Es war der erste Spielfilm über den Holocaust, gedreht in mehreren Sprachen nur drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Und er war Vorbild vieler Filme über das Unsagbare: Alain Resnais verwendet Aufnahmen in seinem Dokumentarfilm „Nuit et Brouillard“, Alan Pakula sieht ihn in der Vorbereitung zu „Sophie’s Choice“, Steven Spielberg erwähnt ihn in Interviews zu „Schindlers Liste“.
Regie führt Wanda Jakubowska, eine Frau, die sich seit ihrem 21. Lebensjahr mit Film beschäftigt, eine Frau, die die Oktoberrevolution in Moskau erlebt und ihr Abitur an einem katholischen Lyzeum ablegt, die Kunstgeschichte an der Universität von Warschau studiert und 1930 an der Gründung der legendären „START”- Gruppe beteiligt ist, die den polnischen Film prägen wird.
Sie dreht mehrere Dokumentarfilme, engagiert sich in der kommunistischen Partei. Sie bekommt einen Sohn, arbeitet an ihrem ersten Spielfilm, dessen Premiere 1939 nicht mehr stattfindet. Nach der Besatzung geht sie in den Widerstand, die Negative ihres Spielfilms sind verschollen. 1942 wird sie von der Gestapo verhaftet. Zunächst im Warschauer Pawiak-Gefängnis interniert, kommt sie ein halbes Jahr später nach Auschwitz. Jakubowska überlebt und dreht den ersten Spielfilm über das Vernichtungslager.
Das Erfahrene ästhetisch umsetzen
Die Vergangenheit ist nicht tot. Für die Erinnerung muss eine Form gefunden werden. Die Überlebenden ringen darum. Sie suchen nach Bildern, Metaphern, Möglichkeiten, um ihre Geschichte zu erzählen. Wanda Jakubowska hat Auschwitz erlebt. Sie hat überlebt in einer Welt, die jenseits des Denkbaren existiert. Für die sechsunddreißigjährige Regisseurin ist das Grauen gegenwärtiger Alltag. Im Film „Die letzte Etappe“ fasst sie ihre Erzählung das erste Mal filmisch zusammen. Der Plan ist im KZ gereift. Sie schreibt das Drehbuch zusammen mit Gerda Schneider, der deutschen Blockältesten, einer Kommunistin, die mit ihr in Rajsko, dem Grünen Garten von Auschwitz, interniert war.
Sie erzählen die Geschichte einer Gruppe von Frauen. Sie differenzieren nicht vorrangig nach Religion, rassischen Zuschreibungen oder politischen Ausrichtungen. Sie stellen das deutsche Personal und die KZ-Häftlinge einander gegenüber. Jakubowska zeigt die Maschinerie des Lagers mit den Mitteln des Dokumentarfilms und ikonischen Bildern wie dem Rauch über den Krematorien, dem Zug, dem Stacheldrahtverhau. Sie dreht am Originalschauplatz. Ihre Akteurinnen sind polnische und russische Schauspielerinnen. Gespielt wird in Originalsprache.
Erzählt wird die Geschichte von Marta Weiss (Barbara Drapinska), einer polnischen Kommunistin und Jüdin, die als Dolmetscherin beim Lagerkommandanten arbeitet, während ihre Familie in den Tod geht, den Widerstand im KZ organisiert und die nach einem gescheiterten Fluchtversuch hingerichtet werden soll. Während sie unter dem Galgen steht, löst sie ihre Fesseln, öffnet sich die Pulsadern und schlägt dem Lagerkommandanten (Władysław Brochwicz) ins Gesicht. Am Himmel erscheinen russische Flieger. Ob Marta Weiss überlebt, bleibt offen.
