Ein Mediziner in Auschwitz
Denkt man an die ärztlichen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus, fallen einem zunächst die Nazi-Mediziner ein, die für ihre grausamen medizinischen Experimente berüchtigt waren und den Hippokratischen Eid immer wieder missachteten. Die meisten Mediziner waren keine pathologischen Sadisten oder fanatische Mörder. Sie waren begeistert von der braunen Bewegung, wurden medizinisch an die Ideologie herangeführt und gleichsam als „biologische Aktivisten“ zu Massenmördern. Die umfangreichen Sterilisierungsexperimente von Auschwitz, vorgenommen hauptsächlich von dem SS-Arzt Carl Clauberg, wurden von offizieller Seite als direkte Anwendung von Rassenpolitik und -theorie gefordert und subventioniert.
Prof. Dr. Carl Clauberg
Carl Clauberg wurde am 28. September 1898 in Wupperhof bei Solingen als Sohn eines Schleifers geboren. Er studierte in Kiel, Hamburg und Graz und erhielt im April 1925 seine Approbation. Im Mai promovierte er und trat im November 1925 eine Stelle als Assistenzarzt an der Universitäts-Frauenklinik in Kiel an. 1929 entstand der von Clauberg modifizierte „Conor-Allen-Test“. Die von da an bezeichnete „Clauberg-Methode“ findet noch heute Anwendung zur Wirksamkeitsbestimmung des Hormons Gestagen. Die von Clauberg in Kiel praktizierte gleichzeitige Hinwendung zu Schwangerschaftsabbrüchen und zur Sterilitätserzeugung förderte die „negative Eugenik”. So genannten „Gemeinschaftsfremden” wurde nach dieser Pseudowissenschaft das Recht auf Fortpflanzung abgesprochen.
Eine erfolgreiche Universitätskarriere blieb dem Kieler Gynäkologen stets versperrt. Entsprechende Bewerbungen in Marburg, Kiel und Graz blieben erfolglos, eventuell auch der Tatsache geschuldet, dass ihm sein schlechter Ruf voraus eilte. Clauberg galt als unberechenbar, als Alkoholiker und „Frauenheld”.
Carl Clauberg war seit Anfang April 1933 Mitglied der NSDAP, diese ließ den Arzt zur Tätigkeit im Amt für Volksgesundheit zu. Er war außerdem Mitglied der SA, trat im Sommer 1933 dem NS-Lehrerbund bei und gehörte ebenso zum NS-Dozentenbund wie auch zum NS-Ärztebund. Seine Bemühungen, ein eigenes Forschungsinstitut einrichten zu können, scheiterten. Im März 1940 wird Clauberg in Berlin dem Reichsführer SS Himmler vermutlich seine Pläne zur Gründung eines Forschungsinstituts für Fortpflanzungsbiologie vorgetragen haben. Dieser war augenscheinlich ebenso an der Erforschung des Problems der operationslosen Sterilisation interessiert wie Clauberg; der Gynäkologe erhielt die erhoffte materielle Unterstützung der SS. Die Interessen der beiden Männer ließen sich problemlos vereinbaren: Heinrich Himmler wollte die Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten zunächst als Arbeitssklaven – denen ihre Fortpflanzungsfähigkeit genommen wurde – ausplündern und Clauberg sah die Chance seines Lebens; frei von jeglichen ethisch-moralischen Einschränkungen experimentieren und dabei seinen grenzenlosen Ehrgeiz in der Himmler’schen Gunst befriedigen zu können. Im Konzentrationslager Auschwitz sah Clauberg seine Chance zur partiellen Realisierung des eugenischen Gesamtkonzepts.
Zusammenarbeit mit der SS – Sterilisierungsexperimente in Auschwitz-Birkenau
Carl Clauberg begann seine Tätigkeiten im Konzentrationslager Birkenau im August 1942. Zuerst arbeitete er gemeinsam mit Horst Schumann im Block 30. 1943 siedelte Clauberg dann nach Block 10 in Auschwitz I um. Dieser Block wurde zum Zentrum medizinischer Experimente im Konzentrationslager. Block 10 wurde von Aufseherinnen der SS bewacht, die Bewohnerinnen bestanden aus Häftlingen aus etwa 14 Ländern. Von den KZ-Ökonomen wurden sie „Häftlinge für Versuchszwecke“, von den Leidensgenossen in Auschwitz „Claubergs Kaninchen“ genannt. Clauberg kaufte sie einfach von der Lagerbehörde ab, indem er für jede von ihnen eine Reichsmark wöchentlich bezahlte. 498 Frauen zwischen 16 und über 50 Jahren wurden bis Ende 1944 „vermietet“. Die meisten Experimente im Block 10 wurden von Clauberg persönlich durchgeführt. Die betroffenen Frauen wurden über den Zweck der Versuche im Unklaren gelassen, der Gynäkologe hielt eine Einwilligung für unnötig. Durch die operationslose Sterilisation wollte der Arzt eine Verklebung und anschließende Vernarbung der Eileiter erzielen, um so eine Eiwanderung zur Gebärmutter zu verhindern. Blutuntersuchungen und Krankenblätter für die einzelnen Frauen unterblieben. Fiebermessungen hielt der Arzt im Verlauf seiner Versuche für nicht mehr notwendig und die Frauen wurden nicht narkotisiert; Clauberg sterilisierte „aus der Masse heraus”. Die Häftlinge verfielen nach der Behandlung in Schockzustände, konnten nur gebückt das Behandlungszimmer verlassen oder wurden sogar ohnmächtig. Trotz aller Angst fürchteten viele Frauen die Rücksendung nach Birkenau so sehr, dass sie Block 10 als Überlebensmöglichkeit sahen. Entgegen Claubergs Aussagen nach dem Krieg, wurden Frauen, die „unnutz” geworden waren, dennoch nach Birkenau zurückgeschickt. Dort kamen viele in das allseits gefürchtete Strafkommando und mussten schwerste Arbeit verrichten. Die ohnehin geschwächten Lagerinsassinnen hatten so keine Überlebenschance: Das Zurücksenden nach Birkenau war also gleichzeitig ihr Todesurteil.
