Das größte NS-Massaker in Ostpreußen fand noch Ende Januar 1945 statt
In der Provinz Ostpreußen gab es kein großes Konzentrationslager. Doch unmittelbar nach der Besetzung Polens 1939 begann die SS auf Danziger Boden mit dem Bau des KZ Stutthof, das bald zahlreiche Außenlager in Ostpreußen unterhielt. Diese wurden im Herbst 1944 „aufgefüllt“, als man hier Arbeitssklaven brauchte, um sich gegen die heranrückende Rote Armee zu verschanzen. Meist waren es jüdische Frauen zwischen 16 und 40 Jahren, die das Lager Auschwitz als „arbeitsfähig“ nach Stutthof überstellt hatte. Hinzu kam eine kleinere Gruppe männlicher Häftlinge aus Lagern im Baltikum.
Im Oktober stieß die Rote Armee zur Memel vor und setzte sich am Nordufer des Flusses fest. Sie drang auch bei Gumbinnen und Goldap ins Land, wurde dort aber wieder zurückgeschlagen, sodass sich für knapp drei Monate die Front südlich der Memel etwa an der Landesgrenze stabilisierte. Die Flüchtlinge aus dem Memelland und den Grenzkreisen, die zumal die Ortschaften im westlichen Samland, so auch das Bernsteindorf Palmnicken, überfüllten, blieben in der Hoffnung auf baldige Rückkehr erst einmal hier und zogen nicht weiter ins „Reich“.
Um die Ardennenoffensive führen zu können, verlegte Hitler im November große Truppenverbände von der Ostfront nach Westen. Sie kehrten nicht zurück. So gab es in Ostpreußen kaum noch Reserven. Zwar wurden mehr als hunderttausend Männer zum Volkssturm einberufen. Doch der blieb dem Gauleiter Erich Koch unterstellt. Die Trennung zwischen Zivilverwaltung und Militärführung verschärfte das Flüchtlingschaos, als die Sowjets am 12. Januar 1945 ihre große Offensive begannen.
Die Opfer sollen in einem Stollen eingemauert werden
Nur 14 Tage brauchten die Rotarmisten der 2. und 3. weißrussischen Front, um zum Frischen wie zum Kurischen Haff vorzustoßen, Ostpreußen vom übrigen Reich abzuschneiden und Königsberg in die Zange zu nehmen. Nördlich der Stadt gelangten russische Verbände in den Rücken der 5. deutschen Armee und kämpften bereits am 30. Januar in der Nähe von Palmnicken mit Einheiten des XXVIII. Armeekorps, das den Brückenkopf Memel geräumt hatte und über die Kurische Nehrung zum Entsatz ins Samland einrückte.
Wer es noch konnte, machte sich auf den Weg zum total überfüllten Seehafen Pillau in der Hoffnung, von der Marine über die Ostsee nach Westen evakuiert zu werden. Für mehr als fünftausend Flüchtlinge, die sich auf den ehemaligen KdF-Dampfer Wilhelm Gustloff gerettet hatten, führte dieser Weg direkt in den Tod: Ein russischer Torpedo traf das Schiff am Abend des 30. Januar vor Pommerns Küste, binnen einer Stunde war es in der eisigen See gesunken. Just zur selben Zeit wurden in Palmnicken ungezählte Einwohner und Flüchtlinge entsetzte Zeugen des letzten und größten SS-Massakers in Ostpreußen, dem insgesamt ebenfalls mehr als fünftausend Menschen zum Opfer fielen.
Viele Filme, Bücher und Zeitungsartikel haben die sinnlose Versenkung der Gustloff dokumentiert und den Tod der Flüchtlinge fest im Bewusstsein der Deutschen verankert. Die gleichzeitige Ermordung der jüdischen Frauen, die zuletzt unter Maschinengewehrsalven ins Meer gehetzt wurden, blieb dagegen fast unbekannt. Zwar hat Anfang der sechziger Jahre die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg im Zuge umfangreicher Vorermittlungen 108 Zeugen verhört, doch bevor es in Lüneburg zum Prozess kam, starben die Hauptbeschuldigten und das Verfahren wurde eingestellt. Auch in Israel wurde ermittelt. Die Jerusalemer Gedenk- und Forschungsstätte Jad Vashem bewahrt die Aussagen der wenigen Überlebenden auf. Dort finden sich auch Kopien von Protokollen der Verhöre und von Berichten sowjetischer Militär- und Geheimdienststellen, die im April und Mai 1945 die Vorgänge untersucht haben.
