
The Thing with Feathers. Land: GBR 2025. Regie: Dylan Southern. Benedict Cumberbatch, Henry Boxall, Richard Boxall.
Sektion: Berlinale Special 2025. Datei: 202517001_2. © Anthony Dickenson / The Thing with Feathers Ltd
Ein schauspielerisches Denkmal für die Poesie der Trauer
Dylan Southerns The Thing with Feathers (2025) ist kein konventioneller Film, sondern eine dichte, sensorische Erkundung von Trauer, die sich zwischen psychologischem Drama und surrealem Horror bewegt. Basierend auf Max Porters preisgekröntem Roman Grief Is the Thing with Feathers (2015), übersetzt der Film die literarische Abstraktion des Texts in eine universell zugängliche Bildsprache, die sowohl verstörend als auch tröstlich wirkt. Im Zentrum steht Benedict Cumberbatch als namenloser Witwer, dessen Performance neue Maßstäbe für die Darstellung psychischer Abgründe setzt. Der Film folgt seiner Figur durch ein Labyrinth aus Verzweiflung, Wut und zartem Humor, während er versucht, das Unfassbare – den plötzlichen Tod seiner Frau – zu verarbeiten. Southern gelingt dabei eine Adaption, die sich nicht sklavisch an die Vorlage klammert, sondern deren Essenz in visuelle Poesie transformiert.
Narrative Architektur: Vom Schock zur Akzeptanz
Akt 1: Das Nest des Schocks
Die Eröffnungsszene kondensiert das gesamte Drama: Drei unberührte Frühstücksteller, verkrustetes Müsli und ein zerbrochener Orangensaftbecher werden zur stummen Anklage des Verlusts. Southern inszeniert die unmittelbare Leere nach dem Tod der Mutter (Claire Cartwright in Archivaufnahmen) als physische Präsenz. Die Kamera folgt Cumberbatchs Vater durch verwinkelte Gänge eines Londoner Reihenhauses, dessen Wände in abblätterndem Senfgelb die Atmosphäre einer erstickenden Zeitkapsel schaffen. Hier wird Trauer nicht dialogisch verhandelt, sondern durch Blicke und Gesten: Die Söhne Richard und Henry Boxall kommunizieren in einer Geheimsprache aus Schulterzucken und verstohlenen Blicken, während der Vater beim Wäscheaufhängen erstmals auf die Krähe trifft – ein Moment, der an die surreale Intensität von Lynch’scher Traumlogik erinnert.
Akt 2: Der Flug der Wut
Im Mittelteil verwandelt sich das Reihenhaus in einen expressionistischen Albtraum. Die Krähe (körperlich verkörpert von Eric Lampaert, gesprochen von David Thewlis) wird zum katalytischen Element, das die Familie durch alle Phasen der Trauer zerrt. Eine Schlüsselszene zeigt den Faustkampf im Badezimmer, bei dem sich Vater und Krähe blutig bekämpfen – eine choreografierte Metapher für den Kampf gegen die eigene Hilflosigkeit. Southern bedient sich hier Horror-Tropen (Lichtspiele, verzerrte Perspektiven), unterminiert sie aber durch den grotesken Humor der Krähe, die zwischen Ted Hughes-Zitaten und Beleidigungen pendelt. Die Kameraarbeit von Ben Fordesman (Saint Maud) verstärkt die Beklemmung durch 4:3-Aufnahmen, die wie ein Gefängnis aus Rahmen wirken.
Akt 3: Das Federkleid der Akzeptanz
Das Finale findet eine zarte Balance zwischen Absurdität und Hoffnung. Die Familie entwickelt Rituale mit der Krähe: gemeinsames Fernsehen, Feder-Sammeln, das Verbrennen von Erinnerungsstücken. Southern vermeidet dabei pathetische Lösungen; stattdessen zeigt er, wie Trauer sich in den Alltag einschreibt, ohne ihn zu dominieren.
Schauspielerische Meisterleistungen: Die Anatomie des Verlust
Cumberbatchs Darstellung ist eine Studie in mikroskopischer Dekonstruktion. Seine physische Verwandlung – vom aufrechten Zeichner zum gebückten, schlurfenden Schatten – spiegelt die Erosion des Selbst. In der Supermarkt-Szene offenbart sich sein Genie: Ein einzelner Tränenstrom aus dem rechten Auge, während er mechanisch Konserven einscannt, wird zur Ikone unterdrückter Verzweiflung. Seine Stimme, im Roman noch wortgewaltig, zerbröckelt hier zu kehligen Fragmenten, bis nur noch das Kreischen der Krähe bleibt. Doch gerade in der Interaktion mit dem Federwesen findet er zurück zur Sprache – ein Prozess, der an Sprachtherapie nach einem Schlaganfall erinnert.
Richard (11) und Henry (8) Boxall liefern eine der authentischsten Kinddarstellungen des zeitgenössischen Kinos. Ihr Spiel ist frei von Sentimentalität; stattdessen zeigen sie Trauer als Puzzle, das sie durch intuitive Rituale lösen. In einer Schlüsselszene inszenieren sie einen Streit, nur um den Vater zum ersten Mal seit Wochen lachen zu hören – eine subtile Hommage an die Resilienz von Kindern.
