Christin, Wissenschaftlerin, „Gerechte unter den Völkern“
Am 12. Februar 2002 erreichte die Evangelische Kirche Deutschlands eine ehrenvolle Botschaft: Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel hatte die Deutsche Hildegard Schaeder mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war Hildegard Schaeder bereits 18 Jahre tot, und diese „verspätete“ Ehrung war in gewisser Weise symptomatisch für ihr Leben: Eine große Wissenschaftlerin, glaubensfeste Christin und mutige Helferin bedrohter Juden war sie, die dennoch so still und ohne Aufsehen lebte, dass sie sehr bald beinahe völlig vergessen wurde. Man muß heute sehr tief in historischen, slavistischen oder theologischen Bibliotheken graben – um dann „Funde“ zu machen, die einen zu großer Ehrfurcht vor der Forscherin Hildegard Schaeder veranlassen. Und diese Ehrfurcht steigt weiter an, wenn man sich etwas mit ihrer Biographie beschäftigt.
Hildegard Schaeder wurde am 13. April 1902 in Kiel geboren. Ihr Vater Erich Schaeder war Theologieprofessor, ihre Mutter Anna Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Die Schaeders führten ein anregendes, offenes Haus, in dem die Mutter ihre vier Kinder im ersten Schuljahr selber unterrichtete. Erst später kam Hildegard auf private Gymnasien in Kiel und Breslau, wohin ihr Vater an die Universität berufen worden war. Im September 1920 legte sie die Abiturprüfung ab, studierte danach in Breslau und Hamburg klassische und slavische Philologie, osteuropäische Geschichte, Byzantinistik und Philosophie. In Hamburg promovierte sie 1927 bei Richard Salomon (1884–1966), dem Begründer der Hamburger Slavistik, mit der Dissertation „Moskau – das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der Slawischen Welt“. Diese Arbeit erlebte später einige Neuauflagen und sie ist immer noch ein Standardwerk zu dem Anspruch, den die Russische Orthodoxe Kirche Ende des 15. Jahrhunderts erhob: „Zwei Rome sind gefallen, aber das Dritte steht, und ein Viertes wird es nicht geben“ – nämlich das alte Rom der frühen Christen und das „Ost-Rom“ Konstantinopel (das 1453 von den Osmanen erobert wurde), weshalb nur Moskau als das Haupt des „heiligen Russlands“ und Hort des wahren Christentums zu gelten habe.
Thema und Ausführung waren charakteristisch für die Wissenschaftlerin Schaeder. Sie suchte ihre Forschungsgegenstände mit Vorliebe in der Ostkirche, analysierte deren zahllose Legenden, Heiligenleben etc., spürte alten und neuen Quellen mit immenser Sprach- und Sachkenntnis nach, knüpfte scharfsinnige Verbindungen und bewertete alles unter einem theoriehistorischen Aspekt, der dem Leser neue, für die Ökumene relevante Horizonte erschloß.
Hitlers Machtergreifung erlebte Hildegard Schaeder im Ausland, wenn sie vor dieser nicht geflohen war. Diese Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen, da ihr Lehrer Salomon 1934 „amtsenthoben“ wurde und in die USA emigrierte. Zu dieser Zeit lebte Hildegard Schaeder mit einem Forschungsstipendium für anderthalb Jahre in Prag, danach mehrere Monate im Norden Russlands. Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Pressestelle des „Preußischen Geheimen Staatsarchivs“ tätig. Diese Institution, seit 1924 in Berlin-Dahlem ansässig, hatte sich aus der „Registratur“ des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. entwickelt und archivierte kilometerlange Aktenbestände Preußens, darunter auch viele aus dessen ehemaligen „Ostprovinzen“, für deren Betreuung eine Slavistin und Osteuropa-Historikerin wie Hildegard Schaeder am rechten Platz war.
Acht Jahre hat Hildegard Schaeder in diesem Archiv gearbeitet, und ihre Arbeitsstelle bot gewiß Gelegenheit und Muße genug, sich vor der immer schlimmer werdenden NS-Realität und Hitlers Krieg auf kreative Art zu „verstecken“. Aber sie hatte erlebt, was mit ihrem wissenschaftlichen Mentor Salomon geschehen war, und sie sah, wie das Regime generell mit Juden umging. Als praktizierende Christin war sie weder bereit, sich in widerstandsloser Duldung zu üben, noch sich dem nationalsozialistischen Kirchen-Surrogat der „Deutschen Christen“ anzunähern. Hildegard Schaeder schloß sich der oppositionellen Bekennenden Kirche an, zumal eines derer Zentren, die Dahlemer Jesus-Christus-Kirche mit ihrem Pfarrer Martin Niemöller, in unmittelbarer Nachbarschaft lag. 1935 nahm sie erstmalig an einem Fürbitte-Gottesdienst teil und hörte dort eine Predigt Niemöllers, die die allgemeine Angst vor dem Regime gewissermaßen hinter bitterem Spott verbarg: „Gott sei Dank, daß unsere evangelischen Pfarrer nun dorthin kommen, in die Staatsgefängnisse, zu denen wir schon lange keinen Zugang mehr hatten. Nun lasst uns miteinander dafür beten, daß Gott ihnen Kraft gebe, ihn auch hinter Gefängnismauern anzurufen und zu preisen, daß die Gefangenen das Bekenntnis der mitgefangenen Pfarrer hören“.
