Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. München 2006.
Bei der zu besprechenden Studie handelt es sich um eine von der Universität Mainz angenommenen Habilitationsschrift des am renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) tätigen Historikers Johannes Hürter. Sie steht im Zentrum einer Reihe von Projekten des IfZ zu dem Themenkomplex „Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur“. In ihren Focus rücken die höchsten Instanzen der Wehrmacht auf dem östlichen Kriegsschauplatz: die Oberbefehlshaber der drei Heeresgruppen und dreizehn Armeen. Im Einzelnen wurden 1941/42 die folgenden hohen Generäle in diesen Funktionen an der Ostfront eingesetzt: Fedor von Bock, Ernst Busch, Eduard Dietl, Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Gotthard Heinrici, Erich Hoepner, Hermann Hoth, Ewald von Kleist, Günther von Kluge, Georg von Küchler, Wilhelm Ritter von Leeb, Georg Lindemann, Erich von Lewinski (genannt von Manstein), Walter Model, Friedrich Paulus, Walter von Reichenau, Hans-Georg Reinhardt, Gerd von Rundstedt, Richard Ruoff, Rudolf Schmidt, Eugen Ritter von Schobert, Adolf Strauß, Carl-Heinrich von Stülpnagel und Maximilian Freiherr von Weichs. Diese im ersten Jahr des deutsch-sowjetischen Krieges insgesamt 25 Generäle untersucht Hürter in einer zusammenhängenden Gruppenbiografie und nicht isoliert voneinander. Als militärische Oberbefehlshaber der jeweiligen Heeresgruppen und Armeen hatten sie mitentscheidenden Einfluss auf die Kriegführung und Besatzungspolitik im Osten und besaßen trotz der Befehle und Weisungen der obersten Führung beträchtlichen Gestaltungsspielraum vor Ort. Sie verfügten über das Schicksal von mehreren Millionen Menschen und waren über den gesamten Raum des Krieges gegen die Sowjetunion verteilt. Insofern ist diese kleine militärische Elite in hohem Maße relevant und für das Ganze repräsentativ. Gegen Schluss seines Buches führt der Autor zu jedem der hohen Generäle deren spezifische biografischen Daten auf (S. 619-669), die er „Biogramme“ nennt. Diese unterteilt er in vier Abschnitte: Persönliche Daten, Schulbildung, Laufbahn und wichtigste Orden sowie Auszeichnungen.
Im Ganzen erfasst er diese Spitzenmilitärs erstmals als Gruppe und analysiert sie ihrem Sozialprofil, ihren geistigen Dispositionen, ihrem institutionellen Umfeld, vor allem aber in ihrem Handeln im Ostkrieg. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die richtungweisenden, wechselhaften und gut belegten ersten zwölf Monate von Juni 1941, dem Kriegsbeginn, bis Mai 1942, der Wiederaufnahme der deutschen Offensivoperationen, gelegt, in denen die politische Dimension dieses Krieges als Eroberungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg besonders deutlich wurde. Im Rahmen seiner gruppenbiografischen Untersuchung gelangt Hürter auf breiter Quellengrundlage zu fundierten Erkenntnisse über das Verhalten der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion, die im Folgenden resümiert werden sollen.
