Das Konzentrationslager Auschwitz (KL Au) bestand vom 27. April 1940, als SS-„Reichsführer“ Heinrich Himmler den Befehl zu seinem Bau erteilte, bis zum 27. Januar 1945, als das Lager von der vorrückenden Sowjetarmee befreit wurde. In diesem Zeitraum wurden in Auschwitz mindestens 1,2 Millionen Menschen umgebracht, vermutlich sogar 1,5 Millionen oder mehr. Wie polnische Historiker akribisch ermittelt haben, hat es in den knapp fünf Jahren 802 Fluchtversuche (757 Männer und 45 Frauen) gegeben, die meisten, nämlich 396, von Polen. In 144 Fällen glückte die Flucht, 372 endeten durch Erschießen oder Festnahmen, bei den verbleibenden Fällen ist der Ausgang unbekannt.
Stellvertretender Kommandant war SS-Hauptsturmführer Karl Fritzsch (1903-1945, Bild), der neu eingetroffene „Transporte“ mit diesen Worten einwies: „Das hier ist kein Sanatorium, nur ein Konzentrationslager. Hier muss man arbeiten und nichts als arbeiten. Sollte jemand auf die idiotische Idee kommen zu fliehen, dann soll er wissen, dass bei jeder Flucht aus einem Arbeitskommando zehn andere aus seinem Block oder seinem Kommando getötet werden. Das ist die Wahrheit, und so werden wir verfahren“.
So berichtete es noch 2012 Kazimierz Piechowski, dem am 20. Juni 1942 die vermutlich waghalsigste Flucht aus Auschwitz gelungen war. Am 15. Dezember 2017 ist er im Alter von 98 Jahren in Gdańsk gestorben, und dieser Todesfall führte in Polen und anderswo dazu, sich wieder an das bewegte Leben dieses Mannes zu erinnern.
Auf dem KZ-Bild ist die Nummer 918 zu erkennen, die Piechowski als einen der ersten Häftlinge von Auschwitz auswies. Dieser Nachfahre eines altpommerschen Adelsgeschlechts wurde am 3. Oktober 1919 in Rajkau, seit 1920 polnisch Rajkowy, geboren. In jungen Jahren war er begeisterter Pfadfinder, nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939) und der polnischen Kapitulation (6. Oktober 1939) versuchte er, mit seinem Kameraden Alfons Kiprowski (1921-2005, Häftlingsnummer 801) über Ungarn nach Frankreich zu gelangen, wo sich eine polnische Exilregierung gebildet hatte. Am 20. Juni 1940 wurden die beiden an der Grenze Polens von einer deutschen Patrouille gefasst und mit 312 polnischen Mitgefangenen im zweiten Transport ins KZ Auschwitz gebracht. Zuvor waren 30 Kriminelle als „Kapos“ von Sachsenhausen nach Auschwitz gebracht worden, dann am 14. Juni der erste Transport mit 728 Gefangenen aus Tarnów. In Auschwitz musste Piechowski nach anderen Arbeiten Leichentransporte verrichten, vorwiegend von der „Todeswand“ (Ściana Śmnierci) vor Block 11, eine physisch wie psychisch extrem schwere Tätigkeit. Im August 1941 war Piechowski Augenzeuge jener legendären Szene, als der polnische Priester Maksymilian Kolbe (1894-1941) anstelle des Polen Franciszek Gajowniczek (1901-1995) im Hungerbunker sterben wollte. Piechowski erinnerte sich nach Jahrzehnten an alle Details. Kolbe zum Vize-Kommandanten Fritzsch: „Ich möchte für diesen Gefangenen in den Tod gehen“. Fritzsch (nach kurzem Zögern): „Soll er gehen, den anderen schickt zurück“. Piechowski selber verdankte sein Leben (wie viele andere) dem deutschen Kapo Otto Küsel (1909-1984) mit der Häftlingsnummer 2, ein Häftling mit „grünem Winkel“ (Krimineller), der als fairer „Engel der Polen“ berühmt wurde
Küsel steckte Piechowski in das „Hauptwirtschaftslager“ (HWL), wo Transporte für SS-Einheiten im weiteren Umkreis versehen wurden. „Diese Arbeit gab Hoffnung auf ein Überleben“, erinnerte sich Piechowski noch 2012. Dazu verhalf vor allem eine verschworene Gemeinschaft, die unter Piechowski eine Flucht plante:
Bendera, Eugeniusz (Gieniek), ein Ukrainer, der in Auschwitz in einer Autowerkstatt arbeitete (1906-1988), Häftlingsnummer 8502. Bendera überlebte den Krieg, blieb in Polen, wo er in seinem Beruf arbeitete. Sein Sohn Richard wurde Arzt, seine Enkelin ist eine Filmregisseurin.
Den Fluchtplan hatte Piechowski schon länger erwogen, musste ihn dann aber eilig realisieren, nachdem Bendera im Mai 1942 erfahren hatte, dass er auf einer Liste der Vergasungen stand. Das Problem einer Flucht war, dass rund um das Lager deutsche Bauern angesiedelt waren, die niemals einem polnischen Flüchtling geholfen hätten. Man musste in einem amtlichen Fahrzeug kommen, das niemand anhalten würde. Unter diesen Umständen machte Piechowski aus der Not eine Tugend: Am 20. Juni 1942 – einem Sonnabend, als die SS-Bewacher in Gedanken schon in „Wochenenderholung mit ihre Fräuleins“ waren – führte Piechowski als „Vorarbeiter 918“ die Gruppe als „Rollwagenkommando“ gegen 15 Uhr ins HWL; wo sie auf Weisung Benderas einen PKW der Lagerleitung, Typ „Steyer 220“, Kennzeichen „SS-20868“, stahlen. Bendera hatte auch Schlüssel für Magazine verfertigt, in denen Waffen und Uniformen lagerten. Piechowski kleidete sich als „Untersturmführer“ (Leutnant) ein, Jaster und Lempart als einfache SS-Männer, Bendera als gefesselter „Gefangener“. Das wirkte so authentisch, dass die Lagerwache gar nicht erst kontrollierte, ob ein „Rollwagenkommando“ vorgesehen war. Der Trupp kam bis an den „szlaban“ (Schlagbaum) am Lagereingang, den der Wachhabende erst hob, als der polyglotte Piechowski ihn in bestem Landserdeutsch anbrüllte: „Worauf wartest du Arsch noch? Zieh die Schranke hoch, oder ich mach’ dir Beine!“ Die Schanke ging hoch, das Quartett fuhr „ku wolności“ (in die Freiheit). Tatsächlich ging die Fahrt nur ins nahe gelegene „Generalgouvernement“ („Nebenland des Reiches“), seit dem 12. Oktober 1939 deutsches Besatzungsgebiet (142.000 km², 18 Millionen Einwohner, zu 72 Prozent Polen), wo sich die Polen leichter verbergen konnten. Im reichsdeutschen Oberschlesien, zu dem Auschwitz gehörte, wäre das erheblich schwerer gewesen. Zu Piechowskis Ärger kam bald das Gerücht auf, das sogar in Spottliedern verewigt wurde, die Flüchtlinge hätten sich bei Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss in einem hämischen Brief dafür entschuldigt, dass sie seinen PKW zweckentfremdeten. Dazu Piechowski 2012: „Das sind doch Märchen. Wir haben gar nichts abgeschickt“.
Jaster trug einen geheimen Bericht an das Oberkommando der AK bei sich, den Witold Pilecki (1901-1948, Bild) verfasst hatte. Der ehemals polnische Offizier Pilecki war Chef der „Geheimen Polnischen Armee“, des Aufklärungsdienstes der AK. Pilecki war aus freiem Willen ins KZ Auschwitz gegangen, um über die dort herrschenden Zustände aus eigenem Erleben zu berichten. Was er sah, war so verheerend, dass er der AK-Führung einen bewaffneten Angriff auf das KZ vorschlug, was diese ablehnte. Pileckis Berichte waren eine hochkarätige Informationsquelle, in mindestens einem Fall jedoch mit tragischen Folgen. Ausgerechnet Jaster, der seinen Bericht weitergab, beschuldigte er, geheime Kontakte zur deutschen Gestapo zu haben. Das klang so glaubwürdig, dass die AK Jaster in einem Geheimprozess zum Tode verurteilen und darauf erschießen ließ. Erst lange nach Kriegsende fanden polnische Historiker heraus, dass Jaster niemals Gestapo-Kontakte gehabt hatte. Piechowski war das von Anfang an klar, wie er 2012 darlegte: „(…) bereits einen Tag nach unserer Flucht drangen die Deutschen ins Elternhaus von Staszek (Jaster) ein, verschleppten die Eltern ins Konzentrationslager Auschwitz und brachten sie um. Wie soll ich das glauben, dass sie als Belohnung für seine angebliche Kooperation ihm die Eltern ermordeten? (…) Ich habe polnische und deutsche Dokumente, die zweifelsfrei die Unschuld von Staszek bezeugen“.
Pilecki blieb in Auschwitz, wo sein konspiratives Widerstandsnetz ehemaliger Offiziere gute Arbeit leistete, bis es nicht mehr ging: In der Nacht vom 26. zum 27. April flüchteten er und Jan Redzej (1910-1944, Häftlingsnummer 5430) sowie Edward Ciesieski (1922-1962, Häftlingsnummer 12969). Pilecki ging wieder zur AK, für die er 1944 im Warschauer Aufstand kämpfte. Nach dessen Zusammenbruch schloss er sich den polnischen Truppen in Italien unter General Władysław Anders an und kehrte Ende 1945 nach Polen zurück. Dort inhaftierte ihn das neue kommunistische Regime und verurteile ihn wegen „Spionage“ zum Tode, den er (vermutlich) am 25. Mai 1947 im Warschauer Gefängnis Mokotow erlitt. Erst 1990 wurde er rehabilitiert.
In Auschwitz herrschte nach der Flucht von Piechowski und anderen die größte Aufregung, wobei es dem Kapo Kurt Pachala (1895-1943, Häftlingsnummer 24) besonders übel erging, was die Häftlinge beinahe schadenfroh hinnahmen. Pachala setzte allen Ehrgeiz daran, „seine“ Gefangenen als Mustertruppe zu dressieren, die singend zur und von der Arbeit marschierte, „er zwang uns, deutsche Lieder zu lernen“, „er schlug uns gern mit einem Stock, er genoss seine Macht“ etc. (Piechowski). In der Untersuchung, die der Flucht der Vier folgte, ließ man ihn als „Hauptschuldigen“ in einem „Stehbunker“ (90 x 90 cm, 2 m) qualvoll verhungern und verdursten – „er war eben ein Opferlamm“ (Piechowski). Besser erging es den sieben SS-Chargen, die man auf Befehl von Richard Glücks, „Inspektor der KZs“, an die Ostfront versetzte.
Auch die Flüchtlinge durchlebten einiges: Die Frau von Bendera heiratete einen Deutschen, was sie zwar vor Verfolgung schützte, es Bendera aber unmöglich machte, noch einmal seinen Sohn zu sehen. Lempart hatte für kurze Zeit Zuflucht in dem Kloster Stary Sacz (Alt Sandez) gefunden, von dort schickte er einen „gryps“ (Kassiber) an seine Mutter, die sich daraufhin versteckte. Die Deutschen spürten sie jedoch auf und brachten sie nach Auschwitz, wo sie umkam. Piechowskis Eltern waren schon im Dezember 1939 in einem großen Landgut untergetaucht, wo die Mutter als Melkerin, der Vater als Schmiedegehilfe arbeiteten und beide bis Kriegsende in einer Box für Kühe lebten. Ihr Sohn kämpfte bis Kriegsende in den Reihen der AK, kehrte dann in sein geliebtes „Pomorze“ (Pommern) zurück, wo er bei der kommunistischen Geheimpolizei als ehemaliger AK-Kämpfer denunziert und zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, wovon er sieben Jahre absaß. Als er freikam, nahm er augenblicklich sein Technikstudium wieder auf, wurde Ingenieur und arbeitete in der „Stocznia Gdańska“ (Danziger Werft), die durch die Arbeiterunruhen 1970 und 1980 weltbekannt wurde.
Nach Auschwitz traute sich Piechowski erst 40 Jahre nach seiner Flucht wieder, auf eindringliches Zureden seiner Frau IIga; später noch einmal 2002. Etwas verloren stand er vor dem berüchtigten KZ-Tor „Arbeit macht frei“, man sah es ihm an, dass er lieber woanders gewesen wäre. Inzwischen hatte er unter dem Titel „Ich war eine Nummer“ seine Erinnerungen an Auschwitz veröffentlicht, andere hatten über ihn geschrieben oder Filme gedreht, der polnische Staat dekorierte ihn mit seinen höchsten Auszeichnungen. Jetzt lebt er nicht mehr. In den letzten Dezembertagen 2017 verstarb der vielleicht kühnste „Ucienkinier“ (Flüchtling) aus Auschwitz, der gewiss schrecklichsten „Todesfabrik“ des deutschen Nationalsozialismus.
Autor: Wolf Oschlies