Dass Hitler Polen zerstören und die polnische Intelligenz vernichten wollte, stand nie außer Frage. Zu häufig hatte die NS-Propaganda das deutsch-polnische Verhältnis als einen jahrhundertelangen „Lebenskampf“ hingestellt[1] und polnische Politik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs als „von einem Hassgefühl ohnegleichen gegen alles Deutsche erfüllt“ charakterisiert.[2] Insofern war es nur konsequent, daß der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 ausdrücklich nicht als „Krieg“, sondern nur als „Strafaktion“ oder ähnlich bezeichnet werden durfte. Nach 18 Tagen war Polen besiegt, und am 12. Oktober 1939 wurde durch „Erlaß des Führers“ Zentral-Polen (150.000 km2, ca. 18 Mio. Einwohner) als „Generalgouvernement“ in ein „Nebenland des Großdeutschen Reiches“ verwandelt. In diesem Territorium spielte die Kultur überhaupt keine Rolle, denn für die Nationalsozialisten „bestand nie ein Zweifel daran, daß alle unvergänglichen kulturellen Werte des Weichselraumes ihren Ursprung deutscher Leistung verdanken“, denn „wirkliche Werte sind in diesem Raum von Angehörigen des polnischen Volkstums niemals hervorgebracht worden“.[3]
Eine weitere Tatsache wurde und wird weniger beachtet – daß Hitler in Stalin einen gleichgesinnten Komplizen bei der Zerschlagung Polens hatte. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 hatte den Sowjets freie Hand gegeben. Am 17. September rückten die Rote Armee bis zur Linie Narew-Weichsel-San vor, und am 28. September besiegelten Deutsche und Russen in einem „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ die Demarkierung ihrer neu eroberten Gebiete. Stalin brauchte die ostpolnischen Regionen – die die Hälfte des polnischen Staatsgebiets ausmachten und in denen 14,3 Mio. Einwohner lebten, darunter 6,5 Mio. Polen -, um von ihnen aus die lange geplante Annexion der baltischen Staaten abzusichern. Aus diesem Grund beendete er auch den „Winterkrieg“ mit Finnland (30. November 1939 – 12. März 1940) trotz hoher Verluste seiner Armee mit überraschend „moderaten“ Territorialforderungen, die der militärischen Absicherung nordrussischer Regionen um Leningrad dienten.
Nach polnischen Berechnungen wurden über 1,5 Mio. Polen von den Sowjets in Konzentrationslager deportiert, wo die meisten an Hunger und Erschöpfung umkamen. Im Frühjahr 1940 wurde zudem fast das gesamte Offizierscorps der polnischen Einheiten, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, von den Sowjets erschossen. Diese Massenmorde geschahen an verschiedenen Orten, von denen einer, Katyń, besondere Bedeutung erlangte – als Stätte polnischen Leids, sowjetischer Verbrechen und falsch verstandener internationaler Loyalität. Seit den damaligen Taten sind 65 Jahre vergangen, aber Katyń bleibt „eine Wunde, die sich gegen Heilung wehrt“.[4]
Katyń – die Tat
Nach Beendigung der Kampfhandlungen wurden die polnischen Offiziere in die Lager Kozielsk, Starobielsk und Ostaškov, alle in der Nähe der westrussischen Stadt Smolensk gelegen, gebracht, wo das NKVD (Volkskommissariat /Ministerium/ des Inneren) sie monatelang verhörte: Politische Überzeugungen, Familie, militärische Karriere, Beteiligung am polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 etc. Die Verhöre verliefen in entspannter Atmosphäre und vermittelten den Polen das Gefühl, bald freigelassen zu werden. Sie konnten sogar ihren Angehörigen schreiben, bis die Korrespondenzen im Mai 1940 plötzlich aufhörten. Das lag daran, dass Innenminister Lavrentij Berija bereits am 5. März 1940 „dem Genossen Stalin“ in einem Brief (Bild) empfohlen hatte, 14.700 polnische Offiziere und 11.000 „Mitglieder von verschiedenen konterrevolutionären Gruppen“ zu erschießen. Stalin, Molotov, Vorošilov und Mikojan bestätigten durch ihre Unterschriften den Vorschlag, bei den abwesenden Kalinin und Kaganovič wurde handschriftlich vermerkt, sie seien „za“ (dafür). Die oberste Führungsspitze des sowjetischen Staats und der Partei verurteilte per Federstrich rund 25.000 Polen zum Tode.