Kurz vor Kriegsende: Claubergs Arbeit im Konzentrationslager Ravensbrück
Ende Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz evakuiert, Carl Clauberg gelang die Flucht in das Frauenlager Ravensbrück. Dort fanden die begonnen Experimente ihre Fortsetzung. Im April 1945 verließ der Arzt das Konzentrationslager Richtung Schleswig-Holstein. Hier versuchte Clauberg sich der letzten Gruppe loyaler SS-Führer um Heinrich Himmler anzuschließen – als einziger Arzt aus Auschwitz. Am 8. Juni 1945 wurde Carl Clauberg von russischen Soldaten in Schinkel bei Eckernförde verhaftet und nach Russland deportiert.
Keiner Schuld bewusst – Clauberg wird angeklagt
Als „Sonderbegnadigter“ traf der Arzt am 11. Oktober 1955 mit dem ersten Transport amnestierter Verurteilter in der Bundesrepublik ein. Seine Hoffnungen, sich als Heimkehrer feiern zu lassen und wieder in sein altes wissenschaftliches Umfeld aufgenommen zu werden, erfüllten sich jedoch nicht. Ehemalige Häftlinge hatten ihn erkannt und der Zentralrat der Juden wies im Oktober 1955 darauf hin, dass sich unter den Heimkehrern Carl Clauberg befand. Nach seiner Verhaftung behauptete er, stets im Einverständnis dieser Frauen gehandelt zu haben und charakterisierte die von ihm geschaffene Einrichtung als ein Institut, in dem er den Frauen das Leben rettete. 1955 also wurde Prof. Clauberg nach dieser Faktenlage vor dem Schwurgericht vor dem Landgericht Kiel angeklagt. Wenige Wochen vor Eröffnung des Prozesses vor dem Kieler Landgericht am 9.August 1957 verstarb Clauberg an einem Schlaganfall in Untersuchungshaft. Das von der Staatsanwaltschaft als „größter Prozess der Nachkriegszeit“ angekündigte Verfahren kam somit nicht zustande. Nur wenige Opfer von Claubergs Versuchen überlebten das Konzentrationslager – alle anderen kamen im Konzentrationslager ums Leben.
Konzentriert man sich nur auf den medizinischen Aspekt seiner Tätigkeit, so lässt sich konstatieren, dass Clauberg als anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Hormonforschung und Frauenheilkunde galt. Clauberg ergriff die Chance, die erstarkte NS-Ideologie für eine persönliche Weiterentwicklung zu nutzen und damit an sein ersehntes Ziel, die wissenschaftliche Anerkennung, zu gelangen. Entwicklungsstränge fanden zusammen; in ihrer Mitte ein ambitionierter Gynäkologe, der es immerhin durch seine Methode der operationslosen Sterilisation hätte schaffen können, wissenschaftliche Anerkennung zu erfahren. Dieser Wunsch misslang größtenteils; Carl Clauberg experimentierte im vollen Bewusstsein, dass seine Behandlungsweise den Nationalsozialisten die Ausrottung ganzer Bevölkerungen ermöglichen sollte, bei Ausbeutung ihres Arbeitspotentials bis zum letzten Atemzug. Bis zu seinem Kontakt mit Heinrich Himmler 1940 unterschied sich seine politische Biographie jedoch nicht von der Millionen anderer Deutscher in der damaligen Zeit. Im Allgemeinen wurde Clauberg eher als unpolitisch eingestuft. Mit dem Rassenwahn seines Vorgesetzten hatte er nichts zu schaffen und seine Affinität zum Regime blieb – auch während der engen Zusammenarbeit mit Himmler – unpolitisch. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er sich mit dem Massensterilisationsvorhaben sonderlich identifizieren konnte. Die nationalsozialistischen Institutionen boten das ideale Umfeld und den besten Nährboden für Claubergs kompensatorische Großartigkeit und psychopathische Neigungen.
Autorin: Anna-Raphaela Schmitz
Literatur
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KLEE, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. 4. Auflage. Frankfurt a.M. 2008.
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MITSCHERLICH, Alexander; MIELKE, Fred (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt 1995.
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WILKING, Silvia: Eugenischer Rassismus: Die Fortpflanzungsbiologie Carl Claubergs. In: VOEGLI, Wolfgang: Nationalsozialistische Familienpolitik zwischen Ideologie und Durchsetzung. Hamburg 2001.