Die Forschungsgeschichte über die Shoah spiegelt die Ängste und Vermeidungsstrategien der deutschen Gesellschaft wider, sich mit den Tätern der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden auseinander zu setzen. Die west- und ostdeutsche Nachkriegshistoriografie blendete das Thema der Täterschaft lange Zeit kunstvoll aus bzw. verdrängte es auf hohem Niveau, so die Feststellung Gerhard Pauls in seinem umfassenden Überblick zur NS-Täterforschung seit 1945 (vgl. Paul 2003, S. 13). So wurden in den Diskursen und Täterdebatten, wie sie in Deutschland bis in die 1980er Jahre hinein geführt wurden, die Täter entweder pathologisiert, dämonisiert und kriminalisiert oder sie erschienen als interessenlose bürokratische Schreibtischtäter im Befehlsnotstand.
In einem ersten, frühen Verarbeitungsdiskurs wurden die Gestapo und SS als Haupttätergruppen der Judenvernichtung ausgemacht, dabei diabolisiert, als ‚blutrünstige Exzesstäter’ in Himmlers ‚schwarzes Reich’ verbannt und damit aus der deutschen Gesellschaft hinausinterpretiert. Die Täter wurden in dieser Perspektive als Kriminelle, als Mörder und Schläger aus den Unterschichten gezeichnet, mit denen die bürgerliche deutsche Gesellschaft nichts gemein zu haben schien (vgl. ebd., S. 17). Im Gefolge des Eichmann-Prozesses setzte dann in den 1960er Jahren ein zweiter Vermeidungsdiskurs ein, in dem die Täter als emotionslose, distanzierte Verwaltungs- und Systemträger erschienen. Dadurch entstand das Bild der Shoah als industrialisierter Massenvernichtungsprozess ohne direkte Täter, angetrieben von abstrakten, gesichtslosen Institutionen und Strukturen, das in der Metapher der ‚Todesfabriken’ seinen Ausdruck fand (vgl. ebd., S. 20f.). Beide Diskurse entpuppten sich jedoch als zwei Seiten derselben Medaille: Sie dienten der Distanzgewinnung gegenüber den Tätern und ihren konkreten Taten sowie der Selbstentlastung großer Bevölkerungsteile der deutschen Gesellschaft.
Mit Christopher R. Brownigs Studie zu den ‚ganz normalen Männern’ (1992), vor allem aber inspiriert durch die ‚Goldhagen-Debatte’ und durch den Disput um die ‚Wehrmachtsausstellung’ – den beiden großen Kontroversen der 1990er Jahre – begann sich eine neue NS-Täterforschung zu etablieren. Sie distanziert sich deutlich von den Täterdiskursen der Nachkriegszeit. Außerdem hat sie den Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten in der Deutung der Shoah hinter sich gelassen, der sich an der Frage festmachte, ob es sich bei dem Massenmord an den Juden Europas um ein Verbrechen gehandelt habe, das von der NS-Führung schrittweise geplant und zielbewusst umgesetzt wurde, oder ob die Vernichtung ein Produkt eines kumulativen, nahezu führungslosen Radikalisierungsprozesses gewesen sei. Stattdessen wendet sich die jüngere Forschung in regionaler Nahoptik den konkreten Verbrechen und ihren Akteuren zu. Sie geht davon aus, dass es sich bei den NS-Tätern um autonome und für ihr Tun verantwortliche Subjekte gehandelt hat – mit eigenen Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen des Mitmachens und Verweigerns. Zudem berücksichtigt sie generationelle Prägungen einzelner Tätergruppen, ihre Karriereverläufe, Weltbilder und Motivstrukturen und untersucht deren Aktualisierung in der Praxis (vgl. Paul/ Mallmann 2004, S. 1).
Dabei konzentrierte sich die neuere Täterforschung zunächst auf die ‚Weltanschauungseliten’ und die ‚Kerngruppe’ des nationalsozialistischen Vernichtungspersonals. Es entstand eine Vielzahl von Einzel- und Gruppenbiografien zu fast allen an der Shoah beteiligten Funktionseliten. Stellvertretend sei auf die Studie von Karin Orth (2000) zur Konzentrationslager-SS und auf die bahnbrechende Untersuchung von Michael Wild (2000) zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes verwiesen. Beide Tätergruppen wiesen aufgrund der Geburtsjahrgänge, der sozialen Herkunft, der Berufsausbildung und der Gewaltsozialisation in völkisch-rechtsradikalen Gruppierungen eine große personelle Homogenität auf, deren Typologie jedoch nicht ohne weiteres verallgemeinert werden darf. Vielmehr hat sich die Erkenntnis herausgebildet, „[…] es mit mehreren Typen von NS-Tätern zu tun zu haben, die je nach Stellung im Vernichtungsprozess, je nach Rolle und Engagement, Herkunft und Ausbildung differenziert werden müssen“ (ebd., S. 22). Außerdem gelte es, verschiedene Akteure und Institutionen, intentionalen Vernichtungswillen und strukturelle Bedingungen, individueller Vorsatz und situative Gewaltdynamik in ihrem Zusammenspiel stärker zu berücksichtigen (vgl. ebd., S. 23).