Die Lager wurden aufgelöst, die Polen in Gruppen von 200 – 300 Mann und in Transporten, die von insgesamt 12.000 sowjetischen Soldaten bewacht wurden, in unbekannter Richtung fortgebracht. Lange Jahrzehnte nahm man allgemein an, dass die Massentötungen in Katyń, rund 18 Kilometer westlich von Smolensk gelegen, abliefen. Inzwischen stellte sich heraus, dass die Gefangenen – die im Grunde keine Gefangenen waren, da die Sowjetunion Polen nicht den Krieg erklärt hatte – in den NKVD-Zentralen der Bezirks- und Landeshauptstädte exekutiert wurden: 4.566 aus Kozielsk in Smolensk, 3.977 aus Starobielsk in Charkow, 6.588 aus Ostaškov in Kalinin (Tver‘) und 4.181 in Kiev sowie 4.465 in Minsk. Wie es heißt, sollen nur 53 „spezialisierte Henker“ die Tötungen vorgenommen haben, was angesichts der Menge kaum glaublich erscheint. Die Erschießungen begannen Anfang April und zogen sich bis Mitte Mai 1940 hin. Die meisten Leichen wurden in Katyń begraben.
Die sowjetische Führung wurde mit Anfragen polnischer Familien bestürmt, die wissen wollten, wo ihre Angehörigen sich aufhielten. Stalin und andere retteten sich in Ausflüchte: Sie bauten Straßen, seien in die Mandschurei geflohen etc. Tatsächlich waren die meisten tot. Nur 983 Polen waren dem Massaker entgangen, wovon 448 in der Armee unterkamen, die der polnische General Władysław Anders (1892-1970, Bild) nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 im Auftrag der Sowjets bildete. Diese Armee war die einzige Chance für die deportierten Polen, aus sibirischen Arbeitslagern frei zu kommen. Anders selber war im Herbst 1939 von den Sowjets festgenommen und lange Monate in dem NKVD-Zentrum „Lubjanka“ in Moskau inhaftiert gewesen, wurde aber durch die neuen Entwicklungen gerettet. Am 31. Juli 1941 hatte die polnische Exilregierung in London wieder Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen, am 14. August folgte ein Militärabkommen und am 4. Dezember ein Freundschafts- und Beistandspakt. Das Ergebnis dessen war die erwähnte „Anders-Armee“, die von den Sowjets ausgerüstet wurde. Die Sowjets bestimmten auch, dass in der Armee nur Polen dienen durften, jedoch keine Weißrussen, Ukrainer oder Juden.
Nach polnischen Erkenntnissen waren unter den in Katyń Getöteten 700 – 900 Juden. Generell aber hatten es die Sowjets darauf abgesehen, die gefangenen Polen darum zu töten, weil sie in ihnen die nationale Elite sahen. Die da in polnischen Uniformen steckten, waren größtenteils Reserveoffiziere, beim deutschen Überfall rasch mobilisiert, im eigentlichen Beruf aber Hochschullehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Schriftsteller, Journalisten, Priester etc., also Menschen, die die Okkupation ihres Landes nicht tatenlos hinnehmen würden.
Katyń – die Entdeckung
Am frühen Nachmittag des 13. April 1943 berichtete der deutsche Rundfunk, in den von deutschen Truppen besetzten sowjetischen Gebieten seien am Rande der Ortschaft Katyń mehrere Massengräber polnischer Offiziere entdeckt worden. Nach Aussagen von Einheimischen handele es sich um Insassen ehemaliger Kriegsgefangenenlager, die vom NKVD im Frühjahr 1940 ermordet wurden. Die Getöteten trugen noch Fesseln, und aus den bei ihnen gefundenen Dokumenten – Bilder, Ausweise, Briefe etc. – ließ sich der Zeitpunkt ihrer Tötung exakt ermitteln.
NS-Propagandaminister Goebbels war begeistert. Bereits am 14. April 1943 notierte er in seinem Tagebuch: „Ich gebe Anweisung, dies Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen. Wir werden davon einige Wochen leben können“. Der Minister war überzeugt, diese Entdeckung werde die Anti-Hitler-Koalition sprengen und deutsche Untaten (wie die Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands, der am 19. April 1943 begann und am 15. Mai endete) vergessen machen. Bei beidem hatte er sich verrechnet. Moskau drehte den Spieß einfach um und beschuldigte die Deutschen, die Mörder zu sein, und die West-Alliierten akzeptierten offiziell diese Lesart.
Die Deutschen gaben nicht auf. Vereinzelte Exhumierungen hatte es in und um Katyń bereits seit Ende 1942 gegeben, aber jetzt arbeitete man im großen Stil. Eine technische Kommission des Polnischen Roten Kreuzes (das erstaunlicherweise im Generalgouvernement weiterarbeitete) grub bis zum 3. Juni 1943 4.254 Leichen aus, von denen Kommissionsleiter Dr. Wodziński 2.800 identifizierte.