Die Krähe, entworfen von Conor O’Sullivan (Alien: Covenant), ist ein technisches Meisterwerk: 600 echte Federn, ein robotergesteuerter Schnabel, der bei Berührung vibriert. Doch erst Thewlis’ Stimme verleiht ihr Ambivalenz. Sein rauchiges Bassregister, durchmischt mit Theremin-Klängen, oszilliert zwischen tröstendem Singsang und sadistischem Hohn. Wenn er Hughes’ Zeile „Der Schmerz ist der Schatten, der länger ist als ich“ deklamiert, wird die Krähe zum Chor griechischer Tragödien – eine Stimme, die gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft verkörpert.
Literarische Vorlage vs. Film: Vom Textvirus zum Bildersturm
Porters Werk (2015) ist ein Genre-Hybrid aus Prosa, Lyrik und dramatischem Dialog. Die Krähe fungiert hier als Trickster-Figur, die Sprache infiziert und Trauer als Virus darstellt. Typografische Experimente (Gedichtblöcke, kursivierte Innereien) brechen konventionelle Erzählmuster auf, während der nonlineare Aufbau die Fragmentierung des Bewusstseins spiegelt.
Southern wählt einen konträren Ansatz: Anstelle von Porters sprachlicher Zersetzung setzt er auf visuelle Metaphern. Das Reihenhaus wird zum dritten Protagonisten – seine knarrenden Dielen, überquellenden Briefkästen und schimmelnden Tapeten materialisieren die innere Verwüstung. Die Krähe verliert ihre abstrakte Qualität; durch praktische Effekte wird sie greifbar, fast taxidermisch.
Trauer als kreativer Akt: Psychologische und kulturelle Dimensionen
Der Film dekonstruiert die fünf Trauerphasen durch surrealistische Setpieces:
- Verleugnung: Die Krähe als lebendes Denkmal des „Das-ist-alles-nicht-passiert“
- Wut: Zerschlagene Vasen, nächtliches Brüllen in Kissen
- Verhandlung: „Wenn ich drei Comics zeichne, bringst du sie zurück?“
- Depression: Der Vater, tagelang in Claires Kleiderschrank vergraben
- Akzeptanz: Federsammeln als neues Ritual
Doch Southern zeigt diese Phasen nicht linear, sondern als chaotischen Wirbel, der die Familie immer wieder zurückwirft – eine realitätsnahe Darstellung, die klinische Modelle unterläuft. Cumberbatchs Figur verkörpert den Konflikt zwischen emotionaler Repression und explosivem Ausdruck. In der Öffentlichkeit hält er die Fassade aufrecht; privat explodiert er in Wutanfällen. Die Krähe wird zum Ventil dieser unterdrückten Emotionen – ein Kommentar zur toxischen Männlichkeit, die Trauer als Schwäche brandmarkt.
Filmsprache: Die Synästhesie des Schmerzes
Southerns visuelles Vokabular operiert auf mehreren Ebenen gleichzeitig, um die Vielschichtigkeit der Trauer erfahrbar zu machen. Spiegelungen dienen als Leitmotiv, das die Omnipräsenz des Verlusts unterstreicht. Die Krähe erscheint konsequent zuerst in reflektierenden Oberflächen – sei es im matten Schwarz eines ausgeschalteten Fernsehbildschirms, im Wölkchen eines Teelöffels oder im schlierigen Fensterglas eines überfüllten Kinderzimmers. Diese Inszenierungstechnik verwandelt alltägliche Gegenstände in Portale zum Unbewussten, wo der Schmerz als ständiger Begleiter lauert, selbst wenn er im direkten Blickfeld unsichtbar bleibt. Die Spiegelmetaphorik gipfelt in einer Schlüsselszene des zweiten Akts, in der sich Cumberbatchs Figur und die Krähe gegenüberstehen, während die Kamera sie durch einen Türrahmen filmt, dessen Holzsprossen wie Gefängnisstäbe wirken – ein visuelles Gleichnis für die gefangene Seele, die sich selbst im Trauerprozess begegnet.
Die Farbdramaturgie des Films fungiert als subtiler emotionaler Kompass. Dominierende Schlammbraun- und Aschgrautöne in den Innenräumen des Londoner Reihenhauses schaffen eine Atmosphäre erstickender Melancholie, während vereinzelte rote Akzente – Claires vergessener Lippenstift auf einem Kaffeebecherrand, die schrillen Plastikräder eines Spielzeugfeuerwehrwagens – wie blutende Wunden aus der Vergangenheit hervorstechen. Bemerkenswert ist die chromatische Entwicklung im Finale: Das Erscheinen zarter Sonnenblumengelbtöne auf dem Familientisch korrespondiert mit der langsam einsetzenden Heilung, ohne dabei in plakative Symbolik abzugleiten. Diese Farbtransition vollzieht sich so unmerklich wie der reale Trauerprozess selbst – ein Hauch von Hoffnung, der sich zwischen verbrannten Lachsfiletenden und zerknüllten Servietten Bahn bricht.
Die Kameraführung dient als seismografischer Aufzeichnungsapparat innerer Zustände. In den Schockphasen des ersten Akts oszilliert die Handheld-Kamera in nervösem Zittern um Cumberbatchs Gesicht, als versuche sie, den Tränen zuvorzukommen, die seine Figur noch nicht zulassen kann. Besