Der Morgenthau-Plan von 1944: Ein umstrittenes Deutschland-Programm nach der Kapitulation. Den Vorschlag für ein Deutschland-Programm legte Morgenthau im September 1944 vor. Der Plan sah eine Deindustrialisierung Deutschlands vor.
Mythos und Wahrheit eines umstrittenen Kapitels der (Nach-)Kriegsgeschichte des Zweiten Weltkrieges.
Die Entstehung des Plans im Kontext des Kriegsendes
Als sich im Sommer 1944 der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, begannen in Washington und London intensive Diskussionen über die Zukunft Deutschlands nach der Kapitulation. Inmitten dieser Debatten trat US-Finanzminister Henry Morgenthau Jr. mit einem radikalen Vorschlag hervor, der als „Morgenthau-Plan“ in die Geschichte eingehen sollte.
Finanzminister Henry Morgenthau Jr., der von November 1934 bis Juli 1945 im Kabinett von US-Präsident Franklin D. Roosevelt diente, war bekannt für seine harte Haltung gegenüber Nazi-Deutschland. Der Historiker Michael Beschloss erklärt:
„Morgenthau, selbst jüdischer Abstammung, war tief erschüttert von den Berichten über die NS-Gräueltaten. Er glaubte, dass nur eine radikale Lösung Deutschland daran hindern könnte, in Zukunft wieder eine Bedrohung darzustellen.“
Der Plan: Deutschland als Agrarstaat
Am 6. September 1944 legte Morgenthau Präsident Roosevelt ein Memorandum vor, das offiziell als „Vorschlag für ein Deutschland-Programm nach der Kapitulation“ betitelt war. Der Kern dieses Plans war die Umwandlung Deutschlands in einen Agrarstaat durch umfassende Deindustrialisierung.
Die Hauptpunkte des Morgenthau-Plans waren:
- Demontage der deutschen Industrie, insbesondere im Ruhrgebiet
- Umwandlung Deutschlands in einen vorwiegend landwirtschaftlichen und pastoralen Staat
- Aufteilung Deutschlands in zwei unabhängige Staaten
- Internationale Kontrolle der Wirtschaftsregionen an Rhein und Ruhr
- Umfangreiche Gebietsabtretungen an Nachbarländer
- Strenge Bestrafung von Kriegsverbrechern
Der Historiker Golo Mann kommentierte die Radikalität des Plans:
„Die Vorstellung, Deutschland des Jahres 1944 in einen Agrarstaat zu verwandeln, zeugt von einer erschreckenden Unkenntnis der wirtschaftlichen und sozialen Realitäten. Es hätte Millionen Deutsche dem Hungertod preisgegeben und Europa auf Jahrzehnte destabilisiert.“
Die Konferenz von Quebec: Höhepunkt und Wendepunkt
Ende September 1944 wurde das Vorhaben auf der Konferenz in Quebec zwischen Roosevelt und dem britischen Premierminister Winston Churchill diskutiert. Zunächst schien Churchill zuzustimmen, möglicherweise aufgrund der prekären finanziellen Lage Großbritanniens und der Hoffnung auf weitere amerikanische Unterstützung.
Der Historiker John Keegan beschreibt die Situation:
„In Quebec erreichte der Morgenthau-Plan seinen Höhepunkt. Für einen kurzen Moment schien es, als würden die beiden mächtigsten Führer der Alliierten einen Plan unterstützen, der Deutschland praktisch auslöschen würde.“
Doch die Reaktionen in Washington und London waren überwiegend negativ. Insbesondere US-Kriegsminister Henry Stimson protestierte vehement. In einem Memorandum an Roosevelt schrieb er:
„Es ist ein Verbrechen gegen die Zivilisation selbst, ein großes Volk zu vernichten und zu einem Volk von Kleinbauern zu degradieren. Es würde Europa um Jahrhunderte zurückwerfen.“
Öffentliche Reaktion und propagandistische Ausnutzung
Durch eine gezielte Indiskretion gelangte das Dokument am 21. September 1944 in die Öffentlichkeit. Die Reaktion war so negativ, dass Roosevelt gezwungen war, sich von dem Plan zu distanzieren.
Joseph Goebbels, der NS-Propagandaminister, nutzte die Veröffentlichung des Plans mit großem Erfolg für seine Durchhaltepropaganda. In einer Rede erklärte er:
„Der Morgenthau-Plan beweist, was wir immer gesagt haben: Die Alliierten wollen das deutsche Volk vernichten. Jetzt müssen wir bis zum letzten Mann kämpfen, um unser Vaterland zu retten!“
Der Historiker Ian Kershaw kommentiert die Wirkung von Goebbels‘ Propaganda:
„Die Veröffentlichung war ein unerwartetes Geschenk für Goebbels und Hitler. Es stärkte den Durchhaltewillen vieler Deutscher und verlängerte möglicherweise den Krieg um Monate, was unzählige zusätzliche Opfer forderte.“
Das Ende des Morgenthau-Plans
Mit dem Tod Roosevelts im April 1945 und der Amtsübernahme durch den neuen Präsidenten Harry S. Truman wurden die Planungen endgültig ad acta gelegt. Morgenthau trat im Juli 1945 als Finanzminister zurück.