Hinzu kam, dass auch das Internationale Rote Kreuz an Katyń interessiert war. Die in London unter General Władysław Sikorski (1881-1943, Bild) amtierende Exil-Regierung hatte fast zeitgleich mit den Deutschen eine Untersuchung des Internationalen Roten Kreuzes gefordert, die aber am kategorischen Widerspruch der Sowjetunion scheiterte. Zudem verübelten die Sowjets der Sikorski-Regierung das bloße Ersuchen derart, dass sie die Beziehungen zu ihr abbrachen. Die Deutschen stellten in eigener Regie eine internationale Kommission zusammen, der sie – ihrer Sache vollauf sicher- verblüffend große Freiheiten einräumten. Beispielsweise gehörten ihr zwei kriegsgefangene amerikanische Offiziere an, darunter Oberst John H. Van Vliet, der nach seiner Heimkehr 1945 einen Bericht des Inhalts verfasste, daß allein die Sowjets für die Tötungen in Katyń verantwortlich seien.
Leiter der Kommission war Prof. Gerard Buhtz (Bild Mitte, in Uniform), ein Mediziner von der Universität Breslau, der zu Kriegsende an der Ostfront fiel. Unter den Mitgliedern der Kommission befanden sich prominente Mediziner aus Rumänien, Italien, den Niederlanden etc., denen alles erlaubt war: Sie konnten Leichen auswählen, die identifiziert werden sollten, sie durften mit Zeugen reden, sich untereinander beraten und weiteres mehr. Das Ergebnis war von vornherein klar: Die bei den Toten gefundenen Dokumente verwiesen auf eine Zeit, in der die Region sowjetischer Besitz war, also konnten die Deutschen gar nicht die Täter sein.
Zur Kommission gehörte auch der angesehene Schweizer Gerichtsmediziner Prof. Dr. François Naville (1883-1968, Bild), der am 22. April 1943 vom Deutschen Generalkonsulat in Genf gebeten worden war, am 26. April nach Katyń zu reisen, um sich dort an der Arbeit der internationalen Expertenkommission zu beteiligen.[5] Naville beriet sich mit dem Internationalen Roten Kreuz, holte Unbedenklichkeitsatteste bei Regierung und Schweizer Armee ein und reiste über Berlin nach Katyń, wo er zusammen mit elf weiteren Wissenschaftlern bis zum 30. April mit der Untersuchung der Toten beschäftigt war. An diesem 30. April gab die Kommission auch ihr gemeinsames Gutachten ab, in dem der unumgängliche Befund stand: Tötungen durch Genickschuß im Frühjahr 1940. Privat äußerte Naville noch, daß die Deutschen mitschuldig seien, da ihr gemeinsam mit den Sowjets geführter Angriff gegen Polen erst die polnischen Offiziere in die Gefangenschaft gebracht hatte. Ein Honorar lehnte Naville ab, desgleichen die Bitte des Genfer Generalkonsulats, über seine Katyń-Erfahrungen im Rundfunk zu berichten. Nach dem Krieg hatte Naville 1946 einige Schwierigkeiten, da ihm kommunistische Parlamentsabgeordnete vorwarfen, er habe sich bei seiner Beurteilung der Morde von Katyń von den Deutschen „beeinflussen“ lassen, was dieser souverän zurückwies: Er halte seine Beurteilung von 1943 weiterhin völlig aufrecht.
Die ganze Aktion war ein voller Erfolg für die deutsche Seite, wie ein Funkspruch von General Anders an die Londoner Regierung vom 15. April 1943 bezeugt. Er habe seit „der Entlassung aus der Haft“ ständige Bemühungen unternommen, etwas über die polnischen Gefangenen der Lager bei Smolensk zu erfahren, habe aber „von den sowjetischen Behörden ständig ausweichende Antworten“ bekommen. Selbst von Stalin sei nur zu hören, „daß sie wahrscheinlich geflohen sind“ (że prawdopodobnie oni uciekli). Nur in Privatunterredungen mit sowjetischen Politikern habe er Aussagen der Art gehört, daß in dieser Sache ein „schicksalsträchtiger Fehler“ (russisch: rokowaja ošybka) begangen worden sei. Im übrigen seien die von Deutschen gemeldeten Namen der Toten in eigenen Karteien enthalten, und die ganze Angelegenheit habe unter den polnischen Soldaten „gewaltige Aufregung“ verursacht. Die Regierung solle in Moskau vorstellig werden, um Auskunft zu bekommen, „dies um so mehr, als unsere Soldaten überzeugt sind, daß auch die anderen unserer Leute von den Sowjets umgebracht werden“.
