Dass Russen schöne und wohlklingende Lieder haben, ist bekannt. Im Pantheon der Welthits steht z.B. seit Jahrzehnten „Katjuscha“, 1939 von Matvej Blanter (1903-1990) komponiert und lange später unter dem Titel „Kasatschok“ ein internationaler Ohrwurm. Dieselbe Karriere machte „Podmoskovnye večera“, 1959 von Vasilij Solov’ev-Sedoj (1907-1979) komponiert und augenblicklich ein beliebtes Lied, das als „Moskauer Nächte“ weltweit populär wurde. Und ähnliche musikalische Geniestreiche in Fülle. In Russland gibt es seit Jahren eine Serie von Filmen und Tonträgern „Starye pesni o glavnom“ (Alte Lieder über die Hauptsache), in denen sie alle wieder erklingen, sehr zur Freude der Russen und aller Liebhaber russischer Musik.
Aus der Biographie des russischen „Jahrhundertkomponisten“ Dmitrij Šostakovič (1906-1975)[1] wissen wir, wie es zu diesem Wohlklang kam: Der stalinistische Terror machte in den späten 1930-er Jahren auch vor der Musik nicht halt, fand in ihr strafwürdige „Formalisten“, und die Komponisten vergaßen aus schierer Lebensangst ihre modernen und neutönerischen Ambitionen und schrieben Musik „für das Volk“. Immerhin war das rein russische Musik, in Klang, Rhythmus und Melodik sehr verwandt der klassischen russischen Volksmusik und so letztlich auch ein Gewinn für die russische Musiktradition.
Die Volksmusik ist außerhalb Russlands ebenfalls bekannt und populär, wobei die Melodien oft die abenteuerlichsten Umwege nahmen. Beispielsweise war die Melodie der Ballade „Stenka Razin“ in Deutschland früh als Gassenhauer „Unrasiert und fern der Heimat“ im Umlauf, bis deutsche Soldaten ihr im Zweiten Weltkrieg einen elegischen Text unterlegten: „Wer das Lieben hat erfunden, hat an scheiden nicht gedacht“. Ähnlich erging es Volksliedern wie „Večernij zvon“ („O Abendklang“), „Odnozvučno gremit kolokol’čik“ („Leis das Glöckchen nur klingt“), „Step’ das step’ krugom“ („Steppe rings umher“), „Kalinka“ und zahlreichen weiteren. In der Frühzeiten der DDR wurde versucht, diese Lieder in (guten) deutschen Übersetzungen populär zu machen, aber viel Erfolg hatte man damit nicht. Erst in jüngerer Zeit erklingen die Lieder wieder, in aller Regel von russischen Straßenmusikanten intoniert.
Aber das „russische Lied des 20. Jahrhunderts“ – so vor einigen Jahren der geniale russische Regisseur Leonid Parfenov auf einer Sylvesterparty – ist, wenn überhaupt, nur im russischen Original im Ausland bekannt. Mir jedenfalls hat es vor etwa 30 Jahren ein bulgarischer Kellner beigebracht, als die kuschelige Bar in Varna nur noch von uns beiden bevölkert war.
Ich spreche von Murka, dem unsterblichsten russischen Evergreen überhaupt. Im Internet findet man Dutzende Versionen davon, darunter auch die legendäre, in welcher „Politclown“ Vladimir Žirinovskij versucht, das Lied mit drei Künstlern zu singen und viermal den Einsatz verhaut. Es gibt kaum einen Bühnenkünstler, der nicht schon einmal „Murka“ intoniert hätte, denn das Lied hat nicht nur eine ohrwurmige Melodie im Tangorhythmus, sondern darüber hinaus auch alles, was bei Russen Erfolg verspricht: Lokalkolorit aus Odessa, dem „russischen Marseille“ und der heimlichen Hauptstadt von Russlands Halbwelt, einen dramatischen Inhalt, der das Treiben von Gangstern beschreibt, einen sprachlichen Ausdruck, den man nur in Spezialwörterbüchern finden wird[2], und ähnliches mehr. Bühne frei für Murka!