Gegenwärtig zeichnet sich der Trend zur Erforschung der zweiten und dritten Handlungsebene ab, hin zum „Fußvolk der Endlösung“, wie es Klaus-Michael Mallmann formulierte (zit. n. Paul 2003, S. 50). Dadurch wird das Täterbild differenzierter und heterogener, denn es geraten bisher weitgehend unbeachtete und gänzlich neue Tätergruppen in den Blick: die Bataillone der Sicherheits- und Ordnungspolizei, Offiziere und ‚einfache’ Soldaten der Wehrmacht, das Personal der Zivilverwaltung im okkupierten Osten, ausländische Tätergruppen und Kollaborateure sowie generell Täterinnen – um nur wenige Gruppierungen zu nennen. Die von Wolf Kaiser (2002), Gerhard Paul (2003) und Klaus-Michael Mallmann u.a. (2004) herausgegebenen Sammelbände sowie die neueren Studien von Christopher R. Browning (2001; 2003) beispielsweise vermitteln einen Einblick in die große personelle Vielschichtigkeit und Uneinheitlichkeit, die sich an der Basis des Vernichtungsprozesses abzeichnet. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Vernichtung der europäischen Juden eine „arbeitsteilige Kollektivtat“ war (Paul 2003, S. 15). Mit Gerhard Paul lässt sich das ‚kollektive Tätersubjekt’ zunächst in zwei Großgruppen unterteilen: Täter im engeren Sinne – jene Personengruppe, die die Judenverfolgung steuerte, organisatorisch leitete und befehligte sowie die Direkttäter an den Erschießungsgruben und Exzesstäter, die aus eigenem Antrieb mordeten – sowie Täter im weiteren Sinne – Beamte der Zivilverwaltung und jene, die Deportationen und Erschießungen vorbereiteten, an Razzien und Absperrungen teilnahmen, Lager bewachten etc. (vgl. ebd.). Dass die Grenzen zwischen diesen beiden Tätergruppen durchaus fließend sein konnten, hat Michael Wild für die Führungsriege des RSHA detailliert nachgewiesen.
Gemeinsam ist der neueren Täterforschung zudem, dass sie die Vernichtungspolitik aus dem Reich der unpersönlichen Strukturen in das der handelnden Menschen zurückholt. Damit, so eine Zwischenbilanz von Gerhard Paul, stehe die Frage nach der „[…] inneren Anteilnahme, nach Motivation und Beschaffenheit der Täter und somit nach der subjektiven Sinndimension der Shoah“ erstmals wirklich auf der Tagesordnung (ebd., S. 60). Die Täter erscheinen nicht länger als „gehorsame und willenlose Exekutoren einer Weltanschauung, als gefühllose Befehlsautomaten“, sondern als eigenständige Akteure, „als engagierte Profiteure der Tat, als Männer, die vergewaltigten, ihren Spaß hatten, sich bereicherten, sich Sonderzuteilungen erwirtschafteten usw.“ (Paul/ Mallmann, S. 17). Aber auch die TäterInnen an den Schreibtischen handelten keineswegs nur aus Pflichtbewusstsein und auf Befehl; viele trieben den Prozess der Vernichtung mit eigenem Engagement und eigenen Vorschlägen voran (vgl. ebd., S. 18).