Vergessener Film, bleibende Bilder
Wer bestimmt die Erzählung? Wanda Jakubowska wusste, dass erzählt werden muss. Sie wollte berichten, darstellen, sie wollte gehört werden. Das Drehbuch entsteht gemeinsam mit Gerda Schneider in Berlin und Polen. Sie verarbeiten das Geschehene zu Bildern und Metaphern. Sie blenden die Gewalt an keiner Stelle aus, doch sie wollen einen Film schaffen, der gesehen wird.
Wanda Jakubowska stößt auf Widerstände. Film Polski lehnt ab. Jerzy Bossak, damals führend beim Filmstudio „Czołówka“, schätzt das Drehbuch, doch sieht er eher Fritz Lang, Wilhelm Pabst oder John Ford auf dem Regiestuhl, „aber keine Jakubowska“. Erst in den 1960er Jahren legt Bossak, der den Krieg in der Sowjetunion erlebte, sein „Requiem für 500 000“ vor. Aleksander Ford, Jakubowska kennt ihn vom „START“, versucht eine Kooperation mit der DEFA zu arrangieren. Doch der kurzzeitige Chefdramaturg Georg Klaren, der im Dritten Reich mit Drehbüchern wie „Clarissa“ und „Achtung! Feind hört mit“ reüssierte, distanziert sich ablehnend von der Vorstellung eines Spielfilms über Auschwitz. Ähnlich ergeht es Arthur Brauner mit „Morituri“.
Aber die Regisseurin setzt sich durch. Sie fährt nach Moskau. Stalin soll beim Lesen des Drehbuchs geweint haben. Was an den Legenden stimmt, bleibt offen, doch die Dreharbeiten werden genehmigt. Der Eisenstein-Schüler Boris Monastyrsky unterstützt sie als Kameramann. Die Kameraführung arbeitet in der Tradition der Avantgarde mit Nahaufnahmen und Totalen, viel mit spitzem Winkel, aus der Vogelperspektive und von unten. Aufnahmen aus Dokumentarfilmen der Roten Armee werden eingebaut.
Ebenso agiert die Filmmusik von Roman Palester, der handlungsinterne Musik, wie die des Lagerorchesters, integriert. Es entsteht ein eindrucksvoller Film, der in Polen und international Anerkennung findet und prämiert wird. Doch die Diskurse ändern sich. Der internationale Blick der Jakubowska ist im Polen der 1950er Jahre nicht mehr gefragt.
„Lasst nicht zu, dass Auschwitz sich wiederholt.“
In den 1990er Jahren wird „Die letzte Etappe“ neu entdeckt. Man lobt, man spricht über die Darstellung, diskutierte die Dramaturgie, kritisierte die gefundene Ästhetik als festgeschriebene Bildformeln einer gleichfalls kritisch zu sehenden Opferkultur. Zu einseitig wäre das Bild, zu wenig würden die einzelnen Opfergruppen gewürdigt, zu sehr stehe das eigene Erleben als Legitimation im Raum.
Übersehen wird dabei, dass Wanda Jakubowska eine Sprache suchte, die zwischen den Aufnahmen der Roten Armee, den puren Fakten und einer künstlerischen Aussage vermittelte. Ihr ging es zum einen um die Solidarität der Frauen, von denen sie auch in Interviews immer wieder sprach, und die sie jenseits politischer, religiöser oder nationaler Grenzen verortete, zum anderen um Information und Warnung. Der Tod von Marta Weiss steht am Ende aus. Er kann als sinnlos gedeutet werden, wenn er angesichts der Befreiung eintritt. Eben noch war er ein Akt der Selbstbestimmtheit, denn Marta Weiss wird nicht gehängt, sondern bestimmt allein über ihren Tod. In jedem Fall bleibt der Aufruf bestehen: „Lasst nicht zu, dass Auschwitz sich wiederholt.“
Ostatni etap | The Last Stage | Die letzte Etappe
Polen 1948, 109 Min.
Regie: Wanda Jakubowska
Mit: Wanda Bartówna, Huguette Faget, Tatjana Górecka, Antonina Górecka, Maria Winogradowa
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Classics