Der erste Widerständler: Fritz Gerlichs früher Kampf gegen Hitler
Viele Menschen sind heute der Auffassung, das NS-Regime sei demokratisch und mit dem Rückhalt der Mehrheit der Bevölkerung und mit der loyalen Unterstützung anderer rechter Parteien an die Macht gekommen. Dies entspricht allerdings nur in Teilen der Wahrheit. Am 6. November 1932 – der für die spätere Machtergreifung maßgebenden Wahl – gaben 33,1 % der Wähler der NSDAP ihre Stimme, bei einer Wahlbeteiligung von 80,6 % sind das nicht einmal 27 % der Wahlberechtigten. Die nächste Wahl, die dem Ermächtigungsgesetz vorausging, war schon nicht mehr wirklich demokratisch, und bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz selbst machte sich neben der rechten DNVP auch das sich der Mitte zuordnende Zentrum (quasi Vorläufer der Unionsparteien CDU/CSU) zum Steigbügelhalter für Adolf Hitler (1889 – 1945). Viele rechte und konservative Kräfte hatten sich bis dahin Hitler entgegengestellt. Doch die NSDAP hatte sich gebärdet wie ein trotziges Kind, das so lange quengelte und wütend mit dem Fuß aufstampfte, bis es endlich seine Süßigkeiten, also die Kanzlerschaft für Hitler, bekam. In der Weimarer Republik gab es nämlich noch eine gemäßigte Rechte, wo in unserem heutigen Parteienspektrum ein großes Loch zwischen der neoliberalen FDP und der rechtsextremen AfD klafft. Diese demokratische Rechte sah die NSDAP und Hitler durchaus mit Sorge, war nicht weniger angewidert von deren Vorhaben als andere demokratische Kräfte in Weimar. Der wohl erbittertste Gegner Hitlers aus den Reihen der gemäßigten Rechten war Fritz Gerlich (1883 – 1934), welcher früher als so ziemlich jeder andere die Gefahr erkannte, die von Hitler ausging und ihn mit allen Mitteln bekämpfte, die sich einem Demokraten in der Weimarer Republik boten.
Fritz Gerlich wurde am 15. Februar 1883 als ältester von vier Söhnen in eine Stettiner Calvinistenfamilie geboren. Nach seinem Schulabschluss 1901 studierte Gerlich zunächst noch Mathematik und Physik an der Universität Leipzig, wechselte aber 1903 an die Universität München, wo er Geschichte und Anthropologie studierte und sich in der Freien Studentenschaft engagierte. Bei seiner Promotionsprüfung bei Karl Theodor Ritter von Heigel (1842 – 1915) schnitt Gerlich 1907 so gut ab, dass man ihn verdächtigte, die Prüfungsthemen gekannt zu haben, woraufhin er anbot, man möge ihn doch in einem anderen Thema prüfen, wobei er wieder mit Bestleistungen glänzte.
Er war anschließend als Historiker beim bayerischen Staatsarchivdienst tätig, publizierte aber auch schon in den „Süddeutschen Monatsheften“, in der von ihm selbst gegründeten Wochenzeitschrift „Die Wirklichkeit“ und in den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“, obgleich er erst 1931 zum Katholizismus konvertieren sollte, nachdem er 1927 die Stigmata der Therese Neumann von Konnersreuth (1898 – 1962) mit eigenen Augen gesehen hatte. Gerlichs frühe Publikationen sind klar dem antisozialistischen und völkisch rechtskonservativen Spektrum zuzuordnen, was man allerdings vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeistes sehen muss, der insgesamt nationalistisch-militaristisch war, sofern jemand nicht den progressiven und revolutionären Kräften der extremen Linken angehörte. Vor Kriegsende engagierte Gerlich sich daher auch im engeren Ausschuss des bayerischen Landesvereins der rechtsradikalen Deutschen Vaterlandspartei (DVLP).
1918 endete der Erste Weltkrieg. Die Weimarer Republik und die Münchener Räterepublik, gegen die Gerlich sich starkmachte, konkurrierten in Bayern kurzzeitig miteinander, ehe die Republik von Weimar sich deutschlandweit durchsetzen konnte, wobei die Eigenbezeichnung Bayerns als „Freistaat“ bis heute überdauert hat. 1920 heiratete Fritz Gerlich Sophie Botzenhart (1883 – 1956, geb. Stempfle) und wurde Chefredakteur der „Münchner Neueste Nachrichten“ (MNN), aus der einmal die „Süddeutsche Zeitung“ hervorgehen sollte. Gerlich war auch als Redenschreiber tätig und verfasste so auch die Rede, die Gustav Ritter von Kahr (1862 – 1934) im Bürgerbräukeller am Abend des 9. November 1923 halten sollte. Der Putschversuch von Hitler und General Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (1865 – 1937), in den sie neben von Kahr auch Hans Ritter von Seißer (1874 – 1973) und Otto Hermann von Lossow (1868 – 1938) zwangsweise einspannten, war der Wendepunkt in Gerlichs Beurteilung der NSDAP, Hitlers und der extremen Rechten als Ganzes.
