Geschichte eines Liedes und einer Waffe – „Stalinorgel“ und „Katjuscha“
Stalinorgel. An den Fronten des Zweiten Weltkriegs soll allabendlich zehn Minuten Feuerpause gewesen sein – wenn der deutsche „Soldatensender Belgrad“ das Lied „Lilli Marleen“ ausstrahlte. Ob es speziell an der „Ostfront“ ähnlich war, ist nicht bekannt, hätte aber sein können. Was deutschen Soldaten „Lilli Marleen“ war, war russischen Soldaten die Katjuscha. Ein simples, fast schon kitschiges Liedchen, das irgendwann nach dem Krieg sogar eine deutsche Übersetzung bekam: Leuchtend prangen ringsum Apfelblüten/ still vom Fluss zog Nebel noch ins Land/ durch die Wiesen ging heimwärts Katjuscha/ einsam träumt der sonnenhelle Strand. Und so weiter, nicht aufregend, aber wirksam: Mit anderem Text wurde das Lied zur Hymne der italienischen Partisanen – lange Jahre später war die Melodie als „Kasatschok“ ein internationaler Disco-Hit.
Katjuscha gesungen
Geschrieben hatte das Lied Michail V. Isakovskij (1900-1973, Bild), ein Lyriker, der das Glück oder Pech hatte, dass seine Texte vielfach sehr melodisch vertont und dadurch zu Evergreens der russischen Musikszene wurden. Russische Familien können viele oder wenige Bücher besitzen – ein „Pesennik“ (Liederbuch) ist immer dabei, und es enthält die Lieder, mit denen schon die Großeltern aufwuchsen und die die Enkel immer noch singen. Darunter auf Platz eins die Katjuscha, 1939 entstanden und lange in der Schublade abgelegt, wie es Dichter eben so mit Texten halten, für die sie momentan keine Verwendung haben – falls sie überhaupt an merkantile Verwertung von solchen Augenblicks-Kreationen denken.
Aus Schostakowitschs Memoiren[1] ist die besondere Tragik musikalischen Schaffens unter dem Stalinismus bekannt: Der primitive Kleinbürger Stalin verstand nichts von Musik, schon gar nicht von moderner. Diese ließ er ganz offiziell als „Formalismus“ verdammen und ihre Komponisten verfolgen – besonders den damals schon weltberühmten Schostakowitsch. Dieser war zwar kein Feigling, aber auch kein tollkühner Draufgänger. Er fügte sich (wie alle Komponisten sich fügten) und schrieb fortan leichte, singbare Musikstücke, die sich gut in Filmen verwenden ließen und allen Zuschauern als „Ohrwürmer“ eingingen.
Schostakowitsch hat sich für diese seine Musik geschämt, sie „scheußliche Machwerke“ genannt. Sein Urteil betraf natürlich nicht die Musik als solche, es war eher die Selbstbezichtigung eines Künstlers, den politische Ignoranten gezwungen hatten, künstlerisch und stilistisch „fremdzugehen“. Ein seriöser Symphoniker schreibt keine Gassenhauer (mag Schostakowitsch gedacht haben), womit nicht automatisch ein Werturteil über Gassenhauer verbunden ist. Wenn die Menschen einen bestimmten Wohlklang lieben, singen, pfeifen, dann ist dagegen doch gar nichts zu sagen.
Und die Lieder sind einfach schön: Vor ein paar Jahren drehte das Russische Staatsfernsehen den großen Film „Alte Lieder über Hauptsächliches“, der mit minimalem Budget auskam. Eine Handlung hatte der Film eigentlich nicht. In eine Dorfszene wurden ein paar Sänger und Musikgruppen gestellt, die die alten Lieder sangen – meist in karikierendem Outfit, aber das war nur äußerlich. Wichtig waren allein die Lieder, die um so nachhaltiger herüber kamen, als sie zur filmischen Szene in maximalem Gegensatz standen – wenn drei Wodka-selige Suffnasen in bester russischer Dreistimmigkeit das alte Lied vom Begräbnis des Panzersoldaten singen, dann bleibt kein Auge trocken.