In Niemöllers Gemeinde gab es einen „Besucherdienst“, der sich um alleinstehende „nichtarische“ Ehepaare kümmerte. Auch die katholische Kirche unterhielt eine ähnliche Einrichtung, die in Berlin von Dompropst Bernhard Lichtenberg geleitet wurde. Hildegard Schaeder beteiligte sich an dem evangelischen Helferkreis und teilte dadurch die spezifische Tragik dieser Initiative: Es ging darum, die Lebensbedingungen von Juden zu verbessern, deren schreckliches Schicksal doch niemand ändern konnte – ganz besonders nicht nach Kriegsausbruch, als diese Juden bereits zur Deportation in „Siedlungsgebiete im Osten“, Ghettos im polnischen „Generalgouvernement“, bestimmt waren. Und es handelte sich um „nicht-arische Christen“, also Juden, die versucht hatten, durch rasche Konversion zum Protestantismus oder Katholizismus der nationalsozialistischen Judenfeindschaft zu entgehen.
Am 1. Juli 1937 wurde Niemöller verhaftet, wonach sich seine Gemeinde zum täglichen Gebet für ihn und andere traf. Hildegard Schaeder drang darauf, daß alle Opfer des Regimes beim Namen genannt wurden, obwohl sie wusste, wie gefährlich das für alle Beteiligten werden konnte. Darum hat sie sich nicht gekümmert, vielmehr ihre Fürsorge für bedrängte Juden noch verstärkt, die sie mit Medikamenten, Nahrung und Kleidung versorgte, für einige sogar Verstecke fand oder andere Möglichkeiten der Rettung oder Flucht auskundschaftete. Dabei hatte sie gewisse Erfolge, wie zuletzt ihre postume Würdigung als „Gerechte unter den Völkern“ bewies.
Am 14. September 1943 wurde Hildegard Schaeder wegen „Begünstigung flüchtiger Juden“ (wie es in ihrem „Schutzhaftbefehl“ hieß) verhaftet. Eine Denunziation aus der Nachbarschaft hatte ihr die Gestapo auf den Hals gehetzt, aber die war nur der „Anlaß“ für die Inhaftierung gewesen; „Fräulein Dr. Schaeder“ war wegen ihres Mutes und ihrer Standfestigkeit längst unliebsam vermerkt worden. Etwa ein halbes Jahr verbrachte sie in Untersuchungshaft im Polizeigefängnis am Berliner Alexanderplatz, wo sie sich erfolgreich bemühte, ihre Mitgefangenen und Wärterinnen auf die Stärkungen durch Religion und Bibel zu verweisen.
Wenige Monate später wurde Hildegard Schaeder in das Frauen-KZ Ravensbrück, im Norden Berlins gelegen, eingewiesen. Sie war eine „Politische“, was schon durch den roten „Winkel“ auf der Gefangenenkleidung sichtbar wurde. Rote „Winkel“ mussten auch die ausländischen Gefangenen tragen, unter denen sich Hildegard Schaeder dank ihrer Sprachen- und Landeskenntnisse, vor allem aber durch ihre aufrechte Haltung – von ihren Leidensgenossinnen mit dem Beinamen „Ghandi“ gewürdigt – eine herausgehobene Stellung erwarb. Wenn der einzig mögliche und effektive Widerstand im KZ darin bestand, die auf Vernichtung ausgerichteten Haftbedingungen auf irgendeine Weise zu überleben, dann hat Hildegard Schaeder nicht wenige Mitgefangene zu eben diesem Widerstand befähigt. Und das hat ihr das Leben gerettet: Im Frühjahr 1945 war sie selber bereits zum Tod bestimmt – in der Gaskammer, wie es in Schaeder-Biographien heißt, aber in KZs in Deutschland gab es keine Gaskammern und die KZs „im Osten“ waren nicht mehr zugänglich -, blieb durch das Eintreten einer katholischen Mitgefangenen aus Polen aber davor verschont.
