„Es muß endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden – es ist ja doch alles nur Angst. ‚Tu Deinen Mund auf für die Stummen‘ – wer weiß denn das heute noch in der Kirche, daß dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?“ Dieses Bekenntnis aus dem Jahre 1934 stammt von dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der seinen Glauben mit dem Leben bezahlen mußte. Wie kaum ein anderer steht Bonhoeffer für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der protestantischen Kirche.
Am 4. Februar 1906 erblickte er als sechstes von acht Kindern in Breslau das Licht der Welt. Sein Vater, Karl Bonhoeffer, war ein renommierter Psychiater und Neurologe und leitete später die bekannte Berliner Charité. In seiner familiären Umgebung lernte er kritisch zu denken und Gehorsam, sowie Ordnung, als dominierende Werte preußischer Kultur in Frage zu stellen. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörten die Bonhoeffers zu denjenigen, in der die Weimarer Republik und die junge Demokratie Rückhalt fanden. Sowohl nicht zweiflerischer Antimodernismus als auch ein bürgerliches Selbstbewußtsein charakterisierten die Familie. 1923 entschied sich Bonhoeffer für das Studium der Theologie und schloß es nach vier Jahren und Studienaufenthalten in Tübingen, Rom und Berlin mit der Promotion ab. Ein Jahr später machte er das erste theologische Examen und begann ein Vikariat in Barcelona. 1930 bestand er das zweite theologische Examen und war mit nur 24 Jahren habilitiert. Die folgenden elf Monate sollten zu den entscheidendsten seines Lebens werden – er erfuhr die Grenzenlosigkeit christlicher Nächstenliebe.
Während seines Studienaufenthaltes in New York am Union Theological Seminary lernte er einen französischen Studienkollegen kennen. Sah er in ihm erst den Feind des vergangenen Krieges, sollte sich dies bald ändern. Er wurde mit einem Pazifismus konfrontiert, der auf dem Friedensgebot der Bergpredigt basierte und sein gesamtes Leben nachhaltig änderte. Einen Großteil seiner dortigen Zeit verbrachte Bonhoeffer in den Gemeinden Harlems, in denen überwiegend Farbige wohnten. Das Engagement der Kirche in Zeiten tiefer wirtschaftlicher Depression beeindruckte ihn sehr und er erkannte, daß das Evangelium seinen Auftrag über alle nationalen und sozialen Grenzen hinweg setzte. Es erhielt ein politisches Gesicht und leitete zum konkreten Handeln an. Als Bonhoeffer im Sommer 1931 von seinem Amerika-Aufenthalt nach Berlin zurückkehrte, arbeitete er als Privatdozent, Studenten- und Jugendpfarrer. Wie in vielen unzähligen anderen Biographien, sollte die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 auch für Bonhoeffer einen tiefen Einschnitt bedeuten – Bonhoeffer wurde zum entschiedenen und unerschrockenen Gegner des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Der Glaube an Gott und der Kampf gegen das Unrecht waren für ihn zwei Seiten derselben Medaille. Aber auch schon vor 1933 warnte er ausdrücklich vor den Gefahren des Nationalsozialismus und entsprechend schrieb er im Sommer 1932 – kurz vor dem großen Wahlsieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 –, daß „der Sieg der Hitlerpartei unabsehbare Konsequenzen nicht nur für die Entwicklung des deutschen Volkes, sondern für die Entwicklung der ganzen Welt [hätte].“ Auch später, als seine Befürchtungen Gewissheit wurden, sprach er weiter offen aus, was er dachte – dies war mutig, weil nun lebensgefährlich.
