Katyn ist bis heute ein historisches Trauma in Polen. Nachdem sich Polen 1989 von ihrer kommunistischen Parteidiktatur befreit hatte, verschwanden Orte, die mit dem leidvollen Kampf gegen den Kommunismus in Verbindung gebracht wurden, sukzessive aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. An ihre Stelle traten Denkmäler, die an die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs erinnerten. Seit der Wende hat sich das Massaker von Katyn schrittweise an die Spitze der Leitkultur in der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts manövriert. Diese Einordnung wurde durch den tragischen Flugzeugunfall im April 2010 intensiviert, der zum Tod des Präsidenten Lech Kaczyński und zahlreicher weiterer hochrangiger polnischer Politiker auf dem Weg zur Feier des 70. Jahrestages von Katyn geführt hatte.
Katyn als Symbol sowjetischer Grausamkeit
Der Name Katyn ist ein Sammelbegriff für die drei identifizierten und einige nicht identifizierte Standorte, an denen polnische Offiziere im Frühjahr 1940 auf Befehl der sowjetischen Regierung ermordet und anschließend verscharrt worden sind. Die Opfer wurden in den drei Lagern in Kozielsk, Starobielsk und Ostaszków inhaftiert. Nach einiger Zeit dort wurden sie in den Hauptquartieren des NKWD in Kalinin, Smolensk, und Charkow getötet. Ihre Leichen verscharrten die Sowjets in Massengräber in Katyn, Miednoje und Piatichatki. Historische Nachforschungen belegen, dass nahezu 15.000 Offiziere in den drei Hauptlagern ermordet worden sind. Weitere Untersuchungen ergaben, dass zur selben Zeit auf den NKWD-Wachen in der Ukraine und Weißrussland zusätzlich 7.000 Menschen starben.
Tragischerweise ist keiner der für das Massaker verantwortlichen Personen jemals zur Rechenschaft gezogen worden. Die Erkenntnisse einer russischen Untersuchung wurden 2004 von Moskau als vertraulich eingestuft. Sowohl die Regierung der Sowjetunion als auch ihre nachfolgenden Regierungen kehren den Mord in Katyn weitestgehend unter den Teppich und lehnen es ab, öffentlich wirksam Verantwortung hierfür zu tragen. Die spärlichen Gesten der Regierenden in Russland werden dem Ausmaß der damaligen Kriegsverbrechen nicht gerecht.
Der Anfang eines scheußlichen Verbrechens
Am 23. August 1939 haben Deutschland und die Sowjetunion gemeinsam einen Nichtangriffspakt unterzeichnet. Diesem Pakt war ein geheimes Protokoll angehängt: im Falle eines Krieges gegen Polen teilen beide Parteien das Staatsgebiet untereinander auf. Infolge der unmittelbar danach durchgeführten deutschen und sowjetischen Kriegsoffensive gelangte ein kleinerer Teil des polnischen Territoriums unter deutsche Besatzung. Ein weitaus größerer ging an die Sowjetunion.
In den der UdSSR einverleibten Gebieten sind 1939 rund 230.000 Menschen mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaftet worden. Die darunter befindlichen Offiziere sonderte das sowjetische Militär ab und brachte sie in die Lager Ostaszków, Kozielsk und Starobielsk. Zu den übrigen Inhaftierten zählten unter anderem Wissenschaftler, Ärzte, Staatsbeamte, Polizisten, Lehrer, und Juristen – sie waren mithin Vertreter des polnischen Bildungsbürgertums. Den Gefangenen wurde entweder kein Strafprozess gemacht oder einer ohne Rechtsbeistand. Höhepunkt der völkerrechtswidrigen Behandlung war die Erschießung aller Offiziere vom 5. März 1940. Das dazugehörige Dekret unterschrieben die höchsten Funktionsträgern der Sowjetunion. Im März wurden die Kommandanten des NKWD in Smolensk, Charkow und Kalinin angewiesen, die Erschießung der gefangenen Offiziere durchzuführen.
Die Erschießungen
Das sowjetische Militär tötete die Offiziere nachts einzeln mit einem Genickschuss. Am nächsten Morgen wurden die Leichen nach Katyn gebracht. Um die Tötung zu optimieren, wurden die nächsten Transporte direkt in ein NKWD-Gebäude nach Katyn umgeleitet. Von dort hat das sowjetische Militär die Gefangenen in einen Wald gebracht, wo sie gruppenweise am Rand eines der neun Gräben ermordet und direkt verscharrt worden sind. In Katyn hat man insgesamt 4.421 Kriegsgefangene begraben.
