Die Anfänge der systematischen Vernichtung von Leben
Während die Namen, der Vernichtungslager der Nationalsozialisten – Auschwitz, Majdanek, Sobibor, Treblinka, Belzec – den meisten Menschen geläufig sind und durch ihre bloße Erwähnung ein Gefühl des Grauens erzeugen, weil in ihnen 6 Millionen Menschen den Tod fanden, kennt kaum jemand die Tötungsanstalten der „Aktion T4“, in deren Durchführung im Jahr 1940 etwa 71.000 Menschen ermordet wurden, weil sie die nationalsozialistische Vorstellung eines „gesunden Ariers“ nicht erfüllten. Opfer waren vor allem psychiatrisch oder neurologisch Erkrankte oder Behinderte, geistig Behinderte und Menschen mit körperlichen Behinderungen. Da psychisch kranke Menschen, die als „schwachsinnig“ eingestuft wurden, nicht therapiert, sondern lediglich verwahrt wurden, bedeutete Psychiatrie in den 1930er-Jahren für gewöhnlich Endstation, ein langsames Dahinvegetieren unter Leidensgenossen, ein Warten auf den Tod. Daneben gab es die tatsächlich lebenslangen Pflegefälle, die auch in weiten Teilen sich selbst überlassen waren. So waren behandelnde Ärzte teilweise selbst auf den Gedanken, die „Defekten“ von „ihrem Leid zu erlösen“, gekommen. Es waren Bücher wie „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Dr. med. Alfred Hoche (1865 – 1943) und des Juristen Karl Binding (1841 – 1920) von 1920 und „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ der Mediziner Prof. Dr. Eugen Fischer (1874 – 1967), Dr. med. Erwin Baur (1875 – 1933) und Dr. med. Fritz Lenz (1887 – 1976) von 1921, die die Nazis als Grundlage nahmen. Wobei es ihnen natürlich primär um die „Rassenhygiene“ ging, während der vermeintliche Gnadentod mehr Vorwand war. Auch wenn vordergründiges Ziel der „Aktion T4“ das Ausmerzen von Erbkrankheiten war, ging es offiziell auch darum, im Krieg Ressourcen nur für Personen aufwenden zu wollen, die man heilen und wieder als produktive Teile in den „Volkskörper“ reintegrieren konnte. Eine der Tötungsanstalten der „Aktion T4“, die erste, die in Betrieb genommen wurde, war Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Hier ermordeten die Nazis im Zeitraum von Herbst 1939 bis Januar 1941 insgesamt 10.654 Menschen. Schloss Grafeneck war ursprünglich ein 1560 errichtetes Jagdschloss des Herzogs Christoph von Württemberg (1515 – 1568). Das auch von seinen Nachfolgern entsprechend genutzte Schloss liegt bei Gomadingen, in direkter Nachbarschaft zum Haupt- und Landgestüt Marbach, zwischen Engstingen und Münsingen und ungefähr 25 Kilometer südöstlich von Tübingen. Zwischen 1762 und 1772 erweiterte man Grafeneck zu einem Barockschloss. Erst 1929, also zehn Jahre vor Beginn der von den Nazis selbst euphemistisch „Erwachseneneuthanasie“ („Euthanasie“ von altgriechisch: εὐθανασία euthanasia; εὖ eu = „gut, richtig, schön“ und θάνατος thánatos = „Tod“, also frei übersetzt: „schöner Tod“) genannten „Aktion T4“, wurde das Schloss von der Samariterstiftung, einer gemeinnützigen Stiftung in Württemberg, gekauft. Die nutzte das Gelände Grafeneck ab 1930 und dann wieder seit 1946 als sozialpsychiatrische Einrichtung und zur Behindertenpflege. Es war jedoch das Württembergische Innenministerium in Stuttgart, das der „Zentraldienststelle T4“ in Berlin, mit der es eng zusammenarbeitete, Grafeneck als erste Tötungsanstalt für das Vorhaben vorschlug und das aus mehreren Gründen: Zunächst einmal liegt das Schlossgelände abgeschieden im Wald, was es