Führung war für den evangelischen Theologen nicht grundsätzlich verwerflich, sofern sie einer guten Sache diente. Seiner Auffassung zufolge hatte der Führer einen begrenzten Erziehungsauftrag, indem er das Individuum zu Reife und Verantwortlichkeit in der Gesellschaft führt. Das mündige Individuum bedürfe keiner Führung mehr. Dieser Führerbegriff unterschied sich deutlich vom unbedingten Führungsanspruch Hitlers, wodurch Bonhoeffer frühzeitig die Grenze zum NS-Regime zog. Der staatliche Terror gegen die jüdische Bevölkerung rief ihn als einen der ersten Kirchenmänner auf den Plan, dagegen zu protestieren. Zwar gestand er dem Staat zu, die Judenfrage gesetzlich zu ordnen, er verwies jedoch auf Recht und Pflicht der Kirche hin, die Legitimität des staatlichen Handelns kritisch zu hinterfragen. Er ließ keinen Zweifel daran, daß die nationalsozialistische Judenpolitik jeglicher Legitimität entbehre und es die Pflicht der Kirche sei, den Opfern zu helfen. Damit begnügte er sich jedoch nicht, denn Widerstand hatte für ihn auch eine aktive Komponente. Im April 1933 formulierte Bonhoeffer offen die Pflicht eines bekennenden Christen, dass es eben nicht genüge „[…] nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“, wenn grundlegende Menschenrechte verletzt würden.
Die folgenden Jahre seines Lebens waren vom Kampf gegen die Gleichschaltung der Kirche, gegen den Krieg, gegen den Staatsterrorismus, gegen Rassismus und das Führerprinzip gekennzeichnet. Im Oktober 1933 übernahm er die Betreuung der deutsch-evangelischen Gemeinde in London-Sydenham und wandte sich von dort aus gegen die Deutschen Christen und warnte während einer ökumenischen Tagung auf der dänischen Insel Fanö 1934 vor der drohenden Kriegsgefahr, die vom Nationalsozialismus ausginge. 1934 konstituierte sich die Bekennende Kirche als Gegengewicht zur deutsch-christlichen Reichskirche, innerhalb derer Bonhoeffer der politischen Fraktion angehörte. Er kritisierte die unpolitische Haltung der Bekennenden Kirche, da sie ihm nicht weit genug ging – „Es muß endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden.“ Dabei wußte er genau, daß viel Mut dazugehörte, das Regime zu kritisieren und sich dagegen aufzulehnen. So stieß er auch selbst an seine Grenzen. Als seine Schwester Sabine ihn bat, den Trauergottesdienst für ihren verstorbenen jüdischen Schwiegervater zu halten, lehnte er aus Angst ab. Noch lange Zeit lief ihm dieser Entschluß hinterher, weil er ihm sein eigenes Unvermögen vor Augen hielt. Der gewaltfreie Widerstand Mahatma Ghandis faszinierte Bonhoeffer und er wollte vor Ort die Methode des zivilen Ungehorsams studieren, um sie gegebenenfalls auch auf Deutschland zu übertragen. Allerdings fand die geplante Indienreise nicht statt. Stark in der Überzeugung, dem nationalsozialistischen Regime die Stirn zu bieten, kehrte er 1935 nach Berlin zurück und übernahm auf Bitten von Vertretern der Bekennenden Kirche hin die Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde bei Stettin. Obwohl Bonhoeffer sich des Risikos des christlichen Bekennens im Nationalsozialismus bewusst war, mahnte er, deutlich Stellung zu beziehen und nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch im Staat gegen Unrecht zu kämpfen. Der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) blieben Bonhoeffers Aktivitäten nicht verborgen und nach wenigen Jahren des Regimes galt Bonhoeffer als Pazifist und Staatsfeind. 1936 wurde ihm die Lehrerlaubnis entzogen und ein Jahr später das Predigerseminar geschlossen. Bonhoeffer ließ sich davon nicht aufhalten und setzte die Arbeit im Untergrund fort, wohl wissentlich, von der Gestapo beobachtet zu werden. Damit gestand das Regime ein, daß es in ihm eine Gefahr sah, die aus der Öffentlichkeit so weit wie möglich zu bannen war. Zwar war die öffentliche Reichweite seiner Worte eingeschränkt, dies änderte aber nichts an deren Gewicht – die Illegalität war nun seine Öffentlichkeit. Bedingt durch die Gefahr, der er sich dadurch auslieferte, vermittelten ihm amerikanische Freunde eine Gastdozentur in New York. Aber nach wenigen Tagen kehrte er wieder nach Deutschland zurück. Seine persönliche Sicherheit und sein Leben waren für Bonhoeffer zweitrangig, an erster Stelle stand für ihn der Kampf gegen den Nationalsozialismus. 1940 wurde das illegal geleitete Predigerseminar zum zweiten Mal geschlossen und Bonhoeffer mit Rede- und Schreibverbot belegt.