Doch öffentlich wurde das alles nicht. Erst als der Handwerksmeister Martin Bergau aus Heimsheim bei Stuttgart seine zunächst für die Familie aufgeschriebenen Erinnerungen einem Verlag gab und dafür ergänzende Recherchen begann, erhielt das Palmnicker Verbrechen eine begrenzte Öffentlichkeit. (Sein Buch Der Junge von der Bernsteinküste erschien 1994, Heidelberger Verlagsanstalt, 276 S., 15,- Euro). Die aus dem Bundeshaushalt unterstützte Landsmannschaft Ostpreußen und ihr Ostpreußenblatt haben zwar bis heute jede Kenntnisnahme verweigert und Berichte über das Massaker nicht in ihr Archiv genommen. Dafür treffen bei Bergau immer neue Erlebnisberichte von Augenzeugen ein, die damals wie er in oder bei Palmnicken gelebt haben. Die einzelnen Quellen enthalten manche Widersprüche, doch im Kern stimmen sie überein und führen zu einem verlässlichen Gesamtbild des Verbrechens.
Als die sowjetische Offensive begann, löste die SS die Stutthofer Außenlager in Ostpreußen auf. Die Insassen wurden nach Königsberg getrieben und in einer Fabrik nahe dem Nordbahnhof konzentriert. Beim letzten Zählappell kam man auf dreizehntausend Gefangene. Über das weitere Schicksal der Mehrheit von ihnen gibt es Spekulationen und Gerüchte, aber keine verlässlichen Zeugnisse. Doch etwas mehr als fünftausend dieser Gefangenen wurden am frühen Morgen des 26. Januar, als es keinen Landweg mehr ins „Reich“ gab, aus der Fabrik geführt. Ohne Lebensmittel und warme Kleidung trieben SS-Leute sie bei klirrendem Frost auf die Straße nach Palmnicken.
Von den Opfern – ganz überwiegend junge Frauen meist aus Polen, der Ukraine und Ungarn – überlebten den knapp fünfzig Kilometer langen Marsch nur etwas mehr als dreitausend: Unterwegs erschlug oder erschoss das Begleitkommando jeden, der schwach wurde oder sich auch nur ein wenig Schnee gegen Durst und Hunger vom Straßenrand holen wollte. Das alles geschah auf offener Straße am helllichten Tag, ohne auch nur den geringsten Versuch, das Morden zu verbergen. So gab es Hunderte von Zeugen. Renate Laatsch, die im Auto Lohngelder von Königsberg zur Sparkasse Palmnicken brachte, kam nicht vorwärts. Ihr Kraftfahrer musste aussteigen und die Leichen der Ermordeten von der Straße räumen. Der zehnjährige Klaus Lemke, der mittags in Kumehnen an der Straße spielte, versteckte sich voller Angst, als der Elendszug das Dorf passierte. Hinterher sah er viele Leichen und auch angeschossene Opfer, die um Hilfe flehten. Ein anderer Zeuge war Theodor Gehrenbach. Von Fischhausen kommend bog er in der Dunkelheit des folgenden Morgens auf die Straße nach Palmnicken ein. Entsetzt begann er, die Erschossenen und Erschlagenen am Wegesrand zu zählen. Nach ein paar hundert Metern gab er es auf. Bis 386 war er gekommen …
Der 16-jährige Palmnicker Martin Bergau gehörte zum Volkssturm und hatte sich mit einer erbeuteten russischen Maschinenpistole ausgerüstet. In der elterlichen Wohnung nahe dem Südende des lang gestreckten Reihendorfes weckten ihn nachts gegen drei Uhr Schüsse und Geschrei. In der Meinung, die Sowjets seien von See her gelandet, stürzte er mit seiner Maschinenpistole aus dem Haus, gerade als eine Frau dem Grundstück zustrebte. Von der Waffe erschreckt, drehte sie um, Schüsse fielen, die Frau brach tot zusammen. Der Junge suchte in einer Schneewehe an der Gartenhecke Schutz und sah den nicht enden wollenden Zug zerlumpter Menschen, die von Uniformierten nach Norden zum Bernsteinwerk getrieben wurden. Wer aus der Kolonne ausbrach, wurde erschossen, doch Bergau bekam mit, dass einigen die Flucht durch die Vorgärten gelang.