Katyń – die deutschen Opfer
Die polnische Journalistin Krystyna Grzybowska (Bild) hat lange in Deutschland gelebt und über deutsche Probleme in polnischen Medien berichtet. Ihre Berichte waren und sind von herausragender Art: nationalbewusst polnisch, verständnisvoll für Deutsche und Deutsches, fußend auf immenser Belesenheit und historischem Wissen. Frau Grzybowska hat im August 2004 einen Artikel über Katyń publiziert[6], dem in Deutschland einige Verbreitung zu wünschen wäre: In diesem Artikel legt die Autorin nämlich detailliert dar, daß die Deutschen vielleicht nicht gut beraten sind, wenn sie Katyń entweder für eine rein polnische Angelegenheit halten oder überhaupt nichts davon wissen. Denn damit unterschätzen sie ihren derzeitigen Lieblingspartner in Osteuropa: „Russland verzeiht es den Deutschen nicht, daß sie ihm die Verantwortung für Katyń aufgebürdet haben, wie es dieses auch den Polen nicht verzeiht“.
Worum geht es? Vermutlich um den russischen Verdacht, jemand wolle unter dem Deckmantel von Katyń die Glorie der sowjetischen Sieger über Hitler-Deutschland schmälern, die deutschen Nationalsozialisten mit sowjetischen Rotarmisten zum Nachteil letzterer vergleichen oder ganz einfach geschichtsnotorische antirussische Affekte ausleben. Wenn es diesen Verdacht geben sollte, dann kann er durch keine Argumente und Beweise aus der Welt geschafft werden, vielmehr verhalten sich die gegenwärtigen Russen so wie die damaligen Sowjets, die erst ein Verbrechen begingen, es dann auf jede Weise zu verschleiern suchten und am Ende die Welt zwingen wollten, ihre Lügen als bare Münze zu nehmen.
Nur darauf wollte die Polin Grzybowska aufmerksam machen, und sie tat es mit einem bemerkenswerten historischen Exkurs. Im September 1943 eroberte die Rote Armee das Gebiet Smolensk zurück und zerstörte den polnischen Friedhof, dessen Bau die Deutschen erlaubt hatten. Im Januar 1944 setzten die Sowjets eine eigene Untersuchungskommission ein, die nach ihrem Leiter benannt wurde, dem angesehenen Chirurgen Burdenko. Sie sollte beweisen, daß die Morde von Katyń 1941 begangen worden waren, also von Deutschen. Für diese Datierung präsentierte man auch einige polnische Briefe und lokale Zeugen – wunderlicherweise oft dieselben, die kurz zuvor die russische Täterschaft bezeugt hatten. Diese offenkundigen Fälschungen legte Stalin dann der Konferenz von Teheran (28.11.-1.12.1943) vor und fügte den Vorschlag hinzu, „für die Ermordung polnischer Offiziere in Katyń 50.000 deutsche Kriegsgefangene zu erschießen“. US-Präsident Franklin D. Roosevelt erklärte diese Idee zum „Scherz“ und damit war sie zunächst vom Tisch.
Aber Stalin hatte nicht gescherzt, denn es folgte eine Serie von Prozessen, bei denen deutsche Offiziere als Schuldige der Katyń-Morde verurteilt wurden. Der erste Prozeß fand bereits 1943 in Mariupol‘ am Azovschen Meer statt, bei welchem vier deutsche Offiziere zum Tode verurteilt und umgehend hingerichtet wurden. Es folgten zwei weitere Prozesse in Smolensk mit zusammen 85 Todesurteilen, davon 18 gegen deutsche Generäle.
Spektakulär verlief ein weiterer Prozeß in Leningrad, in welchem sich ein deutscher Angeklagter namens Arno Dührer schuldig bekannte und aussagte, er sei an Exekutionen im Wald von Katyń beteiligt gewesen, wobei 15 – 20.000 Personen getötet worden seien, unter ihnen Russen und Juden. Für diese Aussage wurde Dührer „nur“ zu Straflager verurteilt, das er überlebte und nach Deutschland zurückkehrte. Andere Angeklagte – Karl Strüffling, Heinrich Remmlinger, Ernst Böhm, Eduard Sonnenfeld, Hebard Janike, Erwin Skotki und Ernst Geherer – verurteilte das Gericht zum Tode und am 5. Januar 1946 wurden sie hingerichtet. Drei weitere deutsche Angeklagte bestrafte man mit 20 Jahren Zwangsarbeit.
