Zeithistorische Forschungen. Studies in Contenmporary History. Herausgegeben von Konrad H. Jarausch und Christoph Kleßmann in Verbindung mit Zeitgeschichte-online. Göttingen. Erscheinungsweise dreimal jährlich.
– 1. Jahrgang, Heft 1/2004, Thema: Zeitgeschichte heute – Stand und Perspektiven
– 2. Jahrgang, Heft 1/2005, Thema: Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg und Heft 2/2005, mit einer Debatte: Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik
Die zu besprechende Zeitschrift ist Bestandteil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Internetportals Zeitgeschichte-online (http://www.zeitgeschichte-online.de). Sie erscheint in einer Druck- und einer Internetausgabe (http://www.zeithistorische-forschungen.de), die sich gegenseitig ergänzen. Die Redaktion liegt in den Händen von Historikern/innen des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, mit Jan-Holger Kirsch als verantwortlichem Redakteur. In ihrem „Editorial“ zur Startausgabe der Zeitschrift (Heft 1/2004) erläutern die Herausgeber Jarausch und Kleßmann, beide Geschichtsprofessoren und am ZZF in Potsdam tätig, dass sie ihre neue Zeitschrift als Antwort auf grundlegend veränderte Rahmenbedingungen des zeitgeschichtlichen Interesses sehen, da es seit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Systems darum gehe, mit dem Erbe von zwei Diktaturen umzugehen. Den „Zeithistorischen Forschungen“ liegt ein weites, mehrere Ebenen umfassendes Verständnis von Zeitgeschichte zugrunde. Zentrale Probleme der ersten Jahrhunderthälfte und des gesamten 20. Jahrhunderts sollen aufgegriffen werden, sofern sie für ein historisch fundiertes Gegenwartsverständnis bedeutsam sind. Als Beispiele werden Kriegsverbrechen, Migrationsbewegungen und Sozialstaatsmodelle genannt. Im Mittelpunkt sollen die Jahrzehnte des deutschen, europäischen und globalen Systemkonflikts von 1945 bis 1990 stehen, weil sie den wichtigsten biografischen Erfahrungsraum der heute lebenden Menschen bilden. In methodischer Hinsicht wird angestrebt, den Prozess der Geschichtswerdung von Ereignissen der Gegenwart zu Vorstellungen von Vergangenheit kritisch zu begleiten. Die Herausgeber betonen, dass ein wesentliches Merkmal zeithistorischer Forschung sein muss, sich an keinerlei heißen Eisen, weder internationalen noch nationalen vorbeizudrücken und keine leeren Räume offen zu lassen, in die sich Legenden einnisten können. Gerade im Hinblick auf die Zunahme der Bildwelten der Massenmedien, die primär auf hohe Leserzahlen und Einschaltquoten abzielen, soll das Zeitschriftenprojekt als kritisches Korrektiv dienen, soll „Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung“ (Christoph Kleßmann) wirksam werden. Für eine so verstandene Zeitgeschichtsforschung bieten die elektronischen Kommunikationsmedien attraktive, neuartige Möglichkeiten.
Die Zeitschrift will die Trennung zwischen der immer stärker werdenden Nutzung des Internets durch die Geschichtswissenschaften einerseits und der Publikation wissenschaftlicher Fachartikel fast ausschließlich im Printbereich überwinden, z.B. durch die direkte Einbindung verschiedener Quellenarten, von Internetressourcen, Medienelementen und Links im Online-Bereich, die die Präsentation der Forschung erweitern, während gleichzeitig die Aufsätze der gedruckten Version unabhängig vom Internet zugänglich sind. In diesen Aufsätzen erörtert Konrad Jarausch Möglichkeiten der „Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten“ durch eine Überwindung der Fortschreibung einer jeweils „latenten Nationalgeschichte“, bilanziert Mary Fulbrook in ihren „Approaches to German contemporary history since 1945“ die Entwicklung der neueren deutschen Zeitgeschichtsforschung, benennt Jost Dülffer in seinem Aufsatz „Europäische Zeitgeschichte – Narrative und historiographische Perspektiven“ unterschiedliche Sektoren einer vergleichenden europäischen Geschichte, die den Westen wie Osten Europas gleichermaßen umgreift und keine vorgegebenen europäischen Werte annimmt, und problematisiert Thomas Lindenberger „Zeitgeschichte und ihre Herausforderungen durch die audiovisuellen Medien“, deren umfassende Integration in die Disziplin Zeitgeschichte er von der Forschung über die öffentliche Kommunikation bis hin zur Lehre fordert. Etliche Debattenbeiträge zu Hans-Ulrich Wehlers viertem Band (u.a. mit dem Nationalsozialismus als Untersuchungsgegenstand) der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, Besprechungen/Reviews u.a. der Website „VL Zeitgeschichte“, Margarete von Trottas Historienfilm „Rosenstraße“, der Kennedy-Ausstellung des Deutschen Historischen Museums sowie Links zu dem umfassenden und qualitativ hochwertigen Angebot von Rezensionen bei „H-Soz-u-Kult/Zeitgeschichte“ runden Heft 1/2004 der Zeitschrift ab.
„Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg“ lautet das Schwerpunktthema von Heft 1/2005. Darin gibt die neue Leiterin der Abteilung Forschung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) der Bundeswehr in Potsdam, Beatrice Heuser eine informative Einführung zu den „Wars since 1945“, Marc Frey beschreibt den Forschungsstand zum „Vietnamkrieg und Indochinakonflikt“, Dirk Walter verweist bei seinem Aufsatz „Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948 – 1960“ darauf, dass kein Staat der Welt während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt hat als Großbritannien, und diese in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens waren, während Motti Golani „The War over Israel/Palestine 1945 – 2000“ thematisiert und Marie-Janine Calic am Beispiel der sog. Jugoslawienkriege in den 90er Jahren Fragen der ethnischen Radikalisierung und Gewalteskalation untersucht.
Alle Beiträge zu diesem Schwerpunktthema sind von international anerkannten Experten verfasst, die den Lesern ihr Thema wohltuend sachlich und unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven erhellen. Dies gilt auch für die in der gleichen Ausgabe abgedruckte Debatte „Militärgeschichte als Zeitgeschichte“. In deren Rahmen erläutert Jutta Nowosadtko den Nutzen kulturhistorischer und anthropologischer Ansätze für die Militärgeschichte und plädiert dafür, das Politische dabei nicht an den Rand zu drängen. Matthias Rogg gibt einen knappen Überblick zur militärhistorischen Erforschung der DDR, eines Staates, in dem Militär und Gesellschaft besonders eng verflochten waren. Karl Prümm betont, dass sich die Zeitgeschichte den sog. „neuen“ Kriegen stellen müsse, was nicht vorrangig Aktenforschung verlange, sondern kritische Medienanalyse. Dirk Bönker wirft schließlich einige Schlaglichter auf angloamerikanische Forschungen zu Militär und Militarismus. Weitere Debatten zu diesem Thema sollen folgen. Deutlich wird schon bei diesen vier Essays, wie wenig eine moderne und kritische Militärgeschichtsforschung mit der Glorifizierung der Militärs und einer anwendungsbezogenen Operationsgeschichtsschreibung gemein hat und wie sehr sie von der konkreten Realität des Gewalthandelns und der militärischen Vergesellschaftung auszugehen hat. Auch diese Ausgabe der Zeitschrift wird ergänzt durch Besprechungen bzw. Reviews: Cordula Dittmer stellt die Website der „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ vor, deren Stärke sie in der Systematisierung von Kriegen und Konflikten der letzten 60 Jahre sieht. Michael Wildt weist nach, wie der auch von Fachhistorikern gelobte Film „Der Untergang“ die Fiktion zur Realität macht, ja sich selbst quasi als „Quelle“ inszeniert. Und Ute Gerhardt analysiert das von Anna J. und Richard L. Merrit herausgegebene Kompendium „Public Opinion in Occupied Germany“, das 1970 zur Umfrageforschung der amerikanischen Militärregierung erschien.
Kein Schwerpunktthema enthält Heft 2/2005 der Zeitschrift. Im Aufsatzteil dieser Ausgabe setzt sich Till van Rahden mit Geschlechterrollen und Väterbildern in der frühen Bundesrepublik auseinander, Holger Nehring schildert die Protestformen der westdeutschen und britischen Anti-Atom-Bewegungen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, Thomas Etzemüller vergleicht die bundesdeutsche und weniger spektakuläre, aber strukturell ähnliche schwedische 68er Bewegung und Gerhard Paul seziert die Entstehung und spätere Verwendung des wohl bekanntesten Fotos aus dem Vietnamkrieg, welches das nackte und weinende Mädchen Kim Phuc zeigt. Paul analysiert, wie das Bild von 1972 stufenweise entkontextualisiert und für unhistorische Deutungsbedürfnisse instrumentalisiert worden ist.
Neben Besprechungen/Reviews u.a. zu Forschungen und Quellen zum Kalten Krieg (Website) sowie einer Edition der Tonbandmitschnitte zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (CD-ROM) enthält das Heft eine ausführliche Debatte zum Verhältnis von „Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik“.