Den Befehl zu diesem Todesmarsch hatte wahrscheinlich der Chef der Gestapoleitstelle Königsberg gegeben, ein SS-Sturmbannführer namens Gormig. Er endete später durch Selbstmord. Das Endziel Palmnicken mit seinem Bernsteinbergwerk war ihm vom Chef der staatlichen Bernsteinmanufaktur in Königsberg, Gerhard Raasch, gesteckt worden. Im Stollen der stillgelegten Grube Anna des Bernsteinwerkes sollten die Opfer eingemauert werden. Man rechnete mit der Kooperationsbereitschaft des Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters der NSDAP, Kurt Friedrichs, und der Leitung des Bernsteinwerkes. Weder für die Gefangenen noch für ihre Mörder waren Quartier und Verpflegung vorbereitet. Die Mörder, das waren ein SS-Obersturmführer Fritz Weber (der sich zwei Jahrzehnte später, 1965, in der Untersuchungshaft das Leben nahm), zwei Untersturmführer und zwanzig deutsche SS-Leute. Hinzu kamen etwa 120 ausländische Helfer, Ukrainer, Belgier, Niederländer und Litauer sollen dabei gewesen sein. Ihrer erdbraunen Uniformen wegen haben viele Augenzeugen sie der Organisation Todt zugerechnet.
Hitlerjungen geben den Sterbenden den Gnadenschuss
Doch die SS hatte sich verrechnet. Der aus dem Schlaf geholte Bergwerksdirektor Landmann gab keinen Stollen frei. Die dienten der Wasserversorgung der Palmnicker, argumentierte er. Stattdessen ließ er das Tor öffnen, um die erschöpften und halb erfrorenen Opfer in der sehr großen Werksschlosserei unterzubringen. Den Wächtern wurde erlaubt, in Büros und auf Korridoren zu schlafen. Am Morgen traf Hans Feyerabend ein, der Direktor der drei dem Bernsteinwerk gehörenden Staatsgüter, und Sturmführer Weber musste praktisch das Kommando abgeben. Feyerabends Erklärung ist vielfach bezeugt: Solange er lebe, würden die Juden zu essen bekommen, keiner werde umgebracht, aus Palmnicken dürfe kein Katyn werden. Er ließ schlachten und Stroh, Erbsen, Brot heranschaffen. Die Werkskantine musste für die völlig erschöpften Frauen kochen.
Im Bernsteinwerk konnte Feyerabend mit seinen Helfern die Gefangenen versorgen und schützen. Außerhalb hatte Bürgermeister Friedrichs das Sagen.
Der organisierte Pferdefuhrwerke, welche die Leichen aufsammeln mussten. Und er aktivierte Trupps von Hitlerjungen, die in den Häusern nach geflohenen Juden fragen und auch den Wald durchsuchen sollten. Ihnen wurde freigestellt, entdeckte Opfer sofort zu erschießen oder sie bei Friedrichs einzuliefern.
Eine, die das bezeugt hat, war Bertha Pulver. Sie hat etliche der Jungen erkannt und ihnen selbst ein Opfer unter dem Vorgeben abgenommen, sie nehme die Jüdin mit, um sie auszuliefern. Tatsächlich hat sie die Verfolgte, Dora Hauptmann, bei sich versteckt, bis Mitte April die Russen kamen. Auch eine Reihe anderer namentlich bekannter Palmnicker hat den Mut dazu aufgebracht.
Güterdirektor Feyerabend genoss in der ganzen Gegend hohes Ansehen. Der Reservemajor aus dem Ersten Weltkrieg war auch Kommandant des Palmnicker Volkssturms. Um ihn aus dem Weg zu schaffen, haben wahrscheinlich Bürgermeister Friedrichs und SS-Offizier Weber eine Intrige gesponnen. Vom SD in Königsberg erreichte Feyerabend ein drohender Ukas. Und es kam der Befehl, mit hundert Volkssturmleuten eine Stellung der Wehrmacht bei Kumehnen zu verstärken. Am Dienstag, 30. Januar, rückte das Kommando aus, doch es traf auf eine Heereseinheit, die diese Verstärkung weder angefordert hatte noch mit ihr etwas anfangen konnte. Feyerabend, der seinen Stellvertreter beauftragt hatte, die jüdischen Schützlinge weiter zu versorgen – „vielleicht das letzte, was ich für diese Menschen tun kann“ -, begriff, dass er in die Falle gegangen war und keine Chance mehr hatte. Kameraden fanden ihn, mit dem eigenen Gewehr durch den Mund geschossen. Ob der Selbstmord vielleicht nur vorgetäuscht war, untersuchte niemand.
