Der Versuch, zu begreifen
Viktor Radok ist Jude. Er wird in Theresienstadt interniert. Seine Söhne, Alfréd und Emil Radok, vor der Gestapo aus Prag geflohen, arbeiten in einer Theater-Gruppe der Organisation Sokol in Mähren. Die Radoks fasziniert die Moderne. Der zehn Jahre ältere Emil František Burian steht im Zentrum der tschechischen Avantgarde. Der Komponist, Dichter, Schauspieler, Regisseur und Musiker hat in Prag sein eigenes Theater. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei und Dadaist. Die Jungen schließen sich ihm an. 1940 wird Burian während der Arbeit an „Esther“ verhaftet und nach Theresienstadt gebracht. Bis 1945 folgen Dachau und Neuengamme. Alfréd Radok arbeitet mit falscher Identität an verschiedenen Theatern in Prag. Im September 1944 wird er gefasst und in das KZ Klettendorf überführt. Er flieht vor dem weiteren Transport im Januar 1945.
Nach dem Krieg kehren Radoks Vater, seine Großeltern und viele Verwandte nicht aus den KZs zurück. Emil František Burian baut sein Theater wieder auf und setzt die Arbeiten an „Esther“ fort. Die Radoks suchen ihren Weg im Theater. Alfréd Radok will Antworten. Er will erzählen. Er entscheidet sich für den Film und dreht drei Jahre nach Kriegsende „Daleká cesta“.
Zeugnis ablegen
Verarbeiten, was geschehen ist. Verstehen, was nicht zu verstehen ist. Zeugnis ablegen. Eine Form finden, um das Geschehene darzustellen. Alfréd Radok ist am Ende des Krieges 31 Jahre alt und steht am Anfang. Er hat bei Burian gelernt, aus dem Studium ist ihm die Sicht des Naturwissenschaftlers vertraut, die Technik erlaubt ihm Komplexität.
Wie vereinbart man die Möglichkeiten gegebener Mittel mit der Erfahrung der Shoa?
Radok entscheidet sich für eine Geschichte. Die Geschichte der jüdischen Ärztin Hana Kaufmann (gespielt von Blanka Waleská), die nach der Okkupation ihren arischen Kollegen Dr. Antonín Bureš (Otomar Krejča) heiratet. Ihre Eltern werden dennoch, wie Radoks Vater, in Theresienstadt interniert. Als Tonik sie dort sucht, erfährt er nur, dass sie auf Transport gegangen sind – nach Auschwitz, Majdanek oder Treblinka.
Die Szenen konfrontieren den Zuschauer mit dem Lagerleben. Sie zeigen Kinder, Frauen und Männer. Sie zeigen das Paar, die junge Ärztin, den jungen Arzt. Und Radok verschneidet diese Szenen mit einer technisch großartigen Arbeit: Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“, dem Propagandafilm über den Reichsparteitag der NSDAP 1934 in Nürnberg, der am 28. März 1935 im Ufa-Palast am Zoo in Berlin uraufgeführt wurde, sechs Monate vor dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze.
Von der Authentizität des Filmischen
Theresienstadt war ein Durchgangslager. Von hier aus ging es auf Transport in den Osten. Vor allem wurde Theresienstadt als zeitweilige „Jüdische Mustersiedlung“, als Vorzeigelager für die Vertreter neutraler Staaten und das Rote Kreuz mit Kinderpavillon, Cafés und Zentralbad, bekannt.
Kurt Gerron, beliebter Schauspieler und Regisseur, der neben UFA-Stars wie Hans Albers und Heinz Rühmann gespielt hatte, drehte als Häftling „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Gerron war mit seiner Familie rechtzeitig geflohen, hatte sich jedoch für Amsterdam entschieden. Er arbeitete an der Hollandsche Schouwburg bis deren gesamtes Ensemble nach Theresienstadt kam. Nach Abschluss der Dreharbeiten im September 1944, die ein Lagerleben mit Schrebergärten, Spiel und Kurzweil abbilden, kamen die meisten Darsteller, einschließlich der Kinder, nach Auschwitz. Teile des Propagandafilms gingen durch die „Wochenschau“.