Der Historiker Tony Judt fasst das Scheitern zusammen:
„Der Morgenthau-Plan wurde von der Entwicklung überrollt. Die Realitäten des sich anbahnenden Kalten Krieges und die Notwendigkeit eines stabilen Westeuropas als Bollwerk gegen den Kommunismus machten eine moderate Deutschlandpolitik unumgänglich.“
Die Bestrafung der NS-Täter: Ein alternatives Konzept
Während der Morgenthau-Plan in seiner Gesamtheit abgelehnt wurde, blieb die Frage der Bestrafung von Kriegsverbrechern ein zentrales Thema. Statt einer kollektiven Bestrafung des deutschen Volkes setzte sich das Konzept der individuellen Verantwortung durch.
Der Historiker Telford Taylor, der als Ankläger bei den Nürnberger Prozessen diente, erklärte:
„Die Entscheidung, führende Nazis vor Gericht zu stellen, anstatt sie summarisch zu exekutieren oder das gesamte deutsche Volk zu bestrafen, war ein Triumph des Rechtsstaatsprinzips. Es setzte einen wichtigen Präzedenzfall für das internationale Recht.“
Langfristige Auswirkungen und die „Morgenthau-Legende“
Obwohl Morgenthaus Vorhaben nie umgesetzt wurde, hatte er langfristige Auswirkungen auf die deutsche und internationale Politik. In der rechtsextremen Publizistik spielt die „Morgenthau-Legende“ bis heute eine Rolle.
Der Historiker Norbert Frei erklärt:
„Die Morgenthau-Legende diente lange Zeit als Projektionsfläche für Verschwörungstheorien und antisemitische Ressentiments. Sie verstellt bis heute manchmal den Blick auf die tatsächliche Besatzungs- und Deutschlandpolitik der Alliierten nach 1945, die weitaus moderater und konstruktiver war, als der Plan es vorsah.“
Der Marshall-Plan: Die konstruktive Alternative
Statt des Morgenthau-Plans wurde schließlich der Marshallplan implementiert, der auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas, einschließlich Westdeutschlands, abzielte.
Der Ökonom John Kenneth Galbraith, der an der Ausarbeitung des Marshallplans beteiligt war, kommentierte:
„Der Marshall-Plan war das genaue Gegenteil des Morgenthau-Plans. Er erkannte, dass ein prosperierendes Deutschland für die Stabilität und den Wohlstand ganz Europas unerlässlich war. Es war eine Investition in den Frieden.“
Fazit: Ein kontroverses Kapitel der Nachkriegsplanung
Auch 60 Jahre nach seiner Entstehung bleibt der Morgenthau-Plan ein kontroverses Kapitel der Nachkriegsplanung. Er zeigt, wie in der aufgeheizten Atmosphäre des Kriegsendes auch extreme Vorschläge diskutiert wurden.
Der Historiker Heinrich August Winkler zieht folgendes Fazit:
„Der Morgenthau-Plan war ein Extrembeispiel für die Rachegefühle und Ängste, die das NS-Regime ausgelöst hatte. Dass er letztlich nicht umgesetzt wurde, zeugt von der Einsicht der Alliierten, dass nur ein wirtschaftlich stabiles Deutschland den Frieden in Europa sichern konnte. Seine Ablehnung war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem geeinten und friedlichen Europa.“
Er bleibt ein mahnendes Beispiel dafür, wie selbst in demokratischen Systemen extreme Ideen entstehen können, die fundamentale Menschenrechte missachten. Gleichzeitig zeigt seine Ablehnung die Fähigkeit solcher Systeme zur Selbstkorrektur und zur Entwicklung konstruktiverer Lösungen.
Literatur
Wolfgang Benz: Morgenthau Plan. In: Wolfgang Benz: Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. dtv, München 1998, (Text online).
Wolfgang Benz: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946–1949. Frankfurt am Main 1989.
John Morton Blum: Deutschland ein Ackerland? Morgenthau und die amerikanische Kriegspolitik 1941–1945. Droste, Düsseldorf 1968.
Harry G. Gelber: Der Morgenthau Plan. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 13, 1965, Heft 4, S. 372–402, Text ifz-muenchen.de (PDF; 5,9 MB).
Wilfried Mausbach: Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944–1947 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 30). Droste, Düsseldorf 1996.
Bernd Greiner: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans. Hamburger Edition, Hamburg 1995.
Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 1995.
Wolfgang Krieger: Die amerikanische Deutschlandplanung. In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs.München 1995, S. 25–50.