Rassismus, Antisemitismus, Antiliberalismus und der Wunsch nach einem genuin „germanischen“ oder „arischen“ Volk – auch heute noch fragen wir uns, woher die menschenverachtende Ideologie, mit der die Nationalsozialisten Ihre Gräueltaten legitimierten, kam und wie sie in der deutschen Gesellschaft Fuß fassen konnte. Zahlreiche Ideen, die das Denken von einflussreichen NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg, Adolf Hitler oder Joseph Goebbels nachhaltig prägten, entsprangen der sogenannten völkischen Bewegung.
Die völkische Bewegung entstand als politisch und gesellschaftlich einflussreiche Bewegung in den 1890er Jahren in Deutschland und im deutschsprachigen Österreich. Sie lässt sich als extrem nationalistische Bewegung verstehen, die sich insbesondere durch antisemitische und rassistische Ideen auszeichnete. Völkische Akteure sahen viele Entwicklungen der Moderne in Deutschland kritisch und als fehlgeleitet an, darunter u.a. Emanzipationsbestrebungen von Minderheiten wie Frauen oder Juden, die Urbanisierung, die gesellschaftliche Liberalisierung und die Betonung von Rationalität, die sich in der abnehmenden Rolle von Religiosität widerspiegelte.
Das Ziel der Akteure, die eine völkische Weltanschauung vertraten, bestand in der Schaffung eines genuin ethnisch-deutschen bzw. „germanischen“ Volkes. Deutschland sollte sich aus völkischer Sicht als Nationalstaat über seine ethnische Volkszugehörigkeit auszeichnen und legitimieren. Die Völkischen schlossen demnach „Rassen“ und Ethnien, die in Deutschland lebten, jedoch nicht „arisch“ bzw. „germanisch“ seien, aus dem angestrebten genuin „deutschen Volk“ aus. Neben seiner „rassischen Homogenität“ sollte sich das deutsche Volk nach völkischer Auffassung ebenfalls durch eine einheitliche Kultur und einer der „arischen“ bzw. „germanischen“ Rasse inhärente Religion auszeichnen. Rasse, Kultur und Religion bildeten demnach in der völkischen Weltanschauung ein untrennbares Geflecht, dessen Komponenten einander bedingten. Unter den völkischen Akteuren herrschte jedoch kein Konsens darüber, welcher Religionsentwurf die „arteigene Religion“ der Deutschen widerspiegelte. So konkurrierten Vorstellungen eines deutschen Christentums, mit heidnisch-germanischen Religiositätskonzepten und mit esoterischen Glaubenssätzen. Einvernehmen bestand jedoch unter den Völkischen in der grundsätzlichen Überzeugung, dass es einer Erneuerung des deutschen Volkes bedurfte, das seine vermeintlich „rassische“, kulturelle und religiöse Einheit verloren hätte.
Die völkische Bewegung war uneinheitlich organisiert und erstreckte sich von einzelnen, lose agierenden Akteuren, über Vereine und andere organisierte Gruppen, bis hin zu politischen Parteien. Die Akteure, die der völkischen Bewegung zugerechnet werden, rekrutierten sich vornehmlich aus dem bürgerlichen und protestantischen Milieu und waren in den meisten Fällen männlich. Über die komplexen Vereins- und Verbandsstruktur vernetzten sich viele Völkische miteinander und gewannen im Zuge der langen Jahrhundertwende zunehmend gesellschaftlichen und politischen Einfluss.
Zu den wichtigsten Vordenkern und Ideengebern der völkischen Weltanschauung zählen unter anderem Jörg Lanz von Liebenfels (1874-1954), Paul de Lagarde (1827-1891) und August Julius Langbehn (1851-1907).
Der Orientalist Paul de Lagarde machte insbesondere durch seine ausgeprägten antisemitischen, antiliberalen und radikal konservativen Traktate auf sich aufmerksam und zählt aufgrund seiner Positionen und weitreichenden Rezeption zu den bedeutendsten Ideengebern der Völkischen Bewegung. Lagarde trat für einen rassisch und kulturell geprägten Antisemitismus in Deutschland ein, er kritisierte das Christentum und seine semitischen Wurzeln und er propagierte eine deutsche Nationalreligion, deren Glaubensinhalte er nur schemenhaft umriss. Seine Deutschen Schriften wurden insbesondere nach seinem Tod im Kaiserreich und im „Dritten Reich“ vielfach neu aufgelegt und von zahlreichen völkischen Akteuren gelesen.
