Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Frankfurt/M 2003.
Ernst Klee, geboren 1942, von Haus aus Theologe und Sozialpädagoge, jahrelang auch als Journalist tätig, hat mit seinen zahlreichen Publikationen das Tor zu einer Geschichte der Medizin- und Psychiatrieverbrechen im Nationalsozialismus zu einer Zeit aufgestoßen, als sich die universitäre Medizingeschichte noch mit Fragen wie jener beschäftigte, ob die schiefe Hüfte Heinrichs des Löwen auf einen Geburtsfehler oder einen Unfall zurückgehe. Klee ist Außenseiter, Nicht-Historiker. Ein Blick in die Geschichte der Geschichtswissenschaft lehrt, dass gerade von Außenstehenden immer wieder wichtige Impulse ausgegangen sind. Klee ist zudem ein äußerst intensiver Archiv-Arbeiter – kein Karl Heinz Deschner, eher ein Rolf Hochhuth der NS-Geschichte. Der Zugriff seiner historischen Arbeiten ist aus vier Gründen stets personalistisch: Erstens bedingte der Pioniercharakter von Klees Studien, erst einmal die Akteure zu ermitteln, bevor etwa vergleichende Strukturgeschichte betrieben werden kann. Zweitens liegt dem Sozialpädagogen und Journalisten Klee der „outende“ Zugang nahe. Drittens waren viele der Täter zur Zeit der ersten Publikationen Klees noch im Amt oder zumindest am Leben und standen in hohen Ehren. Viertens schließlich galt die dekouvrierende Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus noch als subversiv, als Klee vor 20 Jahren sein Buch über die Euthanasie im NS-Staat vorlegte, während sie heute staatstragende Züge angenommen hat.
Bei Klees personalistisch-investigativer Annäherungsweise überrascht es nicht, dass er nun die ungeheure Fleißarbeit eines Personenlexikons zum „Dritten Reich“ vorlegt – Ergebnis von 25 Jahren Arbeit, wie es einleitend heißt. 4.300 Personen haben Aufnahme gefunden, und zum großen Teil konnten die Schicksale und Lebensläufe nach 1945 ‚geoutet’ werden. Klees Anspruch ist es, die „gesellschaftliche Elite der Zeit des Dritten Reiches“ zu dokumentieren. Neben der Literatur sind Justizakten sowie, was den Wissenschaftsbereich betrifft, die Forschungsakten der DFG eine Hauptquelle. Der Ausgangspunkt, den Klee für das Vorwort gewählt hat, ist besonders typisch: Es geht um den Skandal einer öffentlichen Anerkennung, die der Physiologe Rudolf Thauer durch eine Straßenbenennung in Bad Nauheim gefunden habe. Thauer sei vor 1945 an Menschenexperimenten beteiligt gewesen, und seine verfehlte Ehrung sei möglich geworden, weil die Medizinverbrechen der NS-Zeit nach 1945 systematisch verschwiegen worden seien. Gegen solche Tendenzen kämpft Klee mit seinem Lexikon an, denn – so erklärt er einleitend – nicht zuletzt Lexika und die gängigen biografischen Enzyklopädien hätten „die gescheiterte Entnazifizierung der Nachkriegszeit radikal zu Ende geführt“; in dieser Lexikon-Welt gebe es keine Nazis. Wohlfeilste Kritik an einem einbändigen Lexikon wäre die der Unvollständigkeit. Der Sprachhistoriker mag Lutz Mackensen vermissen, der Literaturhistoriker Gottfried Benn oder Ernst Jünger, der Vertreter der zur Zeit modischen „Historians History“ Karl Bosl, Martin Broszat oder Gerhard Ritter, der konventionelle NS-Historiker Wilhelm Gustloff. Andererseits sind Personen aufgenommen worden, auf die man nicht unbedingt kommt, wenn man ein Lexikon mit dem Untertitel „Wer war was vor und nach 1945?“ in die Hand nimmt – der Lokomotivfabrikant Ernst von Borsig etwa, der im Januar 1933 verstarb. Es ist ein Verdienst Klees, Personen in seinem Lexikon zu verzeichnen, deren Tätigkeit im Nationalsozialismus als Vertreter vorderhand ideologieferner, anwendungsorientierter naturwissenschaftlich-technischer Fächer erst in den letzten Jahren in den Focus historischer Forschung gerückt ist. So finden wir die Reichsforschungsrats-Gewaltigen Abraham Esau (E-Technik, Radar, Atomprojekt), Walther Gerlach (Physik, Atomprojekt) oder Wilhelm Süß (Mathematik). Kein Einzelner kann alle Gebiete der nazistischen Wirklichkeit überblicken. So kommt es, dass der mächtige Wissenschaftsfunktionär Rudolf Mentzel sehr wahrscheinlich, der „Ahnenerbe“-Geschäftsführer Wolfram Sievers aber mit Sicherheit in seiner Bedeutung unterschätzt wird, und wer sich mit der Geschichte des Konzentrationslagerkomplexes Auschwitz beschäftigt hat, wird finden, dass Klee den Schergen Pery Broad entschieden zu harmlos darstellt. Ebenso wenig ist einem Autor abzuverlangen, für jede in das Lexikon aufgenommene Person die Recherchemöglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Nehmen wir als Beispiel den Zoologen, Vogel- und Volkskundler Eduard Tratz, weil Klee ihn in der Einleitung besonders heraushebt.
