Innerhalb der Führungselite des Dritten Reiches ist Alfred Rosenberg sicher derjenige, der im historischen Bewusstsein am wenigsten Spuren hinterlassen hat. Während von Himmler, Goebbels, Göring und natürlich von Hitler zahlreiche biographische Studien vorliegen, beschäftigt sich mit Alfred Rosenberg kaum eine Handvoll nennenswerter Arbeiten, eine umfassende Biographie fehlte bislang ganz.
Obwohl er nach NS-Lesart ein „alter Kämpfer“ war, also bereits seit den 1920er-Jahren aktiver Nationalsozialist und er es im Dritten Reich bis zum Reichsminister gebracht hatte, galt er dennoch politisch lange als weitgehend einflusslos. Tatsächlich trat er vor allem publizistisch in Erscheinung – als Verfasser zahlreicher antisemitischer Schriften, Schriftleiter der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ und vor allem als Autor des voluminösen Buches „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, das schon im Dritten Reich als schwer lesbar verrufen war. Innerhalb des Machtstaates „Drittes Reich“ musste ein solcher Theoretiker zwangsläufig wie eine Randfigur erscheinen. Rosenberg, so der Hitlerbiograph Joachim Fest, sei innerhalb der NS-Führung „kaum noch ernst genommen, mutwillig übersehen und herumgestoßen“ worden.
Demgegenüber stellt der Historiker Ernst Piper zu Recht fest, dass der NS-Staat auch „Weltanschauungsstaat“ war, dem es um die – gewaltsame – Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie ging. Rosenberg, den Piper als den „Chefideologen Hitlers“ bezeichnet, repräsentierte für ihn den ideologischen Charakter dieses totalitären Staates und prägte ihn zugleich.
In der voluminösen, mehr als 800 Seiten starken Biographie, zeichnet Piper Rosenbergs Leben bis in alle Einzelheiten nach. Dazu hat er alle verfügbaren gedruckten und archivalischen Quellen in einer rund zehnjährigen Recherche verarbeitet, sodass ein praktisch lückenloses Bild des Lebens von Alfred Rosenberg entstanden ist.
Geboren am 12. Januar 1893 – zufällig am selben Tag wie Hermann Göring – in Estland, kam Rosenberg nach Abschluss seines Studiums der Architektur und Ingenieurwissenschaften nach München. Dort engagierte er sich bald in der völkischen Bewegung, so in der antisemitischen Thule-Gesellschaft. In München lernte er auch Adolf Hitler kennen und schloss sich ihm als bedingungslos loyaler Gefolgsmann an. Am Putsch Hitlers 1923 gegen die Demokratie beteiligte er sich. Während der Weimarer Zeit saß er für die NSDAP im Reichstag und leitete die Propagandaorganisation „Kampfbund für deutsche Kultur“. Nach der Machtergreifung fungierte er zunächst als Leiter des „Außenpolitischen Amtes der NSDAP“ und wurde zum „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. Ungeachtet der bombastischen Titel: Im Machtkampf um die Leitlinien der Propaganda unterlag er regelmäßig seinem Rivalen, dem Propagandaminister Joseph Goebbels.
Als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ in den Jahren von 1941 bis 1945 war Rosenberg schließlich mitverantwortlich für die Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden. Ernst Piper weist nach, dass Rosenberg nicht nur von der Vernichtung der Juden Kenntnis hatte, sondern sie auch befürwortete.
Aus seiner – und übrigens auch aus Hitlers Sicht – war dies nur die konsequente Umsetzung einer antisemitischen Ideologie, die er detailliert 1930 im „Mythus des 20. Jahrhunderts“ formuliert hatte. Demnach gebe es einen weltgeschichtlichen Kampf zwischen der arischen Rasse, den „Gotteskindern“ und der jüdischen Rasse, der „Personifikation des Teufels“. Dieser unvermeidbare Kampf gehe auf Leben und Tod, eine Koexistenz beider Rassen sei grundsätzlich unmöglich.
Rosenberg lieferte den Nationalsozialisten mit seinem pseudophilosophischen „Mythus“, in dem er zahlreiche Fakten aus der Kulturgeschichte verarbeitete, die theoretische Legitimation für den Judenhass. Piper ist sich dabei sicher, dass Rosenberg gerade in den 1920er-Jahren großen Einfluss auf Hitler besaß.
Am 16. Oktober 1946 wurde Alfred Rosenberg schließlich vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zum Tode verurteilt und in Nürnberg gehängt.
Pipers Rosenberg-Biographie hat für Nichtspezialisten dabei den großen Vorzug, dass sie auch das historische Umfeld ausführlich beleuchtet. Rosenbergs Leben wird damit eingeordnet in den jeweiligen Ereigniszusammenhang. Freilich haben Biographien, die sich naturgemäß an der Chronologie des jeweiligen Lebens orientieren, auch ihren Nachteil: Zu kurz und vor allem nicht systematisch werden die ideologischen Vorstellungen Rosenbergs beleuchtet. Das ist gerade bei einem Mann, der sich selbst als „Philosoph“ verstanden hat, ein Mangel. Hier hat die Forschung noch ein weites Betätigungsfeld. Pipers Biographie ist dafür ein hervorragender Ausgangspunkt.
Autor (Rezensent): Dr. Bernd Kleinhans M.A.
Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. Blessing Verlag, München 2005, 830 Seiten, ISBN 3-89667-148-0, EUR 26,00.