erleichterte, das Gelände nach außen abzuschirmen und so unbemerkt von der Öffentlichkeit zu agieren. Es führen auch nur zwei Auffahrten zum Schlossgelände hoch. Dass die Nazis die öffentliche Meinung zu dieser Zeit noch fürchten mussten, zeigt der Ausgang der „Aktion T4“, deren Einstellung Adolf Hitler (1889 – 1945) am 24. August 1941 wegen des öffentlichen Drucks durch eine mündliche Weisung anordnen sollte. Ferner war Grafeneck halt als Pflegeeinrichtung bekannt, was bei einer Verbringung der Opfer dorthin weniger Argwohn weckte. Ein weiterer Vorteil von Grafeneck war, dass das Gelände bereits zu einer relativ autarken Pflegeanstalt umfunktioniert worden war, es also neben dem Schloss als Verwaltungsgebäude auch Räumlichkeit zur Unterbringung des Personals und eben jene zur Durchführung der „Arbeit“ gab. Der zuständige Landrat des Landkreises Münsingen, Richard Alber (1893 – 1962) verfügte am 13. Oktober 1939 die Räumung des Schlosses, das am Folgetag „für Zwecke des Reiches“ offiziell beschlagnahmt wurde. Bald darauf rollten die Gekrat-Omnibusse, die anfangs noch roten, später berüchtigten „grauen Busse“ der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ an. Noch brachten sie nicht den Tod, sondern transportierten Heimleitung, zehn ihrer Mitarbeiter und etwa hundert ihrer Pfleglinge in das Exerzitienhaus St. Elisabeth des Klosters im nahegelegenen Reute, das seinerseits von den dort lebenden Schwestern, wie ihnen vier Tage vorher mitgeteilt worden war, geräumt werden musste. Die glückliche Ironie: Jene Patienten, die in Grafeneck waren und nach Reute verbracht wurden, überlebten alle die „Aktion T4“. Grafeneck wurde von Oktober 1939 bis Anfang 1940 dann systematisch in die Tötungsfabrik der Nazis umgebaut. Während das Schlossgebäude so eingerichtet wurde, dass darin Wohnräume, Verwaltung, ein eigenes Standesamt und sogar ein Polizeibüro Platz finden konnten, errichtete man für die Opfer auf dem Gelände des Schlosses Stellplätze für die grauen Busse, eine Holzbaracke mit circa hundert Betten, einen als Dusche getarnten in einer Garage untergebrachten „Vergasungsschuppen“ und einen Krematoriumsofen. Personal – Ärzte, Pflegepersonal, Polizisten, Büroangestellte, Transportpersonal, Angestellte für die Hauswirtschaft, Wachmannschaften und Leichenbrenner – wurde in Stuttgart und Berlin rekrutiert, also in den Städten, in denen die administrative Ebene angesiedelt war. In der Tiergartenstraße 4 in Berlin zeigten sich Reichsleiter der NSDAP und Chef der Kanzlei des Führers, SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler (1899 – 1945), Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des Führers und SS-Oberführer Viktor Hermann Brack (1904 – 1948) und Hitlers Begleitarzt Dr. med. Karl Brandt (1904 – 1948) verantwortlich. In Württemberg selbst waren die Hauptverantwortlichen: der Allgemeinmediziner und Kinderarzt Dr. med. Ludwig Sprauer (1884 – 1962), der Gynäkologe Dr. med. Otto Mauthe (1892 – 1974) und der überzeugte Nationalsozialist und Militärarzt Dr. med. Eugen Stähle (1890 – 1948). Sprauer war als der höchste Medizinalbeamte Badens Hauptverantwortlicher für die administrative Durchführung der „Aktion T4“ in seinem Zuständigkeitsbereich und autorisierte in dieser Funktion in letzter Instanz die Transportlisten, die auf Grundlage der Meldebögen aus den Anstalten überall im Reichsgebiet erstellt worden waren. Zunächst hatte einer von 40 Gutachtern