Die Sowjets waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie die Vorfälle von Katyń sogar in die Anklage des Nürnberger Prozesses (18.10.1945-1.10.1946) hineinschrieben; anfänglich war von 925 Ermordeten die Rede, bis der sowjetische Chefankläger Roman Rudenko (1907-1981, Bild vorn am Pult) diese Zahl im Februar 1946 plötzlich auf 11.000 erhöhte. Als Täter benannte er ein Pionierbataillon unter dem Tarnnamen „Stab 537″, das angeblich unter Führung der Offiziere Arens, Hott und Rechts gestanden habe. So berichtete es die von den US-Besatzern herausgegebene „Neue Zeitung“, wo es der ehemalige Offizier Reinhardt von Eichborn las und augenblicklich als Fiktion erkannte: Die Offiziere hießen Ahrens, Rex und Toth und die bewusste Einheit 537, in der Eichborn gedient hatte, war von Dezember 1941 bis Januar 1943 in Kasernen untergebracht gewesen, die sieben Kilometer von Katyń entfernt lagen. Eichborn fuhr nach Nürnberg, um dort auszusagen; auch der von Rudenko genannte Ahrens fand sich am Prozeßort ein.
Die deutschen Ex-Offiziere kamen im Prozeß zu Wort, aber dieser war durch Rudenkos Vorstoß in eine peinliche Lage geraten: Den meisten Richtern und Anklägern war klar, dass die Sowjets in Sachen Katyń niemanden belasten konnten, weil sie sich selber entlasten wollten. Das hätte der deutschen Verteidigung große Möglichkeiten verschafft, sowjetische Anklagen zurückzuweisen und die Sowjetunion im Gegenzug in Kriegsverbrechen zu verwickeln. Wäre die deutsche Verteidigung dabei jedoch blockiert worden, dann wäre der ganze Prozeß zur Absurdität geworden. Was tun? Rudenkos Auslassungen wurden als „verleumderisch“ abqualifiziert und der Ankläger mit einer Festnahme wegen Missachtung des Gerichts bedroht. Eichborn, Ahrens und ein dritter deutscher Zeuge sagten aus, drei sowjetische Zeugen beschworen das Gegenteil, aber danach war von Katyń in Nürnberg nicht mehr die Rede.
Dennoch konnten sich die Sowjets „siegreich“ (zwycięsko) fühlen, schrieb Krystyna Grzybowska: Ihre haltlosen Anklagen waren einmal mehr zu hören gewesen, und zusammen mit den Katyń-Prozessen in der Sowjetunion fanden sie westliches Medienecho in dem Sinne, dass zu den ungezählten Verbrechen der Deutschen auch das von Katyń gehörte.
Katyń – das endlose Nachspiel
In den Fall Katyń waren nur zwei Akteure involviert, die sich gegenseitig dafür verantwortlich machten, obwohl unverkennbar und auch beweisbar war, dass die Alleinschuld nur bei einem lag. In dieser Spannung bewegte sich die Problematik über Jahrzehnte hinweg – wer immer aus politischen Überlegungen heraus gebraucht wurde, der konnte oder durfte an Katyń nicht schuld sein!
Das begann bereits 1944, als Präsident Roosevelt seinen Sondergesandten für den Balkan George Earle beauftragte, Informationen über Katyń zu sammeln. Earle nutzte seine Kontakte in Bulgarien und Rumänien und kam zu dem Schluß, daß die Sowjets an Katyń schuld seien. Der Präsident wies diese Schlussfolgerung mit der Bemerkung zurück, er sei „von der Verantwortung Nazi-Deutschlands überzeugt“. 1945 ging es weiter mit John H. Van Vliet – dem erwähnten US-Offizier, der als Kriegsgefangener bei der Entdeckung Katyńs durch die Deutschen zugegen war -, der nach seiner Rückkehr nach Washington einen Bericht schrieb, in welchem er die Alleinschuld an Katyń den Sowjets zuwies. Der Bericht wurde von Vliets Vorgesetzten unterdrückt – die sich Jahre später vor dem Congress damit rechtfertigten, es sei „nicht im US-Interesse gewesen, einen Verbündeten in Verlegenheit zu bringen, dessen Kräfte man noch zur Niederzwingung Japans brauchte“.
1949 tat sich in den USA ein Komitee Prominenter zusammen, um endlich eine Untersuchung zustande zu bringen, die über Katyń Klarheit bringen sollte – die Bemühungen verliefen im Sande. Dann begann der Korea-Krieg, in welchem man Katyń erst recht nicht erwähnen wollte – aus Angst, die gegnerischen Kommunisten könnten mit US-Soldaten auf dieselbe Weise verfahren. Im September 1951 verhandelte das Madden-Komitee über Katyń, wozu auch bemerkenswert viele Zeugen gehört und Dokumente gesammelt wurden, ohne daß der Eindruck verschwand, daß Demokraten und Republikaner alte „Sünden“ aus Kriegszeiten übertönen und neue Wähler unter osteuropäischen Immigranten sammeln wollten. Der Komitee-Vorsitzende Ray J. Madden wollte 1953 die Sache über die Vereinten Nationen vor ein Internationales Gericht bringen, fand dafür in den USA aber keine Unterstützung: Stalins Tod, das Ende des Korea-Kriegs und die neue Führung in der Sowjetunion lenkten das politische Augenmerk mehr auf eine Verbesserung der Beziehungen mit Moskau.