Gerlich wandelte sich zu einem Verfechter des Naturrechts als Menschenrecht und zu einem Unterstützer des nationalliberalen Reichskanzlers und späteren Außenministers Gustav Stresemann (1878 – 1929). Gerlichs Wandel zu einem erbitterten Gegner der Nationalsozialisten und sein aufbrausendes, mitunter latent gewalttätiges Verhalten (im angetrunkenen Zustand warf er einmal ein Bierglas nach dem Verlagsdirektor) führten am 1. Februar 1928 zu seinem Ausscheiden aus den MNN. Auch seine Frau ertrug Gerlichs Wutausbrüche, die auch zu Beleidigungsklagen geführt hatten, nicht mehr und verließ ihn – scheiden ließ sie sich allerdings nie von ihm. 1930 wurde Gerlich dann Chefredakteur und Herausgeber der katholischen Zeitschrift „Illustrierter Sonntag“, die 1932 in „Der gerade Weg“ umbenannt wurde. Der primäre Zweck dieser Zeitschrift lag bald nicht mehr in der Verkündung des Glaubens, sondern im publizistischen Kampf gegen Hitler. So wandte Gerlich in einem satirischen Artikel die Rassenlehren der Nazis auf Hitler selbst an und kam zu dem Schluss, Hitler habe ein slawisch-mongolisches Aussehen, woraus ein asiatisch-despotischer Rassecharakter folge. Gerlich prophezeite in seiner Zeitschrift mit erstaunlicher Treffsicherheit die Verbrechen des NS-Regimes, warnte vor Krieg, Völkermord und den Konzentrationslagern. „Nationalsozialismus heißt: Feindschaft mit den benachbarten Nationen, Gewaltherrschaft in Innern, Bürgerkrieg, Völkerkrieg, Lüge, Hass, Brudermord und grenzenlose Not“, schrieb Gerlich.
Jetzt mag man sich fragen, wie Gerlich damit bei wachsender Beliebtheit und Macht Hitlers solange ungeschoren davon kam: Er ließ „Der gerade Weg“ in derselben Druckerei drucken wie den „Völkischen Beobachter“ und nutzte damit die eine Druckerei im ganzen Reichsgebiet, deren Pressen die SA nicht zerstören würde. Hitler und Gerlich liefen sich in der Druckerei sogar hin und wieder über den Weg. Doch irgendwann übte Hitler dann soviel Druck auf den Druckereibetreiber aus, dass Gerlich gezwungen war, die Druckerei zu wechseln und die Zeitung noch einmal umzubenennen in: „Deutsche Zeitung für Wahrheit und Recht“.
Am 9. März 1933 – einen Monat und etwas über eine Woche nach der Machtergreifung und zwei Wochen vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes – suchten SA-Männer Gerlich in den Redaktionsräumen auf. Kollegen hatten ihm angeboten, ihn in die Schweiz zu schmuggeln, doch Gerlich war geblieben. Die SA-Männer folterten ihn, einer zertrat ihm die Hände, damit er nie wieder schreiben könne. Verschiedene Personen aus Reihen der katholischen Kirche versuchten, eine Freilassung oder zumindest ärztliche Versorgung und geistigen Beistand für Gerlich zu erwirken – ohne Erfolg. Fritz Gerlich, der in gewisser Weise erste Widerständler gegen den Nationalsozialismus, wurde nach 16 Monaten in „Schutzhaft“ in das KZ Dachau verbracht und dort am 1. Juli 1934 erschossen.
Literatur
Erwein Freiherr von Aretin: Fritz Michael Gerlich. Prophet und Märtyrer. Sein Kraftquell. Verlag Schnell und Steiner, München 1983 (2. erg. Aufl. mit einem Vorwort von Karl Otmar von Aretin).
Ovidio Dallera, Ilsemarie Brandmair: Tödliche Schlagzeilen. Fritz Michael Gerlich, ein Journalist gegen Hitler. Verlag St. Michaelsbund, München 2009.
Stefan Meetschen: Ein gerader Weg. Der katholische Journalist, Widerstandskämpfer und Märtyrer Fritz Gerlich, Fe Verlag, Kißlegg 2015.
Rudolf Morsey: Fritz Gerlich (1883–1934). Ein früher Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016.
Augustin Niedermeier: Ein Kämpfer für Wahrheit und Recht. Fritz Gerlich, ein Mann des katholischen Widerstands. EOS-Verlag, St. Ottilien 1995.
Hans-Günter Richardi, Klaus Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler. Ludwig, München 1993.
Michael Schäfer: Fritz Gerlich 1883–1934. Publizistik als Auseinandersetzung mit den „politischen Religionen“ des 20. Jahrhunderts. München 1998 (Dissertation).