In der Deutschen Biographischen Enzyklopädie, so Klee, werde Tratz als Begründer des Salzburger kombinierten Natur- und Volkskundemuseums „Haus der Natur“ sowie als Vogelkundler abgehandelt – dabei sei er Mitarbeiter des „Ahnenerbes“ gewesen, der Forschungsgemeinschaft der SS. Über Tratz’ Nachkriegskarriere hat Klee nichts herausfinden können. Tratz war, so sei hier für eine eventuelle Zweitauflage festgehalten, auch nach 1945 Leiter des „Hauses der Natur“. Noch heute steht seine Büste in der Eingangshalle; 1958 wurde er mit einer Festschrift geehrt – „dem Schöpfer und Leiter des Hauses der Natur in Salzburg“. Blicken wir nun auf die Leistungsfähigkeit des Lexikons, indem wir nach dem Prinzip Zufall den Buchstaben „B“ untersuchen. Auf den Seiten 22 bis 89 finden sich 433 Personen verzeichnet, 429 Männer und 4 Frauen: Erstens die Gynäkologin Agnes Bluhm, geb. 1862, zunächst Frauenrechtlerin, dann Annäherung an Rassentheorien einschließlich Vorstellungen von der natürlichen Unterordnung der Frau; achtzigjährig wurde sie 1942 als erste Frau von Hitler mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. Zweitens die Kriminalkommissarin Johanna Braach, geb. 1907, stellvertretende Leiterin des Jugendschutzlagers Uckermark, 1947 Leiterin der weiblichen Polizei Minden, 1948 von einem britischen Gericht freigesprochen. Drittens Hermine Braunsteiner, geb. 1919, die berüchtigte KZ-Aufseherin und Führerin des Ravensbrück-Nebenlagers Genthin, die – 1950 aus der Haft entlassen – einen amerikanischen Offizier heiratete und US-Bürgerin wurde, bis sie 1973 an die Bundesrepublik ausgeliefert und acht Jahre später in Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Viertens die Psychologin Charlotte Bühler, geb. 1893, ab 1923 gemeinsam mit dem Ehemann Leiterin des Wiener Psychologischen Instituts, 1938 wegen „nichtarischer Abstammung“ entlassen und in die USA emigriert, 1974 in Stuttgart gestorben. Was soll, so fragt sich der Leser, die bedeutende jüdische Psychologin Charlotte Bühler in einer Reihe mit zwei KZ-Scherginnen und einer rassistisch Spätbekehrten? Diese Peinlichkeit ist dadurch zu erklären, dass Klee sich unglücklicherweise dafür entschieden hat, auch spätere NS-Opfer oder Widerstandskämpfer aufzunehmen, wenn diese dem Regime zunächst loyal gegenübergestanden hatten. So finden sich etwa Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller, nicht jedoch Kurt Schumacher. Aber Charlotte Bühler passt dennoch nicht in dieses Schema, weil sie unmittelbar nach dem „Anschluss“ aus Österreich emigrierte. Betrachten wir nun die Männer der „B“-Gruppe in Klees Lexikon. Das Feld setzt sich aus elf Funktionsbereichen zusammen, und zwar mit der folgenden Prozentverteilung, absolute Zahl in Klammern: 1,5 Prozent (= 6) aus dem Bereich Architektur/Literatur/Kunst, 3,5 Prozent (= 15) Wehrmachtsangehörige, 3,5 Prozent (= 15) Unternehmer/Wirtschaftsführer, 4 Prozent (= 17) hauptamtliche NS-Funktionäre, 5 Prozent (= 21) Theologen und Geistliche, 8 Prozent (= 36) hauptamtliche SS-Führer, 8 Prozent (= 36) Techniker/Naturwissenschaftler, 8 Prozent (= 36) Geistes- und Kulturwissenschaftler, 12 Prozent (= 48) direkter Unterdrückungsapparat (Gestapo, Konzentrationslager, Okkupationsregime), 15 Prozent (= 63) Verwaltung/Beamte/Juristen, 31,5 Prozent (= 132) aus dem Bereich nationalsozialistische Life Sciences: Mediziner, Anthropologen, Psychologen. Einleitend schreibt Klee, er wolle Kurzbiografien jener Personen vorlegen, mit denen er sich