Es war wohl jener Dienstagabend nach dem Ausrücken der Volkssturmeinheit, als Bürgermeister Friedrichs ein Dutzend bewaffnete Hitlerjungen, darunter Bergau, ins Gemeindeamt beorderte, ihnen Schnaps einschenkte und sie dann im Gefolge dreier SS-Leute an die Küste zur alten Grube Anna schickte. Dort hatten sie die jungen Frauen zu bewachen, die bei ihrer Flucht wieder aufgegriffen worden waren – nach Bergaus Erinnerung vierzig bis fünfzig.
Paarweise wurden sie von SS-Leuten um eine Hausecke geführt. Vor einer offenen Grube mussten sie niederknien, mit Pistolenschüssen ins Genick wurden sie getötet. Wer in dem Graben noch Lebenszeichen von sich gab, erhielt später von den Hitlerjungen den Gnadenschuss.
Am Mittwoch dann brachte ein Pferdewagen die Leiche Feyerabends. Das muss dessen Mitarbeiter tief entmutigt haben. Jedenfalls lag das Schicksal der verbliebenen dreitausend Gefangenen nun wieder in der Hand der SS. Die ging jetzt möglichst heimlich vor. In der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar wurden die Opfer unter dem Vorwand, man wolle sie per Schiff in Sicherheit bringen, auf kürzestem Weg aus dem nördlichen Werkstor den Seeberg hinunter zum Strand geführt. Dort mussten sie am Küsteneis der Ostsee entlang nach Süden marschieren. Zwischen dem Strand und dem etwa dreißig Meter höher gelegenen Ort zieht sich ein breiter Wald- und Parkstreifen hin. Deshalb haben nur wenige Palmnicker beobachtet, was nun geschah. Die SS-Schützen rollten die weit auseinander gezogene Kolonne von hinten her auf, trennten jeweils die letzte Gruppe ab, jagten sie unter Feuer aus Maschinenwaffen aufs Eis und ins Wasser.
In der Dunkelheit und Eile war trotz des Einsatzes von Leuchtgeschossen die systematische Ermordung aller nicht möglich. Viele wurden zunächst nur verwundet oder gar nicht getroffen. Manche sanken in Ohnmacht und erfroren oder gerieten zwischen die Eisschollen und ertranken. Andere starben nach tagelangen Qualen am Strand. Zahlreiche Einheimische, unter ihnen auch Bergau, haben in der Folgezeit große Mengen Leichen gesehen, die die Brandung an die Westküste des Samlandes spülte. Doch einige Überlebende konnten sich in Häuser retten.
Im Palmnicker Krankenhaus boten Ärzte und Schwestern einem schwer verwundeten Mädchen namens Anneliese Schutz, auch vor der Todesspritze eines Gestapomannes. So notierte es die Pfarrersfrau Eva Jänicke am 9. Februar in ihrem erst 1999 wieder entdeckten Tagebuch. Wie auch andere zunächst Gerettete erlag Anneliese später ihren Verletzungen. Doch es gab 15 Überlebende. Sie konnten den Russen von dem Verbrechen berichten, als diese zehn Wochen später Palmnicken einnahmen.
Anders als befürchtet, übten die Sieger nicht Rache, obgleich sie die entsetzlich zugerichteten Opfer in den vielen von ihnen entdeckten Massengräbern als sowjetische Zivilisten einstuften. Sie versuchten vielmehr, die Schuldigen zu finden – ohne Erfolg, denn bis auf ein paar der Hitlerjungen waren die Täter rechtzeitig geflohen, nachdem im Februar die Sowjets sich zunächst wieder aus dem westlichen Samland zurückgezogen hatten.
Zu Pfingsten 1945 kam es dann zu einer Art Abschlussritual. Etwa zweihundert Palmnicker Mädchen und Frauen wurden gezwungen, 263 vermodernde Leichen mit bloßen Händen freizulegen. Sie waren in einem dreißig Meter langen Graben in der Nähe der Grube Anna verscharrt worden – 204 Frauen und 59 Männer. Dann wurden deutsche Tatzeugen aufgefordert, im Angesicht der Toten öffentlich zu berichten, wann und wie die Juden umgebracht worden waren.
