Der Madagaskar-Plan war das Konzept der Deportation von europäischen Juden nach Madagaskar.
Zwischenkriegszeit
In der Zwischenkriegszeit wurde der Gedanke einer Abschiebung der Juden nach Madagaskar, das damals eine französische Kolonie war, durch die britischen Antisemiten Henry Hamilton Beamish und Arnold Leese sowie den Niederländer Egon van Winghene populär. 1937 erhielt Polen, das die Emigration der Juden vorantreiben wollte, von Frankreich die Genehmigung, eine dreiköpfige Prüfungskommission nach Madagaskar zu schicken, um Ansiedlungsmöglichkeiten für polnische Juden zu erkunden. Der Kommission gehörten Major Mieczyslaw Lepecki, Leon Alter und Salomon Dyk an. Lepecki vertrat die Ansicht, dass 40000 bis 60000 Juden im Hochland angesiedelt werden könnten, doch Alter war der Meinung, die Insel böte höchstens für 2000 Juden Platz. Neben der polnischen und der französischen Regierung erwogen auch die britische Regierung und sogar das Joint Distribution Committee (JDC), Juden in Madagaskar anzusiedeln.
Der Madagaskarplan als NS-Konzept ab 1938
Anfang 1938, zehn Tage vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurde Adolf Eichmann mit der Sammlung von Material für eine „außenpolitische Lösung der Judenfrage“ beauftragt. Verschiedene NS-Führer befürworteten den Plan, darunter Julius Streicher, Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Joachim von Ribbentrop sowie Hjalmar Schacht. Doch erst im Frühjahr 1940, als die Absicht Heinrich Himmlers, die Juden und Polen aus den annektierten westpolnischen Gebieten ins Generalgouvernement auszusiedeln, mit dem ökonomischen Pragmatismus Hermann Görings und des antisemitisch Generalgouverneurs Hans Frank kollidierte, wurde der Madagaskar-Plan ernsthaft diskutiert. Göring und Frank machten geltend, dass die Umsiedlungspolitik den Interessen der Kriegswirtschaft und den Aufnahmekapazitäten des Generalgouvernements Rechnung tragen müsse. Der kurz bevorstehende Sieg Deutschlands über Frankreich veranlasste Himmler, seinen Plan in einer Denkschrift über die Behandlung der „Fremdvölkischen“ im Osten Hitler erneut vorzutragen. Dieser Plan wurde am 25. Mai 1940 diskutiert, nachdem die Wehrmacht eine Woche zuvor den Ärmelkanal erreicht und einen Großteil der alliierten Truppen bei Dünkirchen eingeschlossen hatte. Himmler plädierte für eine Abschiebung des gesamten „Volksabschaums“ aus Deutschland ins Generalgouvernement; dies sei der beste Weg, um diese Menschen zu ausgebürgerten Sklaven zu degradieren. Insbesondere schlug Himmler „die Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie“ vor, um so „den Begriff Juden … völlig auslöschen zu sehen“. Dies sei noch die beste und harmloseste Methode, wenn man den „bolschewistischen“ Weg der physischen Vernichtung eines Volkes „aus innerer Überzeugung als undeutsch und unmöglich“ zurückwies. Hitler akzeptierte Himmlers Pläne als neue politische Linie.
Konkrete Planungen ab 1940
Die Abschiebung der Juden in eine afrikanische Kolonie erschien den Nationalsozialisten aus mehreren Gründen immer plausibler: Da sie mit einem baldigen Sieg über Frankreich und Großbritannien rechneten, spekulierten sie auf die Verfügungsgewalt über die französischen Kolonien und die britische Handelsflotte. Durch die Okkupation zusätzlicher westeuropäischer Gebiete gerieten Hunderttausende Juden in den deutschen Einflussbereich, und die Umsiedlung einer halben Million Juden in ein „Judenreservat“ bei Lublin hatte sich inzwischen als unrealisierbar herausgestellt. Hitler übertrug die Umsetzung von Himmlers Plänen dem Referatsleiter für „Judenfragen“ im Auswärtigem Amt, Franz Rademacher. Um sicherzustellen, dass die „Rassenfrage“ nach einem Friedensvertrag mit Frankreich nicht durch taktische Rücksichten des AA vernachlässigt werden würde, schlug Rademacher am 3. Juni 1940 vor, den Sieg über Frankreich unmittelbar für eine Aussiedlung möglichst vieler Juden „zum Beispiel nach Madagaskar“ zu nutzen. Auf einer Konferenz über die Zukunft des französischen Territoriums informierten Hitler und Ribbentrop am 18. Juni 1940 Benito Mussolini und den italienischen Außenminister, Graf Ciano, über den Madagaskar-Plan. Zwei Tage später teilte Hitler seine Absichten Großadmiral Erich Raeder mit. Himmlers Stellvertreter, Reinhard Heydrich, erklärte sich unverzüglich für eine territoriale „Endlösung der Judenfrage“ zuständig. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Arbeit am Madagaskar-Plan sowohl im Auswärtigen Amt als auch in der SS vorangetrieben. Auch in den besetzten Gebieten Osteuropas wurde der Plan bald bekannt. Im Generalgouvernement wurde Einrichtung von Ghettos der Juden im Hinblick auf den Madagaskar-Plan gestoppt. Abstand genommen wurde außerdem von der Umsiedlung der Juden aus Lodz ins Generalgouvernement, die schon wiederholt aufgeschoben und frühestens für August so wieder vorgesehen war; man plante nun, die dortigen Juden nach dem Sieg über Großbritannien auf dem Seeweg nach Madagaskar zu deportieren. Unterdessen leiteten Rademacher im Außenministerium und Eichmann im Referat „Juden- und Räumungsangelegenheiten“ des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin die Vorbereitungen. Ab Kriegsbeginn hatte sich Eichmann mit der Aussiedlung von Juden und Polen ins Generalgouvernement befasst. Rademacher entwickelte einen Plan, der die Mitwirkung zahlreicher Dienststellen vorsah: Das Auswärtige Amt sollte gemeinsam mit weiteren europäischen Ländern einen Friedensvertrag mit England und Frankreich ausarbeiten; das Amt für den Vierjahresplan sollte die Verwendung jüdischen Vermögens und die Kanzlei des Führers die Transporte koordinieren; die Propaganda sollten Goebbels und das Außenministerium übernehmen; die SS schließlich sollte die europäischen Juden sammeln und später das riesige Inselghetto verwalten.
Eichmann leitete umfassende Erkundungen ein und schickte Mitarbeiter ins Hamburger Tropeninstitut und in die französischen Kolonialarchive in Paris. Anfang Juli 1940 traf er sich mit einer Gruppe deutsch-jüdischer Funktionäre, die binnen 24 Stunden die wesentlichen Gesichtspunkte für eine Evakuierung von vier Millionen Juden bei Kriegsende auflisten sollten. Die Besprechung fand jedoch ein abruptes Ende, als die jüdischen Funktionäre sich ausschließlich für den Bestimmungsort Palästina interessierten, den Eichmann kategorisch ausschloss. Im Unterschied zum Plan des Auswärtigen Amtes, das eine Beteiligung vieler Dienststellen vorsah, verfolgte die SS die Strategie, Heydrich die gesamte Leitung des Projekts zu übertragen – von der Finanzierung über den Transport bis hin zu Sicherheitsvorkehrungen und sogar diplomatischen Verhandlungen.
Einstellung des Madagaskar-Plan ab 1940
Mit der deutschen Niederlage gegen Großbritannien kam das Vorhaben im September 1940 schlagartig zum Erliegen. Hitlers Entscheidung für einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Sowjetunion implizierte auch die Vernichtung der Juden. Aufgrund seiner scheinbaren Folgenlosigkeit ist der Madagaskar-Plan von Historikern oft als Bagatelle oder gar bewusste Irreführung abgetan worden. Doch im August 1940 lag den Nationalsozialisten nichts an einer Strategie der Irreführung. Der Madagaskarplan zeigte bereits die wahren Ziele der Nationalsozialisten, die bald darauf durch die „Endlösung“ in die Tat umgesetzt wurden. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs war deutlich, wohin dies geführt hatte.
Nachwirkungen bis heute – Die AfD und der Madagaskar Plan
Der Plan wird bis heute oft zitiert in rassistischen und rechtsextremen Kontexten, weil er als eine praktikablere Lösung als die NS-Endlösung gewesen zu sein schien. Die dahinter stehenden Ideen, große Teile der Bevölkerung aus rassistischen Gründen zu deportieren bleibt aber aktuell. Im Januar 2024 wird ein Geheimtreffen von AfD-Politikern, Rechtsextremen und nationalistischen Finanziers publik, in denen ähnliche Vorstellungen thematisiert wurden in Form einer massenhaften „Remigration“.
Literatur
Aly, Götz / Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung, Frankfurt /Main 1993.
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Breitmann, Richard: The Architect of Genocide. Himmler and the Final Solution. London 1992 (Tauber Institute for the Study of European Jewry Series, 14).
Ders.: Der Architekt der „Endlösung“, Himmler und die Vernichtung der europ. Juden, Paderborn 1996.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europ. Juden, München 1998.
Jansen, Hans: Der Madagaskar-Plan, München 1997.