Dietmar Arnold: Neue Reichskanzlei und Führerbunker. Legenden und Wirklichkeit, Berlin 2006.
Die „Neue Reichskanzlei“ im Zentrum Berlins gehört sicher nicht zu den spektakulärsten Bauten des NS-Regimes, aber hier bündelt sich auf seltsame Weise die Geschichte des Dritten Reiches: Eingeweiht im Januar 1939 sollte die Reichskanzlei in der Hauptstadt vor der einheimischen Bevölkerung wie vor den Besuchern der Stadt den Machtanspruch des NS-Regimes und seines Führers repräsentieren. Und genau hier endete im Mai 1945 die Geschichte des NS-Größenwahns: Im Bunker unter der neuen Reichskanzlei beging Hitler Selbstmord.
Grund genug also, sich mit diesem Gebäude intensiver zu beschäftigen. Dietmar Arnold rekonstruiert die Geschichte der „Neuen Reichskanzlei“ in dem Band aus dem Verlag Christoph Links detailgenau. Hitlers „Neue Reichskanzlei“ hatte dabei eine Vorgeschichte, die bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht. Das Gebäude der später sogenannten „Alten Reichskanzlei“ war 1738–1739 von Carl Friedrich Richter erbaut worden. 1869 wurde das Palais von Otto von Bismarck für die preußische Staatsregierung angekauft. Nach der Reichsgründung ging es dann in den Reichsbesitz über und wurde als Wohn- und Amtssitz des Reichskanzlers genutzt. Mehrfach wurde es umgebaut und den jeweiligen aktuellen Bedürfnissen angepasst. Seit 1932 diente das Reichskanzlerpalais als Dienstwohnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Bald nach der Machtergreifung übernahm Hitler als neuer Reichskanzler die Reichskanzlei als Dienstsitz. Bereits 1934 und 1935 fanden umfangreiche Umbauarbeiten statt.
Für Hitler stand aber bald fest, dass das Gebäude seinen Bedürfnissen nach Repräsentation nicht genügen konnte. Hitler selbst entwarf das Konzept und beaufsichtigte persönlich immer wieder den Fortgang der Planungs- und Bauarbeiten. In diesem Zusammenhang entlarvt Arnold auch eine der hartnäckigsten Legenden um das Gebäude, die von der Rekordbauzeit. Demnach wurde der Bau – natürlich auf persönlichen Befehl Hitlers – zwischen März und Dezember 1938 innerhalb von nur rund neun Monaten fertiggestellt. Tatsächlich war dies nichts weiter als eine Propagandalüge, mit der der Bevölkerung eine enorme Leistungsfähigkeit des NS-Systems suggeriert werden sollte. Tatsächlich zogen sich die Bauarbeiten vom Abriss der ersten Häuser im Jahr 1936 bis zur Einweihung im Januar 1939 rund drei Jahre hin. Umso erstaunlicher, dass selbst in einem ZDF-Beitrag 2004 über den Architekten Albert Speer aus der Guido-Knopp-Reihe „Hitlers Manager“ die Lüge von der Rekordbauzeit unkritisch wiederholt wurde.
Als Regierungssitz wurde die „Neue Reichskanzlei“ von Hitler aber tatsächlich kaum genutzt. Viel häufiger hielt sich Hitler auf seinem „Berghof“ bei Berchtesgaden auf und während des Krieges wechselte er zwischen den „Führerhauptquartieren“ in Frontnähe. Die „Neue Reichskanzlei“ war vor allem ein Repräsentationsbau, der die Stärke und Gewalt des NS-Regimes demonstrieren sollte. Die riesigen Flure, das überdimensionierte Arbeitszimmer Hitlers, in dem er übrigens nie gearbeitet hatte, alles das diente der Einschüchterung. Auf diesen Effekt wurde wohl auch kalkuliert, als der tschechische Staatspräsident Hácha am 15. März 1939 in die Reichskanzlei geladen wurde und man ihn dort zwang, der Besetzung der Rest-Tschechei durch die Wehrmacht zuzustimmen. Es ist ein Vorzug des Buches, dass die politischen Zusammenhänge immer wieder hergestellt werden. Anstelle einer reinen Baugeschichte wird so die Funktionalisierung der Architektur im NS-Regime deutlich.
Im Gegensatz zu vielen Gebäuden in der Umgebung hatte die „Neue Reichskanzlei“ den Krieg relativ wenig beschädigt überstanden. In den ersten Monaten nach Kriegsende wurde das Gebäude sogar zu einer regelrechten touristischen Attraktion, vor allem für alliierte Militärangehörige. 1949 wurde dann damit begonnen, das Gebäude abzureißen. Der „Führerbunker“ unter der Reichskanzlei hatte zuvor schon mehreren Sprengversuchen widerstanden und wurde einfach mit Schutt verfüllt, so gut es ging. Heute erinnert oberflächlich nichts mehr an die „Neue Reichskanzlei“. In ihrer unmittelbarer Nähe befindet sich jetzt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.“
Der Band über die Reichskanzlei ist Teil einer Reihe im Verlag Chr. Links, die sich mit der „Topographie deutscher Geschichte“ befasst. So sind bereits Bände über das Nürnberger Reichsparteitagsgelände, über das Seebad Prora oder über Görings Präsentationsvilla Carinhall erschienen.
Autor: Bernd Kleinhans
Dietmar Arnold: Neue Reichskanzlei und Führerbunker. Legenden und Wirklichkeit, Ch. Links Verlag, Berlin, 2. Aufl. 2006, 192 Seiten, 177 Abb., Euro 29,90
Christoph Neubauer: Albert Speers Neue Reichskanzlei, 2 DVD (deutsch und englisch), zusammen 87 Minuten, „25FPS Filmproduction“, Frankfurt O.
Christoph Neubauer: Das Berliner Regierungsviertel, Teil 1: 1932-1938, DVD (deutsch und englisch, 70 Minuten, „25FPS Filmproduction“, Frankfurt O.