In den folgenden Jahren schien sich die sowjetische Taktik, Katyń ein für allemal den Deutschen zuzuschreiben, durchzusetzen. Dabei blieb freilich ein Rest schlechten Gewissens erkennbar: Aus Geschichtswerken, Landkarten etc. wurde jegliche Erwähnung Katyńs getilgt. Mehr noch: 1969 wurde das belorussische Dorf Chatyn ausersehen, Standort eines großen Kriegsdenkmals zu sein. Im Zweiten Weltkrieg wurden von Deutschen 9.200 belorussische Dörfer zerstört – warum wählte man als Ort des Gedenkens ausgerechnet das eine, dessen Namen eine klangliche Nähe zu Katyń aufwies? Vermutlich mit Blick auf primitive Irreführungen, die aber Erfolg hatten: Im Juli 1974 war US-Präsident Nixon in der Sowjetunion und besuchte auf Insistieren seiner Gastgeber auch Chatyn, was die Sowjets propagandistisch weidlich ausnutzten. In den USA erschienen seit den mittleren 1970-er Jahren Dutzende Bücher und Studien über Katyń, Alaska bestimmte 1988 den 30. April zum Day To Remember Katyn etc., was alles keinen Effekt hatte. Im Sommer 1998 beherbergte das Ronald-Reagan-Building in Washington eine Ausstellung von Kriegsphotographien aus den Beständen des Russischen Armee-Museums, und im Katalog zu der Ausstellung war einmal mehr die Behauptung zu finden, für die Morde in Katyń seien Deutsche verantwortlich gewesen.
Katyń im polnisch-russischen Verhältnis
Am 14. Januar 1975 gaben die polnischen Behörden eine interessante Weisung heraus, wie mit dem Komplex Katyń zu verfahren sei: Jegliche Beschuldigung (obarczanie) der Sowjetunion habe zu unterbleiben; in wissenschaftlichen und anderen Veröffentlichungen dürfen nur Formulierungen wie „erschossen durch Hitler-Leute (hitlerowcy) in Katyń“ oder „umgekommen in Katyń“ verwendet werden; sofern Daten zu nennen seien, dürfen diese nicht früher als vom Sommer 1941 sein; polnische Soldaten seien nach dem September 1939 „Internierte“, nicht aber „Kriegsgefangene“ der Roten Armee gewesen; Nekrologe u.ä. bedürfen der Billigung des „Hauptamtes für Kontrolle der Presse“, also der Zensur.
Diese Verfügung gelangte schon 1976 nach Schweden, und es ist nicht auszuschließen, daß sie mit Wissen und Wollen polnischer Machthaber dorthin gelangte. Den Polen die Erinnerung an Katyń verbieten zu wollen, war per se ein lächerliches Unterfangen, und ein polnisches Verbot in der zitierten Massivität war nur geeignet, den dahinter stehenden sowjetischen Druck zu illustrieren. Das war jedem Polen klar, und die gerade in nicht-kommunistischen Ländern starke „Polonia“, d.h. die polnische Diaspora in aller Welt, sorgte für entsprechende Verbreitung und Interpretation. Besonders aktiv waren die Polen, die im Krieg auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten, und so war es nicht verwunderlich, daß ehemalige RAF-Piloten polnischer Nationalität 1979 das erste Katyń-Denkmal überhaupt aufstellten – in Süd-Afrika. Ähnliches geschah in Neuseeland und anderswo.
1981 war für Polen das Jahr der ersten freien Gewerkschaft Solidarność, zu der sich Millionen Polen bekannten. Auf ihre Initiative wurde auf einem Warschauer Soldatenfriedhof ein Katyń-Denkmal aufgestellt, das schon einen Tag später wieder zerstört war – „von unbekannten Tätern“. Anfang Dezember 1981 stand Polens Regierung vor der Alternative, entweder eine sowjetische Intervention hinzunehmen oder selber gegen die Solidarność einzuschreiten. Sie verhängte den „Kriegszustand“ über das Land und verbot die freie Gewerkschaft. Offiziell existierte diese dann nicht mehr, tatsächlich war sie allgegenwärtig und einer ihrer Slogans lautete: „Wir werden Katyń rächen!“ (Katyń pomścimy!) Die außerordentlich aktive Untergrundpresse der Solidarność veröffentlichte laufend Berichte und Aufsätze über die Vorgänge von Katyń im Frühjahr 1940. Hinzu kamen Flugblätter, eigene Briefmarken, Votivbilder und vieles andere, das die Erinnerung wach hielt.