Unübertroffener Meister dieser volkstümlichen Tonkunst war Matvej I. Blanter (1903-1990, Bild), ein Erfolgskomponist, dessen unvergänglichen Ruhm etwa 200 Lieder künden und dessen 100. Geburtstag 2003 mit einem „Allrussischen Festival“ gewürdigt wurde. Blanters Metier war die sog. „Estraden-Musik“, also die leichte, unterhaltsame Musik, die bei den größeren Theatern in eigenen Studios gepflegt wurde. Ab 1926 war Blanter in mehreren dieser Studios tätig, wenn er sie (Leningrader „Satirisches Theater“, „Miniaturtheater“ in Gorki u.a.) nicht gleich leitete. Seine Lieder hielten musikalisch die goldene Mitte zwischen klassischer russischer Liedfolklore und der spezifischen „Stadtfolklore“ neuerer russischer Schlager. In dieser unverwechselbaren Manier vertonte er im Zweiten Weltkrieg auch Partisanenlieder und ähnliches, was alle größten Erfolg hatte und dem Komponisten 1946 den begehrten „Stalin-Preis“ einbrachte.
Katjuscha geschossen als „Stalinorgel“
Blanters unvergänglichster Hit war natürlich Katjuscha, welchem Lied die Russen schon früh ein besonderes „Denkmal“ setzten: Katjuscha war auch der volkstümliche Name des Mehrfach-Raketenwerfers BM-32, der bei deutschen Soldaten Stalinorgel genannt und gefürchtet wurde: Wenn die auf LKWs montierten Werfer ihr infernalisches Gejaule anstimmten, dann war sicherste Deckung der bessere Teil der Klugheit.
Was man bislang nicht kannte, ist die tragische Geschichte der Erfindung, Entwicklung und Verwendung der Katjuscha – eine typische Story aus dem Stalinismus, der in ideologischer Verblendung Menschen zu Hunderttausenden verschwendete und dadurch das ganze russische Volk in die größte Gefahr seiner Geschichte zog. Bis heute tun sich die Russen schwer damit, die zwei schlimmsten Untaten Stalins in ihrem ganzen Ausmaß und in ihrer wechselseitigen Verknüpfung einzugestehen: Stalin „köpfte“ seine Rote Armee und ging eine enge Kumpanei mit Hitler ein. Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, stieß er anfänglich kaum auf Widerstand der angeblich „unbesiegbaren“, tatsächlich fast um ihr gesamtes Offizierskorps gebrachten Roten Armee: „Unaufhaltsamer Rückzug, blutige Kesselschlachten, verzweifelte Versuche zur Frontstabilisierung – das war die bittere Realität (…) für die UdSSR, deren Führer sie immer als unbesiegbar deklarierten“.[2]
Am Ende stand die Sowjetunion auf der Siegerseite, und die Salven der Katjuscha hatten nicht unwesentlich zu diesem Sieg beigetragen. Rein waffentechnisch war sie nicht neu, und die Bezeichnung „Stalinorgel“ verweist auf das Prinzip, das schon mehrfach in der Kriegsgeschichte angewendet worden war: Mehrere Geschützläufe werden wie Orgelpfeifen nebeneinander montiert, um die Wirkung der Salven zu erhöhen. Solche Rohrkombinationen waren schon vor Jahrhunderten auf spanischen Kriegsschiffen vorhanden – Flinten- oder Musketenläufe wurden gebündelt und gaben so eine gute Verteidigungswaffe gegen enternde Feinde ab. Im 19. Jahrhundert entstand die „Mitrailleuse“, eine Vorform des späteren Maschinengewehrs, die nach demselben Prinzip gebaut war. Im Zweiten Weltkrieg wurde in der deutschen Armee der sog. „Nebelwerfer“ (benannt nach seinem Erfinder, dem Raketenforscher Rudolf Nebel) verwendet, der sozusagen die deutsche Katjuscha war. Nebel (1894-1978) war einer der Lehrer Wernhers von Braun, aber mit seinen bahnbrechenden Entdeckungen konnte er bei den Nationalsozialisten kaum landen.
Grave – Vater der Katjuscha
Geistiger Vater der russischen Katjuscha war Ivan P. Grave (1874-1960, Bild), ein Adliger, dem eine große Karriere als Artillerist bevorstand.[3] Er hatte das Kadettenkorps in Simbirsk absolviert, anschließend eine niedere und eine höhere Fachschule für Artillerie. Von 1904 bis 1912 lehrte er an der Artillerie-Akademie in Michajlov, avancierte zum Oberst der leichten Garde-Artillerie und schrieb eine Dissertation über Druckverhältnisse bei Artilleriegeschossen mit verschiedenem Schießpulver. 1916 bekam er sein erstes (von insgesamt neun) Patent für ein neues Geschütz mit Munition aus rauch- und rückstandsfreiem Pulver. Aber da war der Erste Weltkrieg bereits in einem Stadium, in welchem sich die russische Kriegsleitung für solche Erfindungen nicht sonderlich interessierte. Grave musste froh sein, dass ihm eine Pulverfabrik in Šlissel’burg ein kleines Labor einrichtetet, in dem er an seinen Projekten weiterwerkeln konnte.
