Das war nicht nur Karneval im August
Ein Auszug aus der Publikation: Das war nicht nur Karneval im August. Das Internierungslager Biberach an der Riß 1942-1945. Städt. Archive Biberach/Riß, 2002.
Biberach an der Riß liegt im südlichen Baden Württemberg zwischen Ulm und dem Bodensee. Während des Zweiten Weltkrieges befand sich hier ein Kriegsgefangenen und Interniertenlager. Es lag nordwestlich der Stadt auf einem Plateau hoch über dem Rißtal an der Straße nach Birkenhard. Der nahe gelegene, mit Linden bepflanzte Moränenhügel, von dem man bei guter Wetterlage einen wunderschönen Ausblick auf die Alpenkette hat, war Namensgeber für das Lager „Lindele“. Jetzt werden auf dem ehemaligen Lagergelände Bereitschaftspolizisten ausgebildet. Wer sich heute dem Areal nähert, kann sich kaum mehr vorstellen, wie abgelegen dieses Lager damals war, weit entfernt von den nächsten Häusern der Stadt.
Das Lager „Lindele“ wurde Anfang 1939 als Kaserne errichtet und diente fast sechs Jahre lang den Zwecken des Hitlerregimes. Zunächst war es für eine kurze Zeit bis zum Kriegsbeginn im September 1939 Garnison für das Ersatzbataillon des Infanterieregiments 56. Dann wurde es Offizierslager (Oflag) für kriegsgefangene britische Offiziere. Ab November 1941 diente es etwa drei Monate lang als „Schattenlager“ des Mannschaftsstammlagers (Stalag) Ludwigsburg der Unterbringung von sowjetischen Kriegsgefangenen. Ein Schattenlager hatte keine eigene Registratur und Verwaltung. Danach wurde es wieder Offizierslager, dieses Mal für französische und serbokroatische Offiziere. Ab September 1942 bis Kriegsende war das Lager „Lindele“ ein Internierungslager (Ilag) hauptsächlich für Personen von den britischen Kanalinseln. Nach dem Krieg waren deutsche Kriegsgefangene dort eingesperrt, später war es Aufnahmelager für deutsche Heimatvertriebene und Flüchtlinge und Heimkehrerkrankenhaus, bevor es von der Polizei zur Ausbildung ihrer Bereitschaftspolizisten genutzt wurde.
Welchen Sinn macht es, fast 60 Jahre nach dem Krieg die Geschichte dieses Lagers aufzuarbeiten? Der wichtigste Grund dafür ist die Tatsache, dass der Typ des deutschen Internierungslagers bisher in der deutschsprachigen Geschichtsliteratur noch nicht beschrieben wurde. Weder die Lebensumstände in einem solchen Lager noch die Eigentümlichkeiten der Organisation dieses Lagertyps innerhalb des nationalsozialistischen Lagersystems sind bisher ausreichend erforscht. Dies steht in auffallendem Gegensatz zu einer ganzen Reihe von englischsprachigen Publikationen über die Internierungslager des Zweiten Weltkriegs.
Allerdings gehen unter der Vielzahl britischer Publikationen über die deutsche Besetzung der Kanalinseln nur wenige auf die Verhältnisse im Internierungslager Biberach selbst ein. Zu nennen ist hier in erster Linie Charles Cruickshanks offizielle Geschichte der Besatzungsjahre auf den Kanalinseln (1975). Sie verwertet außer den Akten der Inselarchive und des Public Record Office Kew auch deutsche Akten der Militärverwaltung Frankreich und die in britische und amerikanische Hände gefallenen Akten der Wehrmacht und des Auswärtigen Amtes. Das zweibändige Standardwerk mit Beschreibungen der Lebensverhältnisse in den von Kanalinselbewohnern belegten deutschen Lagern stammt von Roger E. Harris (1979). Beide Darstellungen liegen nicht in deutscher Sprache vor. Die vorliegende Arbeit möchte diese Lücke füllen und bezieht sich deshalb häufig auf diese Arbeiten.
Zunächst gilt die Aufmerksamkeit der Vorgeschichte der eigentlichen Lagergeschichte. Dazu gehört ein kurzer Blick auf die Entstehung des Lagers in Biberach, wo man nach der wirtschaftlichen Depression in den 1930er Jahren froh war, Garnisonsstadt geworden zu sein. Die Enttäuschung war groß, als die Soldaten bei Kriegsbeginn ins Feld zogen und Kriegsgefangene die Baracken belegten.