Seit Jahren erfreut sich die Textversion größter Beliebtheit, die auf Deutsch so anfinge:
„Es kam mal nach Odessa
’ne Bande aus dem Amur
Zuchthäusler, Dreckspack,
schmutzige Sachen taten sie
auf ihren Fersen die Tscheka.
Chefin war eine Frau, Murka,
mutig und gerissen war sie,
selbst die wildesten Jungs fürchteten Murka.
die Berufsdiebin war“.
Und so weiter: Eines Abends wird Murka in einem Restaurant in Begleitung eines Polizeiagenten gesichtet, worauf ihre Kumpane beschließen, sie als Verräterin zu beseitigen, und diesen Beschluss auch umgehend ausführen: „Du hast unsere Himbeere (Bande) verraten, nimm dafür eine Himbeere (Kugel)“.
Murka ist eigentlich bei Russen ein beliebter Name für Katzen, und als das Lied in den 1920-er Jahren in Odessa aufkam, hieß es noch „Ljubka“ (Liebchen) und war auf eine „Mascha“ gemünzt. Als Texter von Murka gilt der Odessaer Dichter Jakov Jadov (unbekanntes Geburtsdatum – 1942), aber diese Urheberschaft wird auch wieder bestritten.[3] Ich bestreite sie nicht, halte „Murka“ vielmehr für ein typisches Jadov-Lied. Jadov hatte bei der Zeitung „Morjak“ (Matrose) eine feste Anstellung und schrieb unter eigenem Namen und den Pseudonymen Ja. Žgut und Bocman Jakov zahlreiche witzige Feuilletons und Lieder. Das Schreiben fiel ihm leicht, viele Dichtungen bekamen schmissige Melodien, waren binnen einer Woche in Odessa Schlager, nach einem Monat auch in Moskau. Sein größter Erfolg war1922 das Lied „Bublički“ (Kipferl), dessen wunderbare Melodie bis heute das Wahrzeichen des weltbekannten Klezmer-Klarinettisten Giora Feidman ist. Der Text ist sehr traurig: Ein Mädchen versucht, in bitterkalter Nacht Gebäck zu verkaufen, und erzählt in einer Strophe, warum sie sich so quält: „Mein Vater ist ein Säufer/ hängt immer am Glas/ meine Mutter ist Putzfrau/ was für eine Schande/ meine Schwester treibt sich herum/ ist keine Nacht daheim/ mein Bruder ist ein kleiner Taschendieb“.
„Bublički“ war ein Schlager par excellence, bis heute unvergessen. Als er entstand, war in Russland gerade „NEP-Zeit“ – Lenins erfolgreicher Versuch, nach Revolution und Bürgerkrieg die Marktwirtschaft zu beleben, um dem allgemeinen Elend abzuhelfen. NEP ist die Abkürzung von „novaja ėkonomičeskaja politika“ (neue Wirtschaftspolitik), und Jadovs Lied zeigt die NEP gewissermaßen aus der Froschperspektive derer, die sich vergeblich bemühen, mit einer Art Privathandel ein paar Kopeken zu verdienen. Ein widerhakiges Lied, wiewohl kein systemkritisches.
Dasselbe kann man von der Ur-Murka sagen: Es spielt zwar in Verbrecherkreisen, aber die Gangster werden nicht glorifiziert – im Gegenteil verrät Murka sie ja der Polizei. Dem Autor war also nichts anzuhängen, zumal er sich allem Anschein nicht einmal zu erkennen gegeben hatte. Dass das Lied aus Odessa kam, war allgemein bekannt, nur an den Autor erinnerte sich niemand. Jadov wird es, wie viele seiner Dichtungen, an irgendeiner Tischecke rasch verfasst und unsigniert weitergegeben haben.