Jörg Lanz von Liebenfels erlangte in völkischen Kreisen u.a. durch seine Theozoologie-These Bekanntheit, die er später in Anlehnung an die Arbeiten des ebenfalls einflussreichen österreichischen Esoterikers Guido von List als Ariosophie propagierte. Der Priester und spätere Hochstapler erregte insbesondere im Großraum Wien unter völkisch gesinnten Akteuren mittels der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Ostara Aufsehen. Von Liebenfels forderte u.a. eine „Reinhaltung“ des „Arischen Blutes“ und verband in seiner Ariosophie den Gedanken der „Rassenzüchtung“ mit esoterischen Elementen wie der Astrologie.
August Julius Langbehn wurde durch sein Werk „Rembrandt als Erzieher“ in völkischen Kreisen viel rezipiert. In seinem Buch setzte Langbehn der Moderne, die er mit bürgerlicher Liberalität, Rationalität und oberflächlichem Materialismus gleichstellte, eine romantisierte Wiedergeburt einer vermeintlich genuin deutschen Kultur entgegen, die sich insbesondere in der Kunst widerspiegeln sollte. Langbehn prägte mit seinem Werk unter anderem die in den 1890er Jahren aufkommende Heimatkunstbewegung, deren Verfechter die deutsche Gesellschaft mittels Kunst im völkischen Sinne erziehen und transformieren wollten.
Die in Deutschland wohl einflussreichste völkische Organisation war der Alldeutsche Verband. Er wurde 1891 gegründet, bestand bis 1939 und zählte bereits kurz nach seiner Gründung in etwa 20.000 Mitglieder. Der Alldeutsche Verband trat für eine extreme nationalistische und militaristisch-expansionistische Politik des deutschen Staates ein. Rassistische Gesinnungen wie der Antisemitismus und der Antislawismus waren unter den Mitgliedern weitverbreitet und fester Bestandteil des Programms der Organisation. Obwohl sich der Einfluss des Verbands auf die deutsche Politik in engen Grenzen hielt, nutzten ihn viele seiner Mitglieder zur Vernetzung und zum gedanklichen Austausch.
Während die völkische Bewegung als prägende Strömung der extremen Rechten in Deutschland bis in die 1920er Jahre gesellschaftlich sehr einflussreich war, nahm ihre Bedeutung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus Mitte der 20er Jahre schnell ab. Obwohl vielfache Überschneidungen in den Ideologien der Nationalsozialisten und der Völkischen bestanden, und sich völkische Akteure und Mitglieder völkischer Organisationen teilweise den Nationalsozialisten anschlossen, trennte die beiden extrem rechten Bewegungen sowohl ein Generations- und damit Altersunterschied, die unterschiedlichen Organisationsstrukturen und die bewusste Abgrenzung voneinander, die beide Bewegungen seit Mitte der 20er Jahre öffentlich betrieben. Spätestens seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 traten völkische Persönlichkeiten und Organisationen in den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund. Während einige Völkische dem nationalsozialistischen Staats- und Parteienapparat beitraten, lösten sich zahlreiche völkische Vereine und Verbände auf oder wurden vereinzelt in die Organisationsstrukturen der Nationalsozialisten integriert.
Viele der von den Nationalsozialisten realpolitisch umgesetzten Ideologien wie die Eugenik, die Blut- und Bodenideologie, oder die gesellschaftliche Ausgrenzung von Juden (und später der Holocaust), lassen sich auf Ideologeme von völkischen Akteuren und Organisationen zurückführen, die sie seit dem späten 19. Jahrhundert propagierten. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass völkische Akteure zumeist die Politik und die Kriegsbemühungen des „Dritten Reiches“ unterstützten oder zumindest stillschweigend in Kauf nahmen.
Autor: Paul Richter
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