Nicht nur in Europa, dem Schauplatz der Shoah, auch in Israel gab es ein Bedürfnis nach einer juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Im August 1950 trat das israelische Gesetz zur Bestrafung von NS-Verbrechern in Kraft.
Nach dem 15. Mai 1948 wanderten rund 500 000 Überlebende der Shoah in den neu gegründeten Staat Israel ein. Ende der 1950er Jahre machten sie rund ein Viertel der israelischen Bevölkerung aus.
Sie hatten Stuben-, Block- und Lagerälteste erlebt, jüdische Gefangene in den Konzentrations- und Arbeitslagern wie sie selbst, aber als Aufsichtskräfte über die anderen Häftlinge Teil der SS- Lagerverwaltung und mit Privilegien ausgestattet wie besserer Ernährung, Kleidung oder Unterbringung. Die „Kapos“ genannten Häftlinge mit besonderer Funktion waren an Selektionen, Misshandlungen und der Ermordung von Häftlingen beteiligt. Sie kommandierten Arbeitskommandos, trieben die Häftlinge zu Appellen zusammen und waren für die Essensverteilung zuständig. Sie konnten die Häftlinge bestrafen und erpressen. Oft waren sie bestechlich und herrschten willkürlich über Leben und Tod „schlimmer als die Deutschen“.
Außerdem gab es in den Ghettos jüdische Ordnungsdienste wie die sog. Judenpolizei, die von den zwangsweise zusammengestellten Judenräten eingesetzt werden musste. Diese Polizisten waren unter anderem an der Vorbereitung und Durchführung von Deportationen in die Vernichtungslager beteiligt, indem sie die Menschen dafür zusammentrieben – unter ihnen auch Kinder – sowie das Einsteigen in die Waggons und die Abfahrt der Züge überwachten.
Da die Kapos und Polizisten ihre Taten vor der israelischen Staatsgründung, außerhalb des israelischen Staatsgebiets und gegen Personen verübt hatten, die zur Tatzeit keine israelischen Staatsangehörigen gewesen waren, gab es im israelischen Strafrecht zunächst keine gesetzliche Handhabe zur Ahndung dieser Verbrechen. Entsprechenden Strafanzeigen von Überlebenden gegen andere Überlebende, die sie nach der Einwanderung in Israel als Kollaborateure wiedererkannt hatten, konnte man deshalb nicht nachgehen.
Nach kontroversen Debatten wurde in das israelische Parlament im August 1949 zunächst der Entwurf eines „Act against Jewish War Criminals“ (Gesetz zur Bestrafung jüdischer Kriegsverbrecher) eingebracht. Daraus ging im August 1950 das „Nazi and Nazi Collaborators (Punishment) Law“ – NNCL (Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern) hervor – im Titel leicht verändert, aber nach wie vor auf jüdische Kollaborateure gemünzt.
Der damalige Entwurfsverfasser und erste Justizminister Israels, der deutschstämmige Rechtsanwalt Pinchas Rosen begründete das NNCL mit der Notwendigkeit, die israelische Gesellschaft zu „säubern“ (let our camp be pure).
Gesetzeszweck war damit in erster Linie, unter den Einwanderern, die die NS-Vernichtungspolitik überlebt hatten, Rechtsfrieden zu schaffen. Es sollten einerseits diejenigen bestraft werden, die sich schuldig gemacht hatten, andererseits aber auch diejenigen entlastet, die zu Unrecht verdächtigt wurden, Kollaborateure gewesen zu sein. Außerdem ging es mit Blick auf die vor dem Zweiten Weltkrieg aus Europa in das spätere Israel eingewanderten Zionisten – die Bevölkerungsmehrheit – darum, die Umstände zu erhellen, unter denen es den Überlebenden gelungen war, nicht ermordet zu werden. Ein in Israel verbreitetes Vorurteil bezichtigte pauschal alle Überlebenden, Kollaborateure und Mitschuldige der Shoah zu sein.
Gerade die aus zionistischer Überzeugung seit Ende des 19. Jahrhunderts in das damalige Palästina eingewanderten Europäer, die einen starken jüdischen Staat im Land ihrer Väter errichten wollten, konnten nicht verstehen, dass sich 6 Millionen Juden widerstandslos hatten umbringen lassen wie „Schafe auf der Schlachtbank“. Deren vermeintliche „unterwürfige Frömmigkeit“ widersprach zutiefst einem selbstbewußten und gegenüber seinen arabischen Feinden wehrhaften Israel.
Das „Nazis and Nazi Collaborators Law“
Das „Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern“, englisch “Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law 5710-1950 (NNCL)“, hebräisch “Chok Le’Asiat Din BaNatzim“ vom August 1950 stellt nationalsozialistische Gewaltverbrechen unter Strafe, die auf dem Gebiet des Deutschen Reichs, seiner Verbündeten (den sogenannten Achsenmächten) und der von dem Deutschen Reich oder seinen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete begangen worden sind. Dort während der Naziherrschaft zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 bzw. während des Zweiten Weltkriegs zwischen dem 1. September 1939 und dem 14. August 1945 begangene Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen werden mit dem Tode bestraft.