Heute ist es völlig hoffnungslos, den Autor aufzuspüren, denn Murka hat in den 80 Jahren ihre Bestehens so viele Änderungen, Adaptierungen, Neufassungen etc. erlebt, dass der Text schon wieder eine Vorlage für folkloristische und soziolinguistische Untersuchungen ist.[4] Erstaunlicherweise scheint „Murka“ nie offiziell verboten gewesen zu sein, was wohl auch nicht möglich gewesen wäre. Vladimir Bachtin (1923-2001), der unvergessene russische Folklorist (von dessen Arbeiten zu Murka mein Text vor allem lebt), erinnerte sich, dass er als Kind in der Nähe eines Leningrader Großbetriebs aufwuchs und zusammen mit anderen Kindern das Lied von den Arbeitern lernte – „alle wussten, dass es ein Verbrecherlied war, aber alle sangen es“. Im Zweiten Weltkrieg war es gar die Hymne aller jener, die unfreiwillig in der Roten Armee dienen mussten – deportierte Polen, ehemalige „Kulaken“ (Großbauern), Strafgefangene, die in eigenen „Strafbataillonen“ (štrafbat) zusammengefasst waren, und andere, die in aller Regel als erste fielen.
Wie bereits erwähnt, existieren zahlreiche Varianten von Murka – allein 25, die gewichtigere Textdifferenzierungen aufweisen. Je älter sie sind, desto mehr verweisen sie auf die Urheberschaft Jadovs, wenn etwa der Liedtext in der für ihn charakteristischen lyrischen Weise beginnt: „Still ist die dunkle Nacht, nur der Wind pfeift“ etc. Auch die zumeist apostrophierte „banda“ scheint erst später erschienen zu sein, da anfänglich nur Kriminelle allgemein genannt werden, die sog. „blatnye“ bzw. ihre Elite, die „urki“.
Unverändert bleibt in allen Varianten das Sujet in seinen Strukturen: Verbrecher, Frau im Mittelpunkt, Verrat, Rache. Dasselbe „Gerüst“ findet sich auch in dem Roman „Die Tätowierten“ von Michail Dёmin (1926-1984), der 1973 in Deutschland erschien, direkt aus dem russischen Manuskript übersetzt, und eine Sensation auf dem Buchmarkt war.[5] In diesem autobiographischen Roman zeichnet der Autor ein tiefenscharfes Porträt der russischen Unterwelt, deren Mitglied er lange Jahre war, wobei er immer wieder auf zwei Charakteristika abhebt. Zum einen sind die Hierarchien und Machtstrukturen der „blatnye“ eine exakte Kopie der Kommunistischen Partei – mit Politbüro, Zentralkomitee, Räten etc. Zum zweiten haben die „blatnye“ die radikale Distanz zum Staat und seinen Institutionen zum Gesetz erhoben – wo z.B. die italienische Mafia, generell am ehesten mit den russischen „blatnye“ vergleichbar, mit allen Mittel den Staat unterwandern will, da haben die „blatnye“ ihm jegliche Form der Kooperation aufgekündigt. Sie arbeiten nicht, respektieren keine Vorschriften, leisten keinen Wehrdienst etc., und wer es aus ihrer Mitte dennoch tut, der wird ausgestoßen und muss um sein Leben fürchten. Das alles wird bei Dёmin spannend und in epischer Breite ausgeführt, ist dabei aber so authentisch, dass sein Roman damals das westeuropäische Bild von der sowjetischen Gesellschaft förmlich auf den Kopf stellte.[6]
Das Buch ist in Antiquariaten immer noch leicht zu finden, und wer es liest und seinen Inhalt mit der Murka vergleicht, kann über die Kongruenz nur staunen: Die Murka vom Lied ist bei Dёmin „Königin Margo“, die „blatnye“ sind hier wie dort dieselben, ihre spezifische „Sprache“ desgleichen, ihre Lieder, häufig im Wortlaut zitiert, sind allesamt „Schwestern“ von Murka.