der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) nach Aktenlage, d. h. einzig anhand jener Meldebögen, die die Pflegeanstalten unter falschem Vorwand hatten ausfüllen müssen, über das Schicksal des jeweiligen Anstaltspatienten entschieden, ehe die Obergutachter, der Würzburger Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie Prof. Dr. Werner Heyde (1902 – 1964) und Ministerialdirigent Herbert Linden (1899 – 1945), das finale Urteil gefällt hatten. Basierend darauf waren Listen erstellt worden, die Sprauer dann im Auftrag des Badischen Innenministeriums autorisierte und an die Gekrat weiterleitete. Entsprechend agierte auch Otto Mauthe in seiner Stellung als höchster Medizinalbeamter Württembergs. Dort im Innenministerium hatte Eugen Stähle Grafeneck zur Tötungsanstalt auserkoren. Sprauer sollte am 23. April 1946 in Nürnberg an Eides statt erklären: „Die unheilbaren Geisteskranken sollten aus wehrpolitischen Gründen, um Platz zu machen[,] beseitigt werden.“ Man sollte ihn im Revisionsverfahren zunächst zu elf Jahren Zuchthaus verurteilen, ihn aber 1951 durch Gnadenerlass entlassen. Mauthe sollte 1949 zwar zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt werden, trat diese aus gesundheitlichen Gründen jedoch nie an. Er sollte die Schuld recht erfolgreich auf den vor Prozessbeginn verstorbenen Stähle abgewälzt haben können. Während sich in der Umbauphase von Oktober bis Dezember 1939 selten mehr als 20 Personen im Schloss aufhielten, beherbergte es 1940 an die 100 Frauen und Männer. Die Anordnung aus Berlin besagte, dass die Tötung der Kranken und Behinderten ausschließlich von den Ärzten in Grafeneck durchgeführt werden durfte. Grundlage dafür war Hitlers Ermächtigungsschreiben vom Oktober 1939, das dieser jedoch, um die Rechtfertigung der „Aktion T4“ mit den Kriegsanstrengungen zu unterstreichen, auf den 1. September 1939, also Kriegsbeginn, vordatiert hatte. In diesem Schriftstück war einzig von Ärzten als durchführendes Personal die Rede. Ärztlicher Leiter in Grafeneck war von Januar bis Mai/Juni 1940 Dr. med. Horst Schumann (1906 – 1983), der später auch an der „Aktion 14f13“ beteiligt war, ehe er Menschenversuche als Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau durchführte. Der 1970 eingeleitete Prozess gegen Schumann sollte wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt werden – er wurde also nie für seine Verbrechen belangt, genauso wie sein Stellvertreter, der das Ende des Krieges nicht mehr erlebte: Dr. med. Ernst Baumhard (1911 – 1943), der nach Schumanns Weggang dessen Nachfolge antrat. Dessen Stellvertreter war dann wiederum Dr. med. Günther Hennecke (1912 – 1943). Beide waren ab Januar, also nach der Schließung Grafenecks, in Hadamar, einer weiteren T4-Tötungsanstalt in derselben Funktion tätig. Die Aufgabe dieser Ärzte, die im Schriftverkehr die Tarnnamen Dr. Klein (Schumann), Dr. Jäger (Baumhard) und Dr. Fleck (Hennecke) verwendeten, waren für die Bedienung der Gashähne, die Kohlenstoffmonoxid in die als Duschen getarnte Gaskammer einleiteten, zuständig. Es kam aber wohl auch dazu, dass in Abwesenheit der Ärzte andere Teile des Personals die Ermordung durchführten, also den Gashahn bedienten. Die Gaskammer bzw. der „Vergasungsschuppen“ befand sich in einer Garage auf dem Schlossgelände. Das zur Vergasung genutzte Kohlenstoffmonoxid stammte vom Ludwigshafener Werk der IG Farbenindustrie (BASF). Die ersten Opfer, deren Ermordung am 