Die Geschichte des Internierungslagers wird aber ohne Kenntnis der vorausgehenden Ereignisse nicht verständlich. Sie spielten sich nicht nur in Biberach, sondern auf den Kanalinseln und sogar weit entfernt davon im Iran ab. Bei der Besetzung der Kanalinseln durch deutsche Truppen im Sommer 1940 wurde der Inselbevölkerung Besitz, Freiheit und Leben garantiert. Zwei Jahre später galt dies nicht mehr. Cruickshank hat in seiner offiziellen Geschichte der Besatzungsjahre erstmals eine Erklärung dafür gegeben. Die Deportationen von den Kanalinseln seien als Repressalie für die Internierung deutscher Staatsangehöriger im September 1941 im Iran durchgeführt worden. Dies soll in der vorliegenden Arbeit überprüft werden. Gleichfalls wird versucht herauszufinden, warum die Kanalinselbewohner erst im September 1942 nach Deutschland gebracht wurden. Dabei wird sich herausstellen, dass militärische Erwägungen im Zusammenhang mit den deutsch britischen Austauschverhandlungen der damaligen Zeit eine größere Rolle gespielt haben, als bisher erkannt worden ist.
Außerdem richtet sich die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Fragenkomplex, nämlich auf die inneren Organisationsstrukturen des Internierungslagers. Was für ein Lager war das Internierungslager Biberach eigentlich? Vor allem wird der Frage nachgegangen, warum die Wehrmacht das Lager an die inneren Behörden, d. h. an das Württembergische Innenministerium, und das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) abgab und welche Rolle das Auswärtige Amt dabei spielte. Die ambivalente Haltung der Wehrmacht scheint dabei entscheidend gewesen zu sein. Einerseits bestimmten Aspekte der militärischen Sicherheit und der Versorgung der Besatzungstruppen die Entscheidungen der Wehrmacht. Andererseits stand sie unter dem Druck der politischen Anforderungen Hitlers und des Auswärtigen Amtes.
Die vierte Fragestellung richtet sich auf die Alltagsprobleme des Lagerlebens. Das Lager war organisiert wie eine kleine Stadt hinter Stacheldraht. Wurde das Lagerleben aber wirklich bestimmt von Theaterveranstaltungen und Karnevalsumzügen, an die sich Zeitzeugen besonders erinnern? Eine wichtige Quelle für diesen Aspekt der Lagergeschichte bot ein Manuskript des britischen Lagerkapitäns Garland. Ohne die Beiträge der ehemaligen Lagerdolmetscherin, Lenehen Roschmann, des Vorsitzenden der Guernsey Association of Deportees, Tom Remfrey, sowie einer Vielzahl von weiteren Augenzeugen wäre dieser Teil der Lagergeschichte nicht zu beschreiben gewesen. Ihnen allen sei hier besonders gedankt. Nicht zuletzt gilt das besondere Interesse den Veränderungen im Lager gegen Kriegsende. Mit der Kriegswende 1943 stiegen die Chancen auf einen Austausch von Zivilpersonen. Die Untersuchung richtet sich vor allem auf die Frage, welche Rolle das Internierungslager Biberach dabei spielte. Es ist auffallend, wie lange es dauerte, bis die internierten Kanalinselbewohner in einen Austausch einbezogen wurden. Offensichtlich bestimmten rassepolitische Erwägungen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in immer stärkerem Maße die Austauschverhandlungen in einer Zeit, als jüdische Häftlinge aus dem Osten und den Niederlanden, die in Bergen Belsen gesammelt worden waren, in das Lager Biberach verlegt wurden. Schließlich ist auch das Ende des Internierungslagers zu dokumentieren. Die Lagerzeit in Biberach war mit dem Abtransport der Kanalinselbewohner nach England im Juni 1945 noch nicht beendet. Unter den Menschen, die aus Bergen-Belsen und anderen Lagern nach Biberach gekommen waren, befanden sich viele, deren Papiere für eine sofortige Abreise nach England oder Amerika nicht ausreichten. Andere strebten nach Palästina, wo der Staat Israel im Entstehen begriffen war. Als Verschleppte hatten sich manche noch jahrelang im UNRRA-Lager Jordanbad bei Biberach aufzuhalten.
So ist im Laufe der Nachkriegszeit das einstige Ilag Biberach VB auf dem „Lindele“ zu einem Teil der Stadtgeschichte geworden. Mit der Unterbringung der Familien von den Kanalinseln stand Biberach ungewollt und damals wohl auch kaum wahrgenommen im Schnittpunkt militärischer und politischer Entscheidungen von erheblicher Tragweite. Das gibt dem Thema ein zusätzliches Gewicht.
Autor: Reinhold Adler
Literatur
Adler, Reinhold: Das war nicht nur „Karneval im August“. Das Internierungslager Biberach an der Riß 1942-1945. Städt. Archive Biberach/Riß, 2002.
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Moskin, Marietta: Um ein Haar – Überleben im Dritten Reich. München 2005.
Wenck, Alexandra-Eileen: Zwischen Menschenhandel und „Endlösung“: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Schöningh-Verlag , 2000.