Die strukturelle Ähnlichkeit von Verbrecherwelt und Partei ist in den frühen Textvarianten der Murka nur angedeutet: Die „urki“ halten „Sowjet“ (Rat), wählen ein „Komitee“ etc. Größere Veränderungen traten erst auf, als das Lied nach Moskau kam und sich Moskauer Textvarianten herausbildeten. Offenkundig kam die Murka, die Odessaer „Mascha“, erst in Moskau zu ihrem Namen. MUR war die Abkürzung von „Moskovskij ugolovnyj rozyck“ (Moskauer Kriminalpolizei), und Strafverfolger hießen in Moskau ab den 1920-er Jahren „murki“. Es gab sogar ein Sprichwort „Urki i murki igrajut v žmurki“ (Urki und Murki spielen Verstecken), das das Verhältnis von Kriminellen und „Kriminalen“ beschrieb.
Die Moskauer Murka-Varianten waren meist erheblich länger als ihre Vorlagen aus Odessa. Das lag daran, dass der Verrat Murkas in systemtreuer Breite geschilderte wurde: „Ach, ihr Sowjet-Söhne und Brüder Kommissare/ ich will mit den Urki nicht mehr leben/ ihre verschiedenen Banden sind mir zuwider/ ich will euch ihre Geheimnisse aufdecken“. Dass man damit den Text entschärfen und für Stalins Behörden tolerabler machen wollte, ist zu vermuten, zumal am Ende auch die „sozialistische Gesetzlichkeit“ siegt: Die Mörder werden gefasst und bekommen einen „dikan“ (zehn Jahre Haft) oder eine „drajka“ (drei Jahre).
Daneben gab es „Zensur-Versionen“, die nicht so leicht gesungen werden durften, oder Gelegenheitsdichtungen à la Murka. Beispielsweise blieb im Februar 1934 auf dem „nördlichen Seeweg“ der Dampfer „Čeljuskin“ im Eis stecken und seine Besatzung musste mit Flugzeugen gerettet werden. Sofort tauchten Lieder auf, in denen die tapferen Flieger und die havarierten Seeleute in Stil und Melodie der Murka besungen wurden – ironische Lieder, die den Propagandarummel um die Rettungsaktion gewaltig auf den Arm nahmen.
Alle diese Versionen sind nur noch von historischem oder sprachlichem Interesse, und es ist zweifellos interessant, was die russischen Forscher so alles herauskriegen oder in die Texte hineininterpretieren. Das russische Publikum interessiert das überhaupt nicht. Es singt eine auf die dramatischen Aspekte „verschlankte“ Version, bei der immer mal wieder ein in der Melodie leicht abgewandelter Refrain eingestreut wird: „Murka, ty moj Murenoček“ (Murka, du mein Murkalein). Aus diesem wird nicht ganz klar, ob Murka nun eine Frau oder ein Kätzchen ist. Die Geschichte des Liedes ist so voller Rätsel, dass ein weiteres im Refrain nicht ins Gewicht fällt.
Autor: Wolf Oschlies
Anmerkungen
[1] Solomon Wolkow (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch, Berlin/ München 2000; zahlreiche Aufsätze und Würdigungen des Komponisten in: Osteuropa Nr. 8/2006
[2] Vladimir Kozlovskij: Sobranie russkich vorovskich slovarej (Sammlung russischer Verbrecher-Wörterbücher), Bd. I-IV, New York 1983
[3] Vladimir Bachtin: Zabytyj i nezabytyj Jakov Jadov (Der vergessene und unvergessene Jakov Jadov), in: Neva Nr. 2/2001
[4] Vladimir Bachtin: „Murkina“ istorija (Die Geschichte der „Murka“), in: Neva Nr. 4/1997, S. 229-232
[5] Schriftsteller – Riecht nach Blut, in: Der Spiegel Nr. 8/1973, S. 114; Horst Schüler: Mafia auf russisch, in: Hamburger Abendblatt 24.3.1973, S. 2
[6] Michail Djomin: Die Tätowierten, Frankfurt M. 1973