Wie erzählt man 1948 von Theresienstadt? Zusammen mit Erik Kolar, 1944 in Theresienstadt inhaftiert, schrieb Radok das Drehbuch. Auch Kolar war mit dem Dadaismus, dem expressionistischen Filmerbe, dem avantgardistischen Film und den neuen technischen Möglichkeiten vertraut. Die Collage, die Gegenüberstellung wurde zu einer Möglichkeit, die innere Erfahrung des Einzelnen mit dem gesamten Geschehen zu verbinden.
Vom Vergessenwerden
Der Film Alfréd Radoks „Daleká cesta“ prägte das filmische Schaffen der Tschechoslowakei, war jedoch für das breite Publikum nur eine Episode. Anfangs in Prag gezeigt, wurde er später nur vereinzelt in Provinzkinos aufgeführt. Dabei spielen die Zeitumstände keine zu vernachlässigende Rolle. Auf der einen Seite gab es bedingt durch russische Vorgaben eine Abkehr von den avantgardistischen Formen des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie bei Eisenstein, Lew Kuleschow, Wsewolod Pudowkin und Alexander Rodtschenko zu finden waren. Der sozialistische Realismus löste mit traditionellen Formen und klaren Lösungsvorgaben Experiment und Diversität ab.
Andererseits ist insgesamt die Tendenz zu beobachten, dass direkt nach 1945 entstandene Filme wie Wanda Jakubowskas „Die letzte Etappe“ oder Arthur Brauners „Morituri“ im Laufe der 1950er Jahre in Vergessenheit gerieten und dann von den Filmen der nachfolgenden Generation überlagert wurden.
Dafür spricht auch die erfolgreiche Arbeit im Zusammenhang mit der „Laterna Magica“, bei der es zu einer Symbiose von Pantomime, Musik, Film, Licht und Ballett kommt. Emil und Alfréd Radok waren hier führend beteiligt und präsentierten ihre Arbeit als Vertreter der Tschechoslowakei auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel.
„Die Menschheit hat gewonnen. Auschwitz, Majdanek, Treblinka …“
Durch die Archivaufnahmen aus dem Lager, die Einschübe von Wochenschau-Material und Sequenzen von Leni Riefenstahl werden die Spielszenen am Originalschauplatz in den Gesamtkontext gesetzt. Gleichzeitig wird der Anspruch der authentischen Erzählung nivelliert, ohne die Berechtigung der Darstellung einzuschränken. Während „Schindlers Liste“ ein Spielfilm ist, wird Alfréd Radoks „Daleká cesta“ zum Dokument, das sich der Einfühlung verweigert.
Der Film beginnt mit endlos vorüberziehenden Schatten an einer Mauer. Gegengeschnitten folgen deutsche Truppen im Zuge der Mobilmachung, dann ertönt eine Proklamation von Rudolf Hess mit einem Bekenntnis zum Führer. Aus dem Off wiederholt Otomar Krejča, der die Rolle des Antonín Bureš im Film spielen wird, den letzten Satz des Führerstellvertreters „Und Deutschland ist Hitler“, um gleich mit dem Vorsatz anzuschließen „Alles was wir wollen, ist die Wahrheit über Deutschland“. Damit sind Programm und Spielsituation des Films vorgegeben. Sein Ende beginnt wiederum mit einem Schattenbild. Doch es sind nur zwei. Die beiden Ärzte Hana Kaufmann und Antonín Bureš stehen in einem Gräberfeld. Aus dem Off spricht Otomar Krejča die Namen der Konzentrationslager.
Daleká cesta | Distant Journey | Der weite Weg
Tschechoslowakei 1949, 103 Min.
Regie: Alfréd Radok
Mit: Blanka Waleská, Otomar Krejča, Viktor Očásek, Zdeňka Baldová, Eduard Kohout
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Classics