Die zweihundert Palmnicker Frauen mussten sich nun hinter die Reihe der Leichen stellen. Russische Soldaten bezogen Stellung und richteten Maschinengewehre auf sie. Ein Major, selber Jude, hielt auf Deutsch eine Rede und sagte, man könne jetzt mit den Palmnickern so verfahren wie die Deutschen mit den Juden. „Er brachte zum Ausdruck, dass sie das tun könnten – aber davon absehen“, wie der von den Sowjets eingesetzte Palmnicker Bürgermeister Rudolf Folger später nüchtern zu Protokoll gegeben hat. „Nachdem der Major seine Rede beendet hatte, mussten wir die Toten in einem neuen Massengrab anständig einbetten.“ Dann gab es eine russische Feierstunde. Die Ansprache des Oberst Kabrowitski ist dokumentiert, auch sein feierlicher Schwur, der Ermordeten ständig zu gedenken, damit auch Enkel und Urenkel von ihrem Schicksal erfahren.
Erst 1994 wird eines der Massengräber wieder entdeckt
Tatsächlich war aber schon nach einem Jahrzehnt alles vergessen. 1947/48 mussten die Deutschen aus dem Land. Die Militäreinheiten wechselten. Zivilisten aus den Weiten der Sowjetunion wurden hier angesiedelt, Palmnicken in Jantarnij umbenannt. Die Gräberfelder der Deutschen wie ihrer Opfer ebnete man ein.
Das Massengrab neben der Grube Anna verschwand unter dem Küstensand. Doch es blieb als einziges erhalten: In den sechziger Jahren stießen Bagger bei der Suche nach neuen Bernsteinvorkommen auf die Gebeine. Nun meinte man, eine Ruhestätte von in deutscher Gefangenschaft ermordeten Sowjet-Soldaten vor sich zu haben, und errichtete einen Gedenkstein mit der Inschrift Ewiger Ruhm den Helden. Als später ein Militärflugzeug abstürzte, setzte man auch die beiden umgekommenen Piloten hier bei. Jahr für Jahr legten nun Komsomolzen Kränze nieder, fanden Aufmärsche zum Heldengedenken statt, bis die Sowjetunion zusammenbrach und sich die Grenzen des mehr als vierzig Jahre hermetisch abgeschlossenen Kaliningrader Gebietes für die Außenwelt öffneten.
Bei einem Besuch in seinem Heimatort verglich Martin Bergau 1994 das inzwischen sehr vernachlässigte Gedenkgrab mit den Angaben der über Israel beschafften, doch in Jantarnij gänzlich unbekannten sowjetischen Dokumente von 1945. Dann ging er aufs Amt und erläuterte dem Bürgermeister, was sich vor fünf Jahrzehnten hier zugetragen hatte. Die überraschte Kommunalbehörde erlaubte Bergau, sich um die Restaurierung der Grabstätte zu kümmern. Es dauerte seine Zeit, aber dann erhielt er die Unterstützung des deutschen Außenministeriums, des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der russischen Organisation Memorial. 1999 haben junge Russen und junge Deutsche aus Brandenburg dann gemeinsam das Grab restauriert und befestigt.
Auch die von zugewanderten russischen Juden neu gegründete Synagogengemeinde Königsbergs gedachte hier inzwischen der Ermordeten. Am 31. Januar dieses Jahres setzte sie in Gegenwart von Gouverneur Gorbenko und Kaliningrader Honoratioren einen Gedenkstein mit hebräischem und russischem Text. Und vielleicht, vielleicht wird eines Tages sogar das Ostpreußenblatt den Mut finden, seinen Lesern zu berichten, was in der Nacht des 31. Januars am Palmnicker Bernsteinstrand geschah.
Autor: Reinhard Henkys. (Erstveröffentlichung in DIE ZEIT vom 02.11.2000 Seite 94 Nr. 45 / Zeitläufte)
Literatur
Aly, Götz: „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1995
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Bergau, Martin: Der Junge von der Bernsteinküste. Erlebte Zeitgeschichte 1938 – 1948. Heidelberg 1994.
Browning, Christopher: Der Weg zur Endlösung. Entscheidungen und Täter. 1998.
Browning, Christopher: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. München 2003.
Friedländer, Henry: Der Weg zum NS- Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. 1997.
Henkys, Reinhard: Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, Stuttgart 1964.
Wieck, Michael: Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein ‚Geltungsjude‘ berichtet, Heidelberg 1990.