Trotz der Fülle sehr unterschiedlicher Motive und Dispositionen, die den Einzelnen bewogen, sich aktiv an der Vernichtung der europäischen Juden zu beteiligen, gibt es verschiedene Versuche, die Täter nach ihrem Verhalten und ihren Motivationen zu typologisieren – etwa nach ‚Weltanschauungstätern’, ‚utilitaristisch motivierten Tätern’, ‚Schreibtischtätern’, ‚Exzesstätern’ und ‚traditionellen Befehlstätern’, wobei sich Mischformen und das Prozesshafte als charakteristischer erweisen als die reinen Idealtypen (vgl. ebd., S. 17f.; Paul 2003, S. 61f.). Eine generationelle, soziale und berufliche Homogenität, wie sie für den Führungskader des RSHA charakteristisch war, ist jedoch keineswegs signifikant für andere Tätergruppen. Die Täter kamen schließlich aus allen Bevölkerungsschichten, sie kamen keineswegs nur aus Deutschland und sie beschränkten sich nicht nur auf das männliche Geschlecht. All dies bedeutet im Umkehrschluss: „Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent“ (Paul 2003, S. 62). Ein zur Allgemeingültigkeit tendierender Erklärungsansatz, wie ihn beispielsweise das Modell der ‚Kriegsjugendgeneration’ unterstellt, werde daher der Vielfältigkeit der Taten und der Täter nicht gerecht (vgl. ebd.).
Die Studien der letzten Jahre lassen denn auch ein Bündel von objektiven und kulturellen, von kognitiven und situativen Faktoren für die Bereitschaft zum Töten erkennen, wobei die einzelnen Bestandteile analytisch oft nur schwer zu differenzieren und zu gewichten sind. Allerdings werden die individuellen Handlungs- und Improvisationsspielräume vor Ort sowie ein beträchtliches Maß an Selbstregulierung und Eigeninitiative der Täter im Vernichtungsprozess immer deutlicher, wie auch zunehmend persönlich-utilitaristische Motive sichtbar werden. Wer allerdings die Frage beantworten will, welche ideologischen, mentalen, institutionellen, psychologischen und sozialen Faktoren dazu beigetragen haben, dass ganz ‚gewöhnliche’ Deutsche zu Massenmördern wurden, begibt sich auf eine schwierige Gratwanderung. Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann, Karin Orth, Michael Wildt u.a. schreiben verschiedenen Gewaltmilieus eine für Täterkarrieren bedeutsame, sozialisatorische Wirkung zu – etwa in der Hass- und Gewaltkultur völkisch-nationalistischer Gruppierungen der Weimarer Republik, im Gewalt verherrlichenden nationalsozialistischen Binnenmilieu nach 1933, schließlich in der Gewaltpraxis des Krieges mit seinen neuen Entgrenzungen und Radikalisierungsschüben (vgl. Paul/ Mallmann 2004, S. 9ff.). Harald Welzer schlägt hingegen vor, sich präziser mit der Dynamik sozialer Situationen und Kontexte, in denen das Morden stattfand, zu beschäftigen. Er lenkt den Blick noch genauer auf die konkreten Taten in den normativ veränderten Handlungsfeldern, in denen Menschen zu Mördern wurden. Welzer analysiert etwa präzise die Durchführungen von Massenerschießungen und versucht aus der Rekonstruktion von objektiven Handlungsräumen Rückschlüsse auf individuelle ‚Sinnbeimessungen’ des Mordens durch die Täter zu ziehen.
Mag es auch zweifelhaft sein, ob mit den gegenwärtigen Methoden der Sozialwissenschaft eine Dechiffrierung der Täter und ihrer Motive überhaupt möglich ist und wird man sich in dieser Frage realistischerweise mit Annäherungen und Hypothesen arrangieren müssen: Die neueren Studien zur NS-Täterforschung liefern einen enorm facettenreichen, düsteren und beunruhigenden Einblick in die deutsche Gesellschaft, in der ‚ganz normale Menschen’ zu Massenmördern wurden.
Autor: Wolfgang Gippert
Literatur
Browning, Christopher R.: Ordinary men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York 1992; dt.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung’ in Polen. Hamburg 1993.
Browning, Christopher, R.: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter. Frankfurt am Main 2001.
Browning, Christopher, R.: Die Entfesselung der ‚Endlösung’. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Berlin 2003.
Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Hrsg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 7). Bremen 2002.
Kaiser, Wolf (Hg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden. Berlin; München 2002.
Mallmann, Klaus-Michael/ Paul, Gerhard (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt 2004.
Orth, Karin: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien. Göttingen 2000.
Paul, Gerhard (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? 2. Aufl., Göttingen 2003.
Paul, Gerhard: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen’ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung. In: Ders. (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 13-90.
Paul, Gerhard/ Mallmann, Klaus-Michael: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung. In: Dies. (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt 2004, S. 1-32.
Perels, Joachim/ Pohl, Rolf (Hg.): NS-Täter in der deutschen Gesellschaft. Hannover 2002.
Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. 2. Aufl., Frankfurt am Main 2005.
Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2000.