
A Complete Unknown | Like A Complete Unknown. Land: USA 2024. Regie: James Mangold. Timothée Chalamet. Sektion: Berlinale Special 2025 Datei: 202518003_2. © 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved
Ein facettenreiches Porträt des jungen Bob Dylan
James Mangolds neuester Film „Like A Complete Unknown“ feiert derzeit auf der Berlinale seine Deutschland-Premiere und entführt das Publikum in das pulsierende New York der frühen 1960er Jahre. Mit Timothée Chalamet in der Hauptrolle als junger Bob Dylan gelingt Mangold ein faszinierendes Künstlerporträt, das weit mehr ist als eine gewöhnliche Musikerbiografie.
Der Film konzentriert sich auf die entscheidenden Jahre 1961 bis 1965, in denen der 19-jährige Dylan aus Minnesota nach New York kommt und dort seinen kometenhaften Aufstieg vom unbekannten Folkmusiker zur Stimme einer Generation erlebt. Mangold zeichnet diesen Weg mit großer Sorgfalt und atmosphärischer Dichte nach, ohne dabei in die üblichen Fallen des Biopic-Genres zu tappen.
Chalamets Darstellung des jungen Dylan ist beeindruckend. Er verkörpert nicht nur die äußere Erscheinung des Musikers mit verblüffender Ähnlichkeit, sondern fängt auch dessen innere Zerrissenheit und künstlerische Entwicklung überzeugend ein. Besonders in den Musikszenen zeigt Chalamet sein Können – er interpretiert Dylans Songs selbst und trifft dabei dessen charakteristische raue Stimme und windiges Mundharmonikaspiel erstaunlich gut.
Die Kameraarbeit von Mangolds langjährigem Kollaborateur Phedon Papamichael erschafft ein New York, das sich anfühlt, als wäre es direkt aus der Zeit gegriffen. Gedämpfte Farben und eine Textur, die an Vintage-Fotografien erinnert, tauchen den Film in eine nostalgische, aber nie kitschige Atmosphäre. Die Clubs von Greenwich Village, die belebten Straßen und die intimen Studiomomente werden mit gleichem Gespür für Details eingefangen.
Ein besonderes Augenmerk legt Mangold auf Dylans politisches Engagement in dieser Zeit – ein Aspekt, der in vielen Darstellungen des Künstlers oft zu kurz kommt. Der Film zeigt Dylan nicht als den offensichtlichen Protestsänger, als den ihn viele kennen, sondern zeichnet ein nuancierteres Bild seines politischen Bewusstseins.
Wir sehen, wie Dylan zunächst zögerlich, dann aber mit wachsender Überzeugung seine Stimme für soziale Gerechtigkeit erhebt. Seine Teilnahme am Marsch auf Washington 1963, bei dem er im Anschluss an Martin Luther Kings berühmte „I Have a Dream“-Rede auftritt, wird als Schlüsselmoment inszeniert. Hier wird deutlich, wie Dylan die Kraft seiner Musik als Instrument des Wandels begreift.
Gleichzeitig zeigt der Film auch Dylans Unbehagen mit der Rolle des „Sprachrohrs einer Generation“, die ihm zunehmend aufgedrängt wird. In subtilen Szenen sehen wir, wie er mit den Erwartungen ringt, die an ihn als politische Figur gestellt werden. Seine Beziehung zu Joan Baez (hervorragend gespielt von Monica Barbaro) wird in diesem Kontext als komplexe Verbindung von persönlicher und künstlerischer Partnerschaft dargestellt, die auch von politischem Aktivismus geprägt ist.
Mangold vermeidet es klug, Dylan als einfachen Helden des Protests zu stilisieren. Stattdessen zeigt er einen jungen Künstler, der sich seiner Verantwortung bewusst wird und gleichzeitig nach seiner eigenen künstlerischen Identität sucht. Die Entstehung von Songs wie „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ während der Kubakrise wird als Moment gezeigt, in dem persönliche Ängste und globale Bedrohungen in Dylans Kunst verschmelzen. Der Film beleuchtet auch Dylans Engagement gegen Rassendiskriminierung, insbesondere seinen Auftritt in Greenwood, Mississippi. Diese Szenen verdeutlichen, wie Dylan seine Musik als Mittel sah, um auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, ohne dabei in plakative Slogans zu verfallen.
Ein Höhepunkt des Films ist zweifellos Dylans kontroverse Performance beim Newport Folk Festival 1965, bei der er erstmals elektrisch verstärkt auftritt. Mangold inszeniert diesen Moment als Kulminationspunkt von Dylans künstlerischer und persönlicher Entwicklung. Die Buhrufe des Publikums werden hier nicht nur als Reaktion auf einen musikalischen Stilwechsel dargestellt, sondern als symbolischer Bruch mit den Erwartungen, die an Dylan als politische Figur gestellt wurden.