Die Vertuschungsversuche der Sowjets
Um die Ermordungen der Offiziere zu verschleiern, hat die Sowjetunion im Jahr 1940 alle Familienmitglieder der getöteten Offiziere nach Kasachstan deportiert. Außerdem haben die Sowjets versucht die Existenz der Massengräber zu vertuschen, indem sie auf dem Gelände Bäume gepflanzt haben. Erst nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 15. Juli 1941, als die deutschen Truppen die Region um Smolensk besetzten, kamen die ersten Informationen über die strukturelle Ermordung in Katyn an die Oberfläche. Im März 1942 entdeckten dann polnische Zwangsarbeiter bei ihren Bodenarbeiten die Leichen von zwei Offizieren.
Erst im Jahr 1943 wurden die Leichen von dem deutschen Militär offiziell entdeckt. Daraufhin ließen die Nationalsozialisten eine internationale Kommission für eine Untersuchung nach Katyn schicken. Die von den Deutschen beauftragten Rechtsmediziner ermittelten den Todeszeitpunkt der Leichen von Katyń. Dieser konnte auf den Zeitraum März bis April 1940 eingegrenzt werden – damit war die Schuld der Sowjetunion eindeutig. Nach der Wiedereroberung der polnischen Regionen gegen Ende des Jahres 1943 setzte Stalin eine sowjetische Untersuchungsgruppe ein und beschuldigte anschließend aufgrund dieser Erkenntnisse die deutsche Wehrmacht des Verbrechens in Katyn .
Diese Auffassung galt lange Zeit sowohl in der Sowjetunion als auch im kommunistischen Polen, wo das Massaker nach Kriegsende größtenteils verschwiegen wurde. Erst als 1990 neues Archivmaterial auftauchte, änderte sich die Lesart und öffentliche Meinung. Michail Gorbatschow bezeichnete Katyn in der Folge als ein scheußliches Verbrechen des Stalinismus. Er gestand erstmals die Verantwortung der Sowjetunion ein. In den darauffolgenden Jahren wurden schließlich die anderen Massengräber freigelegt. Obwohl Boris Jelzin beispielsweise im Jahr 1992 der Öffentlichkeit den Zugang zu Dokumenten gewährte, stellte Russland die Ermittlungsverfahren gegen die am Massaker beteiligten Personen 2004 ein.
Die Aufarbeitung von Katyn seit der Wende
Mittlerweile wird der Genozid von Katyn als ein niederträchtiges Kriegsverbrechen und ein großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Beinahe 4.000 Opfer sind aber bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht namentlich zugeordnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügte in einem Urteil vom 16. April 2012 zwar die unwürdige Behandlung von Opferangehörigen durch Russland, doch eine Änderung der russischen Politik folgte hieraus nicht. Die Angehörigen legten in der Folge Berufung ein und verlangten eine schärfere Sanktionierung Russlands. Bis heute verwehrt Russland den Opferangehörigen aber die Einsicht in die Ermittlungsakten. Die Klage wurde aber von dem EGMR schlussendlich abgewiesen, da Russland nach Auffassung des Gerichtes gegen keine Grundrechte verstoßen habe.
Polens Nationalverständnis wird bis heute durch den Massenmord in Katyn geprägt. Er belastet die polnisch-russischen Beziehungen nachhaltig. Obwohl es im Zweiten Weltkrieg vergleichbare Mordaktionen der deutschen Wehrmacht gab, erreichten diese Taten nicht den gleichen Bekanntheitsgrad.
Autorin: Martina Meier
Links & Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung, Vor 80 Jahren: Verbrechen von Katyń, in: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/203716/vor-80-jahren-verbrechen-von-katyn/.
Cezary Was, Katyń, in: Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa, S. 479 – 489.
Kellerhoff, Sven Felix: MASSAKER VON KATYN – Zwei hielten die Opfer fest, ein Dritter setzte den Kopfschuss, in: https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article206986709/Massaker-von-Katyn-So-liess-Stalin-Polens-Offiziere-toeten.html.
Weber, Claudia: „Too closely identified with Dr. Goebbels“ – Die Massenerschießungen von Katyn in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 37-59.