Wegen seiner Kritik an der rein kirchlichen Widerstandshaltung in christlichen Kreisen suchte er Anschluß an den politischen Widerstand, um Hitler zu beseitigen, den er als „Antichrist“ bezeichnete. Damit wurde er vom bekennenden Christen und Menschenrechtler zum aktiven Verschwörer, der sich an den konspirativen Vorbereitungen eines Umsturzes beteiligte. Die unsagbaren Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen trieben ihn zum Äußersten. Über seinen Schwager Hans von Dohnanyi knüpfte er Kontakte zum Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) um Wilhelm Canaris, der ihm Deckung durch offizielle Auslandsaufträge gab. Im Mai 1942 traf er in Schweden mit Bischof Bell von Chichester zusammen und sondierte vergeblich Friedensmöglichkeiten nach einer Beseitigung des deutschen Diktators. Das britische Außenministerium weigerte sich jedoch, mit einer neuen deutschen Regierung Frieden zu schließen, die nicht bedingungslos kapituliert. Der „Tyrannenmord“ und der Verstoß gegen das göttliche Gebot einerseits, die Befreiung Deutschlands und der übrigen Welt vom Joch des Nationalsozialismus andererseits stürzten Bonhoeffer in tiefe Gewissenskonflikte. Er befürwortete den notwendigen Tod Hitlers, unterstrich dabei aber deutlich, daß dies gegen das Gebot Gottes verstöße und war bereit, diese Schuld auf sich zu nehmen. Am 5. April 1943 wurde Bonhoeffer wegen des Vorwurfs des Amtsmißbrauchs zu kirchenpolitischen Zwecken von der Gestapo verhaftet und in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel gebracht. Aus christlicher Nächstenliebe heraus, kümmerte er sich um Mitgefangene, sprach ihnen Mut zu und betete mit ihnen und für sie. Glaube war für Bonhoeffer immer lebensbezogen, was sich durch sämtliche Schriften zog. Glaube spielt sich nicht in irgendwelchen Nischen ab, sondern umfasst das gesamte Leben, die gesamte Welt, wie Christus der Herr der Welt ist.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 fand die Gestapo Beweise für Bonhoeffers konspirative Tätigkeit, die sein Todesurteil bedeuteten. Nach fast zweijähriger Haft im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis wurde er über die Zwischenstationen der Gestapo-Haft im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und Haft im Konzentrationslager Buchenwald in das Konzentrationslager Flossenbürg gebracht. Am 8. April 1945 – wenige Tage vor Eintreffen der US-amerikanischen Soldaten – verurteilte ein SS-Standgericht Bonhoeffer zusammen mit Hans Oster (Stabschef im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos des OKW) und Admiral Wilhelm Canaris zum Tode. In den Morgenstunden des folgenden Tages wurde er erhängt. Seine letzten Worte zeugen von seinem starken Glauben an das Christentum und dessen Verheißungen: „Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens.“
Es dauerte über 50 Jahre, bis das Berliner Landgericht am 26. August 1996 die Rehabilitierung des evangelischen Theologen bestätigte.
Autor: Mike Zuchet
Literatur
Benz, Wolfgang / Graml, Hermann / Weiß, Hermann (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 1997.
Bethge, Eberhard (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften. 6 Bände. München 1958–1974.
Bethge, Eberhard (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. 15., durchgesehene Auflage. Gütersloh 1994.
Benz, Wigbert / Bredemeyer, Bernd / Fieberg, Klaus (Hrsg.): Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. CD-ROM (Westermann Multimedia. Praxis Geschichte). Braunschweig 2004.
Hamerow, Theodore S.: Die Attentäter. Der 20. Juli – von der Kollaboration zum Widerstand. München 1999.
Kammer, Hilde / Bartsch, Elisabet: Lexikon Nationalsozialismus. Begriffe, Organisationen und Institutionen. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 1999.
Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2003.
Roon, Ger van: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. 7., überarbeitete Auflage. München 1998.