Diese Debatte bildet den Kerninhalt des Heftes. Sie orientiert sich an folgenden drei wesentlichen Zielsetzungen: 1.) Die beiden Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft – Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik – sollen ihren relativ strikt getrennten Fachdiskurs überwinden und sich zum beiderseitigen Nutzen mehr aufeinander beziehen. 2.) Sowohl Defizite der Geschichtsdidaktik aus zeithistorischer und der Zeithistorie aus geschichtsdidaktischer Hinsicht sollen klar benannt werden. 3.) Mit thematischen und methodischen Beispielen soll skizziert werden, in welchen Bereichen eine Zusammenarbeit von Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik denkbar, bereits vorhanden oder besonders notwendig ist. Eröffnet wir diese Debatte mit der These Martin Sabrows, dass die Geschichtsdidaktik in den wichtigen geschichtspolitischen Kontroversen der letzten Jahre so gut wie nicht vertreten gewesen sei. Zu diesem Schluss gelangt Sabrow allerdings ohne die in den geschichtsdidaktischen Fachzeitschriften „Geschichte lernen“ und „Praxis Geschichte“ abgedruckten didaktischen Basisbeiträge, Hinweise und Materialien zu Kontroversen zeitgeschichtlicher Themen zu berücksichtigen. Stefan Jordan zeigt auf, dass die künstliche Trennung von Geschichtswissenschaft und –didaktik in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Dietmar von Reeken widmet sich den besonderen Schwierigkeiten sowie zugleich den besonderen Lernpotentialen der Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Beides – Chancen und Gefahren der Unterrichtung zeitgeschichtlicher Themen – sieht er in dem engen Bezug zu den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler. Die durch fehlende zeitliche Distanz häufig vorkommende Betroffenheit, weniger der Schüler selbst als vielmehr deren Familien und auch der Lehrkräfte, sollten nicht nur bewusst in der Unterrichtsplanung berücksichtigt, sondern auch im Unterricht offengelegt werden. Im Schlussbeitrag der Debatte bewertet Simone Rauthe in drastischen Worten den status quo der Geschichtsdidaktik an den Hochschulen: „Die Zukunft der universitären Geschichtsdidaktik scheint besiegelt. Sie ist trotz des anhaltenden Geschichtsbooms ein Auslaufmodell, vielleicht ist sie auch schon tot. Ein Neubeginn dürfte nur möglich sein, wenn Aufgabenfelder, Methoden und Ziele grundlegend überdacht und an den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert werden“ (S.289). Für diese Orientierung an dem wissenschaftlich wenig fassbaren Begriff „gesellschaftliche Gegebenheiten“ könne laut Rauthe die amerikanische „Public-History-Bewegung“ als praxisorientiertes Vorbild dienen. Diese Praxis erfordere „die Ausbildung von Historikern für Vermittlungsaufgaben und Dienstleistungen“, so dass „Public Historians“ zu neuen marktorientierte Präsentationsformen befähigt seien: „Im Bewusstsein, dass sich Geschichtswissenschaft auch nach den Gesetzen des Marktes betreiben lässt, decken sie die gesamte Palette historischer Dienstleistungen ab“ (S.289). Inwieweit dieser Ansatz die von der Autorin mit Recht beklagte Kluft zwischen Theorie und Praxis der Geschichtsdidaktik (eine Kritik, mit der Rauthe offene Türen einrennt) im Sinne der Sicherung und Weiterentwicklung eines emanzipatorischen Geschichtsunterrichts überwindet, erscheint aus Sicht des Rezensenten fragwürdig.
Diese letzte Einzelkritik ändert nichts daran, dass Herausgeber und Redaktion mit den ersten drei Ausgaben der „Zeithistorischen Forschungen“ eine in der Tat innovative Zeitschrift kreiert haben, in der angesehene Experten durchweg kompetent und meist in einem bemerkenswert unprätentiösen Stil bisher tendenziell vernachlässigte Problemkomplexe der Zeitgeschichte erörtern, Kontroversen nicht ausklammern, sondern sachlich fundiert in einem konstruktiven Diskurs vorantreiben und zudem neue Medien, insbesondere über die Website zeitgeschichte-online sinnvoll einbinden. Nicht nur der Rezensent erwartet die folgenden Ausgaben dieser für „Profis“ und geschichtsinteressierte Laien gleichermaßen empfehlenswerten Zeitschrift mit Spannung.
Autor: Wigbert Benz. Erstveröffentlichung in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Heft 71/2006, S. 104 ff.
Zeithistorische Forschungen. Studies in Contemporary History. Herausgegeben von Konrad H. Jarausch und Christoph Kleßmann in Verbindung mit Zeitgeschichte-online. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag., Göttingen. Erscheinungsweise dreimal jährlich. Abo-Preis 64 €, Einzelheftpreis 24,90 €