Eine große Schwäche des Gesetzes war, dass es nicht definierte, wer „Nazi“ und wer „Nazi Collaborator“ sein sollte. Damit stellte es letztlich beide Personengruppen gleich, obwohl doch die in Israel lebenden Kollaborateure als Überlebende der Shoah nicht Täter, sondern ihrerseits Opfer waren, die ebenfalls nur unter unsäglichen Umständen überlebt hatten.
Kapo-Verfahren
Zwischen 1951 und 1964 gab es in Israel schätzunsgweise 30 bis 40 Verfahren gegen ehemalige jüdische Kapos. Die Prozessakten stehen gegenwärtig noch unter Verschluss und werden erst 70 Jahre nach Abschluss der Verfahren zugänglich sein. Israelische Wissenschaftler gehen davon aus, dass nur jeder zweite Angeklagte überhaupt verurteilt und lediglich milde Haftstrafen verhängt wurden, die in der Regel mit der Untersuchungshaft abgegolten waren – auch wenn die Anklage zunächst härtere Strafen gefordert hatte.
Einzige Quelle sind die Handakten von Asher Levitzki, einem Rechtsanwalt, der verschiedene Kapos vertreten und seine Unterlagen dem israelischen Staatsarchiv vermacht hat. Die Tagespresse hatte seinerzeit wenig über die Kapo-Verfahren berichtet, die in der israelischen Öffentlichkeit als beschämend und „schmutzig“ empfunden wurden.
Die Richter taten sich schwer, gravierende Strafen zu verhängen, hätten diese doch die alleinige und unermeßliche Schuld der Nationalsozialisten relativiert. So konnte das NNCL nur sehr bedingt seine kathartische Wirkung entfalten.
Adolf Eichmann
Im Eichmann-Prozess wurden die völkerrechtlichen Fragen, die das NNCL aufwarf, zum ersten Mal ausführlich erörtert, nicht zuletzt, weil Eichmann ohne seinen Willen von Argentinien nach Israel entführt worden war und als deutscher Staatsangehöriger nach einem israelischen Gesetz bestraft werden sollte. Eichmanns Strafverteidiger machte geltend, das NNCL wolle nach seiner Entstehungsgeschichte nur jüdische Täter und Kollaborateure bestrafen, was auf Eichmann nicht zutreffe. Zudem hatte Justizminister Rosen im März 1950 anlässlich der ersten Lesung des NNCL in der Knesset noch betont, kein Nazi werde es wagen, nach Israel einzureisen, um sich dort der Strafverfolgung zu stellen. Das Gesetz ziele daher in erster Linie auf Kollaborateure unter den jüdischen Immigranten ab.
Die Bedeutung des NNCL ging jedoch über die israelischen Staatsgrenzen weit hinaus. Seine strafbaren Tatbestände waren den bereits in Art. II des Gesetzes Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats vom 20. Dezember 1945 definierten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie dem Völkermord-Tatbestand der UN-Konvention von 1948 nachgebildet. Diese Verbrechen waren universell, wurden weltweit geächtet und konnten auf der ganzen Welt strafrechtlich verfolgt werden. Sie waren zu keinem Zeitpunkt jemals erlaubt gewesen. Niemand, der diese schwersten Verbrechen begangen hatte, konnte von der Strafverfolgung verschont bleiben.
Die Gräben des Misstrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen in der israelischen Gesellschaft waren durch die wenig beachteten Kapo-Verfahren nicht überwunden worden. Aber der Eichmann-Prozess trug dazu bei, die junge Nation durch eine neue gemeinsame Identität zu einigen.
Der ehemalige Gestapo– und SS-Mann Adolf Eichmann stellte ein Feindbild für alle Israelis dar.
Erst der vor den Augen der Weltöffentlichkeit geführte Eichmann-Prozess hatte die perfide und grausame Systematik der planmäßigen Ermordung der europäischen Juden in all ihren Phasen offenbart. Die „Endlösung der Judenfrage“ wurde Thema im Schulunterricht und bewirkte eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung. In Israel weckte das Verfahren auch das Verständnis für die in diesem System gefangenen Opfer und „kleinen Leute“, auf die man nicht „voreingenommen und selbstgerecht“ herabsehen sollte.
So begründete der gebürtige Deutsche Moshe Landau, der die Shoah nicht persönlich miterlebt hatte und Vorsitzender Richter im Eichmann-Prozess gewesen war, in seiner späteren Funktion als Richter am israelischen Supreme Court im Jahr 1964 einen Freispruch gegen einen ehemaligen jüdischen Polizeikommandanten in Polen als den eines „verfolgten Glaubensbruders“. Eine moralische Bewertung solle man im übrigen den Historikern überlassen, nicht den Gerichten.