in den letzten 25 Jahren beschäftigte. Dadurch ist die Überrepräsentanz des medizinisch-menschenwissenschaftlichen Sektors mit fast einem Drittel aller „B“-Personen und die Unterrepräsentanz des unternehmerisch-wirtschaftlichen Sektors mit etwas mehr als einem Dreißigstel zu erklären. Solche Proportionen bilden die Führungsschichten der NS-Gesellschaft natürlich nicht adäquat ab. Dennoch erhalten wir Eindrücke, die sich tendenziell auch bei einer proportionalen Eliten-Betrachtung einstellen. Für drei Viertel der „B“-Gruppe kann Klee die Biografie ab 1945 verfolgen – teils über wenige Jahre, teils bis zum Jahrhundertende. Bei 103 Personen war das Kriegs- oder Nachkriegsschicksal nicht zu ermitteln. Von den verbleibenden 330 recherchierten Personen hatten 19 Selbstmord begangen, teils unmittelbar bei Kriegsende, teils erst bei Verhaftungen in den frühen 1960er-Jahren; 10 Personen sind verschollen, untergetaucht und für tot erklärt worden; 3 lebten nachweislich unter falschem Namen; interniert oder gerichtlich zu Haftstrafen verurteilt – und zwar von 32 Tagen bis 25 Jahren – wurden 35 der „B“-Personen; lebenslänglich erhielten 5; zum Tode verurteilt wurden 19; in Internierung und Lagerhaft starben 8.
Schauen wir schließlich unter den Aspekten Entnazifizierungskomödien, Stornierungsverhalten, Schweigegeld des Wirtschaftswunders auf die Nachkriegskarrieren der „B“-Gruppe. Hier erhebt Klee seinen Hauptvorwurf gegen die Bundesrepublik, und es ist schwer, diesem Vorwurf zu widersprechen. Karriere-Kontinuitäten – vom Gestapo-Beamten vor 1945 zum Kripo-Beamten in der Bundesrepublik, Chefarzt vor und nach 1945 – sind in 75 Fällen zu erkennen; Aufstiege – etwa vom Arzt zum Professor, vom Raketenspezialisten zum Planungsleiter des amerikanischen Mondlande-Unternehmens – haben wir in 73 Fällen vor uns; Wechsel der Karrierefelder – vom Gestapo-Mann zum Handlungsbevollmächtigten – in 29 Fällen; in 45 Fällen sind Karriereknicks oder -abstürze zu konstatieren wie etwa vom Medizinprofessor zum Praktischen Arzt oder auch vom Gestapo-Beamten zum Kellner. Der Löwenanteil dieser Karrierefortsetzungen oder sogar ungebremsten beruflichen Aufstiege spielte sich selbstverständlich in der Bundesrepublik ab, aber auch in der DDR gab es erstaunliche Einzelfälle: Der Serologe Blaurock, im NS-Staat beteiligt an Versuchen mit Geisteskranken, war in der DDR Medizinalrat am Bezirks-Hygiene-Institut Berlin-Buch; der Dermatologe Bommer, vor 1945 Universitätsmediziner und Ärztefunktionär zugleich, wurde 1950 Direktor der Universitätshautklinik Greifswald und 1959 Bereichsdirektor für klinische Physiologie des Ernährungsinstituts in Potsdam; der Internist Bürger, dessen einzelne „kriegswichtige“ Veröffentlichungen auf Menschenversuchen basierten, erhielt 1957 als Leipziger Professor den Nationalpreis der DDR. Wir haben mit Ernst Klees „Personenlexikon zum Dritten Reich“ ein Nachschlagewerk vor uns, dessen Verdienste die genannten Mängel bei weitem übersteigen. Ein Verdienst sei zum Schluss hervorgehoben: Von sämtlichen Personen sind die Lebensdaten genauestens ermittelt. Dadurch wird Historikerinnen und Historikern die Recherche erleichtert oder im Fall der Bestände des ehemaligen Berlin Document Center erst ermöglicht – sofern sie noch in die Archive gehen.
Autor: Prof. Dr. Bernd-A. Rusinek. Ersterscheinung auf H-Soz-u-Kult 20.11.2003
Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? S. Fischer, Frankfurt/M 2003. ISBN: 3-10-039309-0 ,731 S.; € 29,90