Nach der bolschewistischen Revolution von 1917 musste Grave entscheiden, wie seine Zukunft aussehen sollte. Er hätte ohne jede Probleme in Frankreich weiterarbeiten können, wo man seine Arbeiten und Ergebnisse seit Jahren mit größtem Beifall registriert hatte. Aber er blieb in Russland und hatte es anfänglich nicht zu bereuen: Vizedirektor der Artillerie-Akademie, Gründer und späterer Leiter eine ballistischen Fachlabors, Mitglied der Beratungskommission besondere artilleristische Versuche (KOSARTOP) etc. Sogar sein altes Patent wurde 1924 erneuert.
Aber das war nur eine Seite des genialen Grave. Die andere war seine adlige Herkunft, die ihn zu allen Zeiten den neuen „proletarischen“ Machthabern verdächtig machte und ihm bereits 1919 eine viermonatige Untersuchungshaft eingetragen hatte. Grave wurde aus der praktischen Erprobung von Neueinführungen in der Artillerie herausgedrängt und konzentrierte sich fortan auf rein theoretische Arbeiten.
1931 wurde Grave als angeblicher „Schädling“ erneut verhaftet, nach kurzer Zeit wegen erwiesener Unschuld wieder freigelassen. Mehr noch: Am 4. Oktober 1932 publizierte „Krasnaja zvezda“ (Roter Stern, Tageszeitung des Verteidigungsministeriums) einen großen Artikel Graves über Raketentechnik.
1938 geriet Grave erneut ins Visier der stalinistischen Geheimpolizei, die ihn zum „Aktivisten einer konterrevolutionären monarchistischen Offiziersorganisation“ stempelte. Im russischen Präsidialarchiv fand sich ein Bericht des Geheimdienstchefs Jeshov, der Stalin eine Liste von Verdächtigen, „die zwecks Verhaftung untersucht werden“, zuschickte. Stalin notierte auf der Liste: „Nicht untersuchen – sofort verhaften!“ So geschah es, zusammen mit Grave wanderten rund hundert Menschen ins Gefängnis, darunter fast die gesamte Forschungselite des „Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Raketen“ (RNII). RNII-Direktor I. Klejmenov und Oberingenieur G. Langemak wurden erschossen, andere überlebten in einer „šaraška“, den aus Solženicyns „Erstem Kreis der Hölle“ bekannten Forschungsstätten, die in Stalins Lagern und Gefängnissen bestanden. Auch Grave war zur Erschießung vorgesehen, wurde aber vom heraufkommenden Krieg gerettet. Am 23. Februar 1939, dem „Tag der Roten Armee“, fragte Stalin bei einem Empfang im Kreml, wo eigentlich die prominenten Raketenbauer seien. Man meldete ihm, sie seien alle verhaftet, was er mit einem einzigen Wort kommentierte: „Freilassen!“
Wenige Tage später trat Grave im Büro des neuen Geheimdienstchefs Berija an, bekam seine Papiere zurück und war wieder ein freier Mann. Bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus, dass sein Patent von 1924 hätte erneuert werden müssen, was für einen Inhaftierten natürlich unmöglich war. Er solle stolz sein (wurde ihm bedeutet), dass „sein Patent der Heimat, dem Arbeiter- und Bauernstaat gehört“.[4]
1942 wurde Grave für ein umfangreiches Werk über Ballistik mit dem Stalinpreis geehrt, 1952 erneut verhaftet – diesmal unter dem Verdacht, an einer „Verschwörung“ unter höchsten Artillerieoffizieren beteiligt zu sein. Im März 1953 starb Stalin, was Grave einmal mehr rettete. Er wurde rehabilitiert, bekam alle Auszeichnungen und Ehrentitel zurück, das Verbot seiner Bücher wurde aufgehoben, er durfte in seinem angestammten Metier arbeiten. 1960 starb er und wurde auf dem Moskauer „Novodevič’e-Friedhof“ beigesetzt.
Katjuscha, Stalinorgel – Lärmquelle oder Wunderwaffe?