18. Januar 1940 ihren Anfang nahm, kamen aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Aus insgesamt 48 Einrichtungen in Baden-Württemberg (40), Bayern (6), Hessen (1) und Nordrhein-Westfalen (1) wurden behinderte und kranke Menschen, die als unheilbar eingestuft wurden, in den grauen Bussen nach Grafeneck transportiert. Von vielen dieser Opfer wissen wir wenig. Der Dokumentarfilm „Die Mordfabrik Grafeneck auf der Schwäbischen Alb · Spuren der NS-Zeit“ von „Planet Schule“, SWR, beleuchtet die Schicksale dreier Opfer: Martin Bader (1901 – 1940), Emma Dapp (1889 – 1940) und Dieter Neumaier (1933 – 1940). Am Fall von Martin Bader zeigt sich sehr deutlich auch die Hypokrisie der Nazis. Bader litt unter Parkinson (wie Hitler selbst) und hinkte (wie Joseph Goebbels, 1897 – 1945). Dapp wurde indirekt von ihrer eigenen Schwester in den Tod geschickt, weil die der Ansicht war, die verwitwete Dapp könne nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen. Dieter Neumaier hatte wegen eines Schocks als Kleinkind einen Sprachfehler. Dies sollte noch einmal verdeutlichen, dass es jeden treffen konnte und nicht viel brauchte, um auf der Todesliste der Nazis zu enden, und auch wie die Gesellschaft damals noch weit mehr als heute auf Menschen, die nicht funktionieren, blickt. Auf der Verwaltungsebene zeichnete sich der Polizist und SS-Obersturmführer Christian Wirth (1885 – 1944) verantwortlich. Er war Sicherheitschef und Leiter des Sonderstandesamtes Grafeneck, in dem die Sterbeurkunden gefälscht wurden, da man den Angehörigen nicht die wahren Todesumstände mitteilte. Leiter der Transporte sowie Drehbuchautor von Propagandafilmen zur Legitimierung der „Euthanasie“ war Hermann Schwenninger (1902 – mindestens 1985). Das Krematorium, in dem am 13. Dezember 1940 die letzten Opfer verbrannt wurden, leitete SS-Hauptscharführer Josef Kaspar Oberhauser (1915 – 1979). Sowohl Wirth als auch Oberhauser waren auch maßgeblich an der „Aktion Reinhardt“, also dem Holocaust, beteiligt. Einzig Oberhauser wurde je strafrechtlich belangt. Was genau der auslösende Faktor für die Schließung der Tötungsanstalt war, lässt sich heute schwer sagen. Die gescheiterte Geheimhaltung, die Proteste von Pflegeeinrichtungen, Kirche und manchen Angehörigen auslöste, dürfte ein Grund gewesen sein. Da die Tötungen andernorts aber noch bis August 1941 fortgesetzt wurden (das Personal von Grafeneck setzte seine Arbeit in Hadamar fort), wird als Hauptgrund gesehen, dass Grafeneck die Vorgaben der „Zentraldienststelle T4“ und des Regimes nicht erfüllte. Schloss Grafeneck diente nach Schließung als Tötungsanstalt in den Kriegsjahren zur Kinderlandverschickung, danach der französischen Besatzungsbehörde, ehe es 1946 an die Samariterstiftung zurückgegeben wurde. Die 1939 aus Grafeneck vertriebenen Behinderten kehrten heim.
Literatur und Quellen
https://www.gedenkstaetten-bw.de/geschichte-grafeneck
Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1983.
Klaus-Peter Drechsel: Beurteilt – Vermessen – Ermordet. Praxis der Euthanasie bis zum Ende des deutschen Faschismus. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, Duisburg 1993.
Roland Müller u. a.: Krankenmord im Nationalsozialismus – Grafeneck und die „Euthanasie“ in Südwestdeutschland. Herausgegeben vom Archiv der Stadt Stuttgart. Hohenheim Verlag, Stuttgart 2001.
Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Silberburg-Verlag, Tübingen, 3. Aufl. 2012.