung und Verfolgung der Juden in offene Gewalt umschlagen konnte. Die internationale Gemeinschaft reagierte empört auf die Nachrichten von den Pogromen, was jedoch keine spürbaren politischen Konsequenzen nach sich zog. In den Jahren danach verschärfte sich die Verfolgung der Juden weiter, und es wurden immer mehr restriktive Gesetze erlassen. Die nationalsozialistische Ideologie des Antisemitismus trieb die Verfolgung auf immer abscheulichere Weisen voran.
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999
Döscher, Hans-Jürgen: Reichskristallnacht. Die Novemberpogrome 1938. Berlin 2000.
Walter H. Pehle: Der Judenpogrom 1938. Von der ‚Reichskristallnacht‘ zum Völkermord. Fischer-TB.-Vlg.,Ffm.
Hermann Graml: Reichskristallnacht. Taschenbuch DTV, Mchn.
Hans-Jürgen Döscher: Reichskristallnacht. Die Novemberpogrome 1938. München 2000.
Max Eschelbacher: Der zehnte November 1938. Essen 1998.
Siehe auch der NDR-Beitrag „Angeordneter Terror„