Ravensbrück wurde von der sowjetischen Armee befreit. Hildegard Schaeder ging nach Mecklenburg, um dort in verschiedenen Gemeinden als Gemeindehelferin tätig zu werden. 1948 siedelte sie zu ihrer Familie nach Göttingen über und kehrte zur Osteuropa-Forschung zurück. Von 1948 bis 1970 war sie als Referentin für orthodoxe Kirchen beim Außenamt der Evangelischen Kirche aktiv und redigierte seit Mai 1955 die „Informationen aus der Orthodoxen Kirche“. In den 1950er Jahren war sie aktiv in Kontaktaufnahmen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche involviert und begleitete Repräsentanten der Evangelischen Kirche – 1952 Martin Niemöller und 1954 Synodalpräses Gustav Heinemann – auf deren Russlandreisen. In der Zeitschrift des Moskauer Patriarchats berichtete sie, was sie auf diesen Reisen am stärksten beeindruckt hatte: „In vielerlei Gesprächen mit einfachen Leuten – alten und jungen – und mit Persönlichkeiten des kirchlichen und öffentlichen Lebens begegneten wir keinem Haß gegen das deutsche Volk. Das bedeutet: das Sowjetvolk, das mehr als die westlichen Völker durch die deutsche Besetzung gelitten hat, hatte die Kraft – nach vierjährigem gegenseitigen Blutvergießen – dem anderen Volk zu verzeihen“.
Als Hildegard Schaeder wieder nach Russland reisen konnte, lebte Stalin noch (+1953) bzw. waren der Kult und der Mythos um ihn noch sehr lebendig. Gegenwärtig, mehr als ein halbes Jahrhundert später, regt sich in Russland eine gewisse Nostalgie nach ihm, die zwar nur von wenigen geteilt wird (da es gleichlaufend auch eine bemerkenswerte Fülle von filmischen und literarischen Dokumentationen gibt, die die Russen über die ganze Schrecklichkeit des Stalin-Regimes aufklären), aber sehr massiv im Ton ist: Stalin ließ sich allein von russischen Interessen leiten, er war ein typischer „russischer Selbstherrscher“, er wusste, daß russische Autokratie nur in Verbindung mit russischer Kirchen-Orthodoxie ihre volle Wirksamkeit entfalten kann etc. Zumindest die letzte Behauptung birgt einen Kern von Wahrheit, wie Stalins Konzessionen an die Kirche zu Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion bewiesen. Eben diesen Aspekt hatten auch Hildegard Schaeder und Gustav Heinemann in ihrem Reisebericht im Auge, dessen Niederschrift sie bereits auf dem Rückflug von Moskau begannen: Der „Sowjetstaat“ hat die Kirche „in der Hand“, aber er „respektiert den Volkswillen“. Er kann nicht die „Tatsache“ übersehen, „daß eine orthodoxe Christenheit da ist und sich in den Gottesdiensten zur Kirche bekennt“. Die Kirche verfügt über einen „Lebensraum“, aber „dieser Raum ist durch den Wegfall (…) der karitativen und pädagogischen Möglichkeiten enger als vor der Revolution“. Im übrigen habe historisch lange Staatstreue der Kirche, d.h. ihre Verbindung mit Despotie, Leibeigenschaft und Feudalismus, nicht „unbestraft“ bleiben können, was auch Geistliche einsähen. Ob Kirchenführungen „frei von politisch gelenkten Personen“ seien, „bleibt eine Frage für sich“. So weit Schaeder und Heinemann 1954, und die „Tiefenschärfe“ ihrer Erkenntnisse kann man wohl erst in Kenntnis neuester Entwicklungen im Kirchenleben Russlands vollauf ermessen.
Hildegard Schaeder hat die ganzen 1950er und 1960er Jahre über einen aktiven Austausch mit der Russisch-Orthodoxen Kirche begleitet, der sich in Reisen, gegenseitigen Besuchen, Diskussionen und Gesprächsforen realisierte. Daneben blieb sie in der Wissenschaft – von 1962 bis 1978 als Frankfurter Honorarprofessorin für die Geschichte der orthodoxen Kirchen, als Autorin von Dutzenden wissenschaftlichen Arbeiten, als Herausgeberin wichtiger Quellenwerke und anderweitig. Am 11. April 1984 verstarb sie in Freiburg im Breisgau und wurde auf dem Oberräder Waldfriedhof in Frankfurt M. beerdigt.
Recht bekannt war sie nie, aber völlig vergessen ist sie auch nicht; in der Slavistik und Osteuropa-Geschichte sind ihre Werke nach wie vor ein Begriff, an dem sich einschlägige Neuveröffentlichungen messen lassen müssen. Und ihre postume Ehrung als „Gerechte unter den Völkern“ hat auch die außerwissenschaftliche Seite ihres Lebens geehrt: Der Plural des Ehrentitels hat gerade bei ihr mehr als eine Berechtigung: Hildegarde Schaeder lebte, wirkte und schlug Brücken „unter den Völkern“.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Schwöbel, Gerlind: Leben gegen den Tod. Hildegard Schaeder »Ostern im KZ«, Frankfurt 1995