Alle diese Generäle waren 1941 über 50 Jahre alt, die meisten in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren, fast alle kamen aus den „erwünschten Kreisen“ der höheren Offiziere, Beamten und Akademiker, alle hatten ein humanistisches Gymnasium oder eine Kadettenanstalt durchlaufen und sofort nach der Schule den Offiziersberuf gewählt. So waren alle von der späten Kaiserzeit an bis zum Zweiten Weltkrieg durchgängig im Militärdienst und hatten über zwei Systemwechsel hinweg eine sich als unpolitisch verstehende primär technokratisch verstehende erfolgreiche Karriere bis in höchste Generalsränge absolviert. Die tiefe Verwurzelung im starren politischen und ethischen Normensystem der Kaiserzeit im Verbund mit einer traumatischen Beunruhigung durch das Erlebnis des Ersten Weltkrieges und die Jahre der Revolution führte zu einer Anpassungsleistung derart, dass es schon bei Hitlers berühmt-berüchtigter Rede vom 30. März 1941, bei der dieser einen rassenideologischen Vernichtungskrieg und kolonialen Ausbeutungskrieg propagierte, bei den 13 (aus der von Hürters Gruppe untersuchten) anwesenden Generälen zu keinen Akzeptanzproblemen gegenüber den politischen Vorgaben gekommen war: „Die Rede Hitlers erschütterte offenbar weder das Vertrauen noch das Gewissen der Generale. Im Gegenteil – vermutlich wurde sogar manche Skepsis gegen den Angriff auf die Sowjetunion durch die vorgetragenen Argumente widerlegt“ (S. 11). Aufs Ganze gesehen konnte 1941/42 auch von einer fachlichen Opposition der Militärelite gegen den Diktator keine Rede sein. Damit fehlte ein wesentliches Korrektiv für die immer gleichermaßen radikaler wie realitätsfremder werdenden strategischen und auch operativen Entscheidungen. Das hatte gravierende Folgen für den weiteren Kriegsverlauf. Anstatt zu mahnen, protestieren oder zu putschen fügten sich die Generale in die Fortsetzung und zunehmende Radikalisierung der Kriegführung. Die ideologischen Vorgaben Hitlers korrespondierten mit einem schrankenlosen militärischen Utilitarismus, der für das militärischen Denken und Handeln der Generale konstitutiv war. Auch die später als Angehörige der Bewegung des 20. Juli 1944 hingerichteten Befehlshaber Erich von Hoepner und Carl-Heinrich von Stülpnagel erließen von sich aus Befehle, die dem Vernichtungskrieg Vorschub leisteten; Hoepner sogar als einer der ersten schon gut sechs Wochen vor dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941.
Die Ermordung von ungefähr 500.000 Männern, Frauen und Kindern jüdischer Herkunft im untersuchten Zeitraum wäre ohne die, überwiegend logistische und administrative, Unterstützung der Wehrmacht kaum möglich gewesen. Dabei gingen einige der Befehlshaber über eine passive Duldung des Judenmords hinaus. Die Hetz- und Mordbefehle Reichenaus, die Anregungen zu Pogromen und zu antisemitischer Propaganda durch Stülpnagel, Küchlers Zustimmung zur Ermordung von tausend Psychiatriepatienten und andere Beispiele belegen, dass nicht unbedingt die Nähe (Reichenau), die Abwartehaltung (Küchler) oder die Opposition (Stülpnagel) zum NS-System ausschlaggebend waren, sondern ganz stark auch Anpassung, Ehrgeiz, Konfliktscheu oder mangelnde Empathie zu diesem Verhalten führten. Und auch nach dem Krieg zeigten Generäle wie Guderian und Leeb wenig Nachdenklichkeit über diese Verbrechen. Am 26. Juli 1945, als die Judenmorde schon längst ein Thema der Weltöffentlichkeit geworden waren, hörte die US-Army ein Gespräch ab, in dem sich diese beiden besonders prominenten und jetzt kriegsgefangenen Generäle über die Vorzüge und Nachteile des NS-Systems unterhielten. Der Meinungsaustausch endete mit dem Ergebnis: Guderian: „Die grundlegenden Prinzipien waren gut.“ – Leeb: „Das ist wahr.“
Johannes Hürter resümiert: „Es ist erschreckend, wie verhältnismäßig leicht es einem verbrecherischen Regime gelang, konservative Akteure und traditionelle Institutionen auf seine Hegemonie- und Mordpläne auszurichten“ (S. 617).
Johannes Hürter hat eine grundlegende, tiefgreifende Studie vorgelegt, die trotz ihres Umfangs und ihrer Komplexität übersichtlich und gut lesbar dargeboten wird. Der Übersichtlichkeit und Transparenz dient auch ein benutzerfreundliches Orts- und Personenregister. Letzteres differenziert bei den untersuchten 25 Befehlshabern z.B. nach ihrem Verhalten im Kaiserreich, Ersten Weltkrieg, in der Revolution und Republik, der NS-Diktatur bis 1939 und ihrem jeweiligen Verhalten im ersten Kriegsjahr gegenüber Rotarmisten, Kriegsgefangenen, Kommissaren, Partisanen, Zivilbevölkerung und beim Judenmord, so dass die gleichermaßen sorgfältig verfasste wie lektorierte Schrift zur durchgehenden tiefgehenden Lektüre wie auch als Nachschlagwerk genutzt werden kann.
Autor: Wigbert Benz. Ersterscheinung in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Heft 73/2007, S. 91 f.
Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. (2006), 719 S., geb,. 49.80 €. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München.