John „Iwan“ Demjanjuk
Iwan Demjanjuk, Jahrgang 1920, war gebürtiger Ukrainer und Soldat in der Roten Armee. Im Mai 1942 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er wurde im Zwangsarbeitslager Trawniki nahe Lublin zum SS-Wachmann für die „Operation Reinhardt“ ausgebildet und diente anschließend im Vernichtungslager Sobibor. Nach dem Krieg wanderte Demjanjuk in die USA aus, änderte seinen Vornamen in „John“ und lebte in Cleveland/Ohio.
Von jüdischen Überlebenden wurde er verdächtigt, als „Iwan der Schreckliche“ im Vernichtungslager Treblinka an Vergasungen beteiligt gewesen zu sein.
Nach seiner Auslieferung an Israel stützte sich die Anklage allein auf den Verdacht, Demjanjuk sei in Treblinka tätig gewesen und wegen seiner besonderen Brutalität gegen Häftlinge identisch mit „Iwan dem Schrecklichen“. Dem Gericht lag ein ehemaliger SS-Dienstausweis vor, der Demjanjuk als ehemaligen Angehörigen der sog. Trawniki auswies, die von den Deutschen überwiegend in Treblinka eingesetzt worden waren.
Aufgrund der Zeugenaussagen von fünf überlebenden Treblinka-Häftlingen, die das Ausweis-Dokument zu stützen schienen, wurde Demjanjuk im April 1988 wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk zum Tode verurteilt.
Über seine Berufung wurde erst fünf Jahre später entschieden.
Demjanjuk hatte die Zulassung zahlreicher neuer Beweismittel beantragt, die aus sowjetischen Archiven stammten und erst mit dem Zerfall der Sowjetunion zugänglich geworden waren. Tatsächlich nannte auch Demjanjuks SS-Dienstausweis, der schon im Ausgangsverfahren vorgelegen hatte, nicht Treblinka, sondern das Lager Sobibor als seinen ehemaligen Einsatzort.
Deshalb wurde Demjanjuk im Juli 1993 durch den israelischen Supreme Court wegen „begründeter Zweifel“ an seiner Schuld freigesprochen.
Die Zeugenaussagen in erster Instanz wurden praktisch entwertet.
Eine Erweiterung des Verfahrens um die in Sobibor begangenen Verbrechen und eine weitere Verfahrensverlängerung hielt der Supreme Court nach einer mittlerweile siebenjährigen Verfahrensdauer für unverhältnismäßig. Die Rechte des Angeklagten auf ein faires Verfahren seien das höchste Gut.
Hätte man Demjanjuk von vornherein wegen seiner Tätigkeit in Sobibor angeklagt, wäre ein Freispruch vermeidbar gewesen. Viele andere ehemalige „Trawniki-Männer“ waren nach dem Krieg in Polen und der Sowjetunion als Kollaborateure abgeurteilt, manche hingerichtet worden.
Der im deutschen Strafprozessrecht verankerte Grundsatz der freien Beweiswürdigung stellte nach israelischem Verfahrensrecht eine Ausnahme dar. Das NNCL erlaubte den Richtern bei der Beweiserhebung und Beweiswürdigung eine Entscheidungsfreiheit wie sie in israelischen Strafverfahren ansonsten unüblich war. Nicht zuletzt deshalb war der Prozessausgang in Israel sehr umstritten. Manche nannten ihn „mutig“, andere „eine tragische Farce“ und für die Opfer der Shoah eine Beleidigung.
Es gibt immer weniger überlebende NS-Täter und Kollaborateure, die sich vor Gericht verantworten könnten. Deshalb wird es in Israel wohl keine Strafverfahren nach NNCL mehr geben.
Autorin: Elisabeth Brörken
Literatur
http://www.mfa.gov.il/MFA/MFAArchive/1950_1959/Nazis+and+Nazi+Collaborators+-Punishment-+Law-+571.htm Nazis and Nazi Collaborator Punishment Law. Gesetzestext von 1950, englisch.
http://www.bpb.de/themen/GKKQQF,0,Die_Bedeutung_der_Shoah_in_der_israelischen_Gesellschaft.html Anja Kurths: ‚Die Bedeutung der Shoah in der israelischen Gesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, 28. März 2008.
http://www.leo-baeck.org/leobaeck/sachbuchallgemein/buch-03917.html Revital Ludewig-Kedmi: Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah. Gießen, 2002. Buchbesprechung von Yizhak Ahren.
http://digitalcommons.lmu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1685&context=ilr Michael J. Bazyler and Julia Scheppach: The Strange and Curious History of the Law Used to Prosecute Adolf Eichmann. Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review, 3-1-2012, p. 417 – 461.
http://www.mfa.gov.il/mfa/aboutisrael/history/holocaust/pages/the%20demjanjuk%20appeal-%20summary%20by%20asher%20felix%20landa.aspx Asher Felix Landau: The Demjanjuk Appeal. 29. Juli 1993
Gerd R. Ueberschär: Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952. Frankfurt/M., 2. Aufl. 2000
Tom Segev: Die siebte Million: Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1995. Deutsch von Jürgen Peter Krause und Maja Ueberle-Pfaff.