Der Film zeigt eindrucksvoll, wie Dylan in dieser Phase beginnt, sich von den engen Grenzen des Folk-Genres und der damit verbundenen politischen Erwartungen zu lösen. Seine Hinwendung zum Rock wird als Ausdruck eines erweiterten künstlerischen und politischen Bewusstseins dargestellt, das über simple Protestsongs hinausgeht. Mangold gelingt es, Dylans komplexes Verhältnis zur Politik und zum Aktivismus differenziert darzustellen. Er zeigt einen Künstler, der sich der Macht seiner Worte bewusst ist, aber gleichzeitig davor zurückschreckt, als Sprachrohr vereinnahmt zu werden. Diese Spannung wird besonders in den Szenen deutlich, in denen Dylan mit Journalisten und Fans konfrontiert wird, die von ihm klare politische Statements erwarten.
Die Darstellung von Dylans Beziehungen zu anderen Künstlern und Aktivisten ist ein weiterer Stärke des Films. Besonders die Interaktionen mit Pete Seeger (Edward Norton) und Woody Guthrie (Scoot McNairy) zeigen, wie Dylan sich an diesen Vorbildern orientiert und gleichzeitig seinen eigenen Weg sucht. Norton spielt Seeger als komplexe Figur, die Dylans Talent erkennt, aber auch mit dessen zunehmender Abkehr von traditionellen Folk-Idealen hadert.
Ein besonderer Fokus liegt auf Dylans Beziehung zu Sylvie Russo (Elle Fanning), einer fiktiven Figur, die verschiedene Einflüsse aus Dylans Leben repräsentiert. Durch sie wird Dylans wachsendes politisches Bewusstsein personalisiert und in einen emotionalen Kontext gesetzt. Die Szenen, in denen Sylvie Dylan zu größerem politischem Engagement drängt, gehören zu den intensivsten des Films.
Mangold verzichtet weitgehend auf eine chronologische Erzählweise und schafft stattdessen ein assoziatives Geflecht aus Erinnerungen, Träumen und Realität. Diese Struktur spiegelt Dylans eigenen non-linearen Songwriting-Stil wider und erlaubt es dem Zuschauer, tiefer in die Gedankenwelt des Künstlers einzutauchen. Die Musikszenen sind zweifellos ein Highlight des Films. Mangold nimmt sich viel Zeit, um die Entstehung und Aufführung von Dylans Songs zu zeigen. Besonders eindrucksvoll sind die intimen Momente im Studio oder in kleinen Clubs, in denen wir Zeuge werden, wie aus einfachen Akkorden und Textfragmenten ikonische Songs entstehen.
„Like A Complete Unknown“ ist kein konventionelles Biopic, sondern ein vielschichtiges Porträt eines Künstlers an einem Wendepunkt seiner Karriere und der Gesellschaft. Mangold zeigt Dylan als komplexe, oft widersprüchliche Figur, die zwischen persönlichem Ausdruck und öffentlicher Verantwortung navigiert. Der Film ist auch eine Hommage an eine Zeit des kulturellen und politischen Umbruchs. Er fängt die Energie und den Idealismus der frühen 1960er Jahre ein, ohne dabei in Nostalgie zu verfallen. Stattdessen zeigt er, wie Dylans Kunst sowohl von dieser Zeit geprägt wurde als auch selbst prägend wirkte.
Timothée Chalamet liefert eine Tour de Force als junger Dylan. Er verkörpert nicht nur die äußere Erscheinung des Musikers, sondern auch dessen innere Zerrissenheit und künstlerische Intensität. Seine Darstellung der Bühnenauftritte ist elektrisierend und lässt den Zuschauer die transformative Kraft von Dylans Musik spüren.
„Like A Complete Unknown“ ist ein Film, der lange nachwirkt. Er ist nicht nur ein Porträt eines der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine Reflexion über die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, über die Macht der Musik als Instrument des Wandels und über die komplexe Beziehung zwischen persönlicher Integrität und öffentlicher Erwartung.
Mangolds Film ist eine würdige Hommage an Bob Dylan und eine fesselnde Erkundung einer der turbulentesten und kreativsten Perioden der amerikanischen Kulturgeschichte. Er lädt das Publikum ein, über die Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus nachzudenken und zeigt, dass wahre künstlerische Freiheit oft bedeutet, sich den Erwartungen zu widersetzen – selbst wenn diese von den eigenen Anhängern kommen.
A Complete Unknown – von James Mangold (Regie, Buch), Jay Cocks (Buch) / mit Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning, Monica Barbaro, Boyd Holbrook / 140′ / USA 2024 / Farbe / Englisch / Untertitel: Deutsch
Berlinale: Sektion Berlinale Special Gala