„Sowjetische Erfindungen“ – das war jahrzehntelang ein Witzwort in Osteuropa, nachdem die Sowjets im Sommer 1945 die abenteuerliche Behauptung in die Welt gesetzt hatten, dass praktisch alle großen Erfindungen der Menschheitsgeschichte von Russen gemacht worden waren.[5] Der ganze Osten lachte sich scheckig: Diese primitiven Russkis wollen etwas „erfunden“ haben – zum Totlachen!
Natürlich gibt es sowjetische (russische) Erfindungen, die in den seltensten Fällen originäre Schöpfungen, im Regelfall aber sehr praktikable, „unkaputtbare“ Weiterentwicklungen bestehender Muster sind. So bekam die sowjetische Raketenfertigung erst durch erbeutete deutsche V-2-Raketen den „Entwicklungsschub“, der sie in den späten 1950-er Jahren kurzfristig die Führung im internationalen Raketenwettlauf übernehmen ließ.[6]
In diese Reihe genialer Nachschöpfungen und Weiterentwicklungen passt die Stalinorgel nur bedingt. Sie war ein russisches Eigengewächs, basierend auf den Vorarbeiten von Grave mit dem rauch- und rückstandsfreien Pulver, und praktiziert als Bündelung von Raketen. Als sie am 14. Juli 1941 erstmals am nordrussischen Eisenbahn-Knotenpunkt Orša eingesetzt wurde, hatte sie eine verheerende Wirkung auf die deutschen Angreifer, wie später aus erbeuteten Berichten ermittelt wurde.
Diese Wirkung hat sich im Verlauf des Krieges ungezählte Male wiederholt, auch danach blieb sie erschreckend. Beispielsweise haben Raketenwerfer des Typs Katjuscha bei Konflikten im Nahen Osten immer wieder eine Rolle gespielt, jetzt iranischer Produktion und in den Händen Hisbollah-Milizen im Libanon.
Die Wirkung der Katjuscha auf deutsche Soldaten hat der deutsche Autor Gert Ledig (1921-1991, Bild) zehn Jahre nach dem Krieg in seinem Roman „Die Stalinorgel“ beschrieben. Das Buch war ein großer internationaler Erfolg, galt als beste literarische Darstellung des Kriegs, wurde aber bald vergessen. 2000 wurde es wiederentdeckt, bald darauf aber erneut vergessen. Ähnlich erging es anderen Büchern Ledigs, etwa dem 1956 entstandenen Roman „Vergeltung“, der die Auswirkungen alliierter Bombardements auf die deutsche Zivilbevölkerung thematisierte.
Tatsache ist, dass die Katjuscha als Einzelwaffe nicht viel taugte. Sie bestand aus schwenkbaren Leitschienen, von 2,5 bis 5 Meter Länge, die auf LKWs montiert waren. Es gab verschiedene Typen der Stalinorgel, die unterschiedlich viele Raketen (16-54) mit unterschiedlichem Gewicht (54-80 kg) über unterschiedliche Entfernungen (2.500-8.000, später sogar 11.800 Meter) verfeuerten. Die Zielgenauigkeit war schwach, die Einschlagswirkung gering, es dauerte Ewigkeiten, eine Katjuscha für neue Salven nachzuladen.
Aber alle diese Mängel wurden mehr als wettgemacht, da man die Katjuschas in großer Ballung einsetzte, wodurch ihre Raketen – die mit zeitlicher Verzögerung von einer halben Sekunde abgeschossen wurden – eine flächendeckende Breitenwirkung erlangten. Hinzu kam, wie erwähnt, das furchteinflößendes Zischen beim Feuern der Stalinorgel, das erst deutsche Soldaten kennen lernten, danach auch andere im Koreakrieg, im Vietnamkrieg, in weiteren Konflikten, die bis auf den heutigen Tag ausgetragen werden.
Autor: Wolf Oschlies
Anmerkungen und Quellen
[1] Solomon Volkow (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch, Hamburg 1979
[2] Igor F. Maximytschew: Der Zweite Weltkrieg und das deutsch-russische Verhältnis. Die russische Perspektive, in: Museum Berlin-Karlshort (Hrsg.): Erinnerung an einen Krieg, Berlin o.J., S. 20-23
[3] Andrej Gračev: Otec „katjuši“ (Der Vater der Katjuscha / Stalinorgel), in: Rodina Nr. 3/2004
[4] Nikolaj Jamskoj: Po imeni „Katjuša“ (Im Namen Katjuschas), in: Ogonek Nr. 28/2006
[5] Werner Keller: Ost minus West = Null. Der Aufbau Russlands durch den Westen, München/Zürich 1960, S. 317 ff.