Kein Volk Osteuropas hat für die Sowjets jemals Freundschaft oder Zuneigung empfunden, aber keines hat sie auch so tiefinnerlich wie die Polen gehasst. Dieser Haß (und der Begriff ist wahrlich nicht übertrieben) war die Fortsetzung altpolnischer Affekte gegen den übermächtigen Nachbarn im Osten, wozu ausgerechnet im polnischen „Kriegszustand“ 1983 ein ungewöhnlich interessanter Sammelband erschien[7]: Russland hat uns immer nur unterdrückt, russifiziert und uns unseren lateinisch-westeuropäischen Kulturwurzeln entfremdet. Katyń erschien den Polen als die gewissermaßen genozidale Fortsetzung russischer Politik gegen Polen, und mit fiktiven Briefmarken (Bild) erinnerte Solidarność ständig daran.
Mit dem Machtantritt von M. S. Gorbačëv kam in der Sowjetunion die neue Phase der Glasnost‘ und Perestrojka. Glasnost‘ ist eigentlich ein uralter Begriff aus dem russischen Gerichtswesen und bedeutet etwa „Zulassung der Öffentlichkeit beim Verfahren“. Im Sinne dieser Wortbedeutung schlossen Moskau und Warschau 1987 ein Abkommen, das die Schaffung einer bilateralen Historiker-Kommission zur Aufklärung „dunkler Punkte“ in der wechselseitigen Geschichte vorsah. Die Polen verstanden und nutzten das Abkommen als Chance, Katyń auf die Tagesordnung zu bringen, worauf die sowjetische Seite allerdings nicht einging. 1988 besuchte Gorbačëv Polen, sagte bei dieser Gelegenheit aber kein Wort über Katyń.
Seit dieser Zeit kamen immer häufiger immer größere polnische Besuchergruppen nach Katyń, und am 2. August 1988 wurde dort ein großes Eichen-Kreuz aufgestellt, ein Geschenk von Kardinal Józef Glemp, dem Primas der Katholischen Kirche Polens. In Moskau wurde Gorbačëv zu Jahresbeginn von sowjetischen Politikern bedrängt, in der Sache endlich die Wahrheit einzugestehen, denn „die Zeit arbeitet gegen uns“. Am 13. April 1990 gestand Gorbačëv schließlich die sowjetische Alleinschuld an Katyń ein.
Was Gorbačëv noch unterlassen hatte, holte der russische Präsident Boris El’cin im Oktober 1992 nach – den Polen das Aktenstück von 1940 zu überlassen, mit welchem Berija, Stalin und andere die Exekutionen von Katyń angeordnet hatten. Hinzu kamen 41 weitere Dokumente zu Katyń, die alle in Gorbačëvs Privatarchiv gelegen hatten, ihm also wohl seit Jahren bekannt waren. Daß El’cin mit dieser „Morgengabe“ seinen politischen Gegner Gorbačëv treffen, nicht aber den Polen entgegenkommen wollte, bewies die gleichzeitig in Russland einsetzende lärmende Kampagne des Inhalts, daß im Russisch-Polnischen Krieg von 1920 rund 100.000 sowjetische Kriegsgefangene in polnischen Lagern umgebracht worden seien. Diese durchsichtige „Retourkutsche“ war ein doppelter Unfug: Zum einen war es international bekannt, daß dieser Krieg im Grunde der Versuch eines bolschewistischen „Revolutionsexports“ gewesen war und von den Polen nach schweren Kämpfen gewonnen wurde. Zum zweiten ist die Zahl der russischen Gefangen aktenkundig (110.000 am 18. Oktober 1920), wie auch deren Schicksal und die Todesfälle in ihren Reihen (16-18.000) bekannt sind. Die entsprechenden Akten sind in polnischen Archiven zu finden. Und: „Die in polnischen Lagern Verstorbenen wurden in eigens angelegten Friedhöfen begraben. Sollte es nötig sein, könnte man die Körper exhumieren, um so die genau Zahl der Toten festzustellen und Zweifel auf russischer Seite zu zerstreuen“.[8]
Diese polnische Anregung, Ende 2000 gemacht, klingt zynisch, ist es aber nicht. Der polnische Autor hat nur in drastischer Weise zu verstehen gegeben, daß er die Russen nach wie vor für Lügner ansieht, die sich vor dem Eingeständnis eigener Verbrechen drücken wollen. Eben dazu will Polen sie offenkundig zwingen, wobei es sich auf neue internationale Forschungsergebnisse stützen kann: In den USA erschienen mehrere Publikationen, in denen Aufnahmen der deutschen Luftaufklärung aus dem Krieg ausgewertet wurden. Es waren Bilder, die bis 1944 reichten und u.a. zeigten, wie Sowjets die Massengräber von Katyń mit Baggern planierten, Leichen ausgruben, um sie anderenorts zu begraben etc. Diese US-Publikationen zogen ähnliche in Polen nach sich, die in Tonart und Beweisführung eindeutig „schärfer“ ausfielen.
Seit etwa zehn Jahren besteht in Katyń ein „Memorial für die polnischen Offiziere, die in Katyń umkamen“, wie die russische Inschrift besagt (Bild). Was will Polen noch? Die von ihm in vergangenen Jahren geforderte „Entschuldigung“ steht nicht mehr zur Debatte. Russland hat sie stets verweigert, dabei mit einigem Recht darauf verwiesen, dass das „totalitäre Regime“ der Kommunisten „neben anderen auch Millionen Russen umgebracht hat“. Will Polen, so das russische Außenministerium, die Katyń-Problematik dazu benutzen, „Misstrauen zwischen Polen und Russland zu säen?“
14 Jahre lang hat die russische Militär-Staatsanwaltschaft Untersuchungen zu Katyń geführt und diese am 21. September 2004 eingestellt: In Katyń (so der abschließende Befund) sei ein Verbrechen geschehen, das bereits verjährt ist; verantwortlich dafür waren die sieben Personen, die die entsprechenden Befehle gaben. Weil diese Personen alle nicht mehr leben, erübrigen sich weitere Nachforschungen.
Diese russische Sicht der Dinge wurde in Polen offenkundig als Provokation aufgefaßt. Anders sind polnische Schritte nicht zu verstehen, die Ende November 2004 unternommen wurden. Professor Leon Kieres, Direktor des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) gab bekannt, dass sein Institut Ermittlungen mit dem Ziel aufnehmen wird, die Morde von Katyń als „Kriegsverbrechen“ und als „Genozid“ im Sinne der einschlägigen internationalen Konventionen zu charakterisieren. 16 Staatsanwälte werden die juristische Klassifizierung, die Sammlung von Dokumenten, die exakte Quantifizierung des Verbrechens und die namentliche Ausweisung der (nach polnischer Auffassung rund 2.000) Täter vornehmen. Ein Kriegsverbrechen liegt vor, so Kieres, weil damals Kriegsgefangene und Zivilisten widerrechtlich getötet wurden, und ein Völkermord geschah, weil in Katyń die „intellektuelle Elite des polnischen Volks“ getötet wurde. Mit der „physischen Vernichtung“ dieser künftigen Führung der Nation sollte „die Wiedergeburt der polnischen Staatlichkeit verhindert werden“.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Dziedzictwo zaborów (Das Erbe der Teilungen), Warschau 1983
Fischer, Benjamin B.: The Katyn Controversy – Stalin’s Killing Field, in: www.cia.gov/csi/studies/winter99-00/art6.html
Grzybowska, Krystyna: Niemieckie ofiary Katynia (Deutsche Opfer von Katyń), in: Wprost Nr. 1134, 22.8. 2004
Karpus, Zbigniew: Rachunek historii (Die Rechnung der Geschichte), in: Wprost Nr. 942, 17.12.2000
Karboewski, K.: Vor 60 Jahren – Ein Schweizer Gerichtsmediziner in Katyn, in: Schweizer Ärztezeitung Nr. 47/ 2003, S. 2510-2513
Anmerkungen
[1] Kurt Lück: Der Lebenskampf im deutsch-polnischen Grenzraum, Der Osten Europas Bd. 4, Berlin 1940
[2] Hans Schadewaldt (Hrsg.): Die polnischen Greueltaten an den Volksdeutschen in Polen, 2. A. Berlin 1940
[3] Max Freiherr du Prel (Hrsg.): Das Generalgouvernement, Würzburg 1942, S. 141 ff.
[4] Benjamin B. Fischer: The Katyn Controversy – Stalin’s Killing Field, in: www.cia.gov/csi/studies/winter99-00/art6.html
[5] K. Karboewski: Vor 60 Jahren – Ein Schweizer Gerichtsmediziner in Katyn, in: Schweizer Ärztezeitung Nr. 47/ 2003, S. 2510-2513
[6] Krystyna Grzybowska: Niemieckie ofiary Katynia (Deutsche Opfer von Katyń), in: Wprost Nr. 1134, 22.8. 2004
[7] Dziedzictwo zaborów (Das Erbe der Teilungen), Warschau 1983
[8] Zbigniew Karpus: Rachunek historii (Die Rechnung der Geschichte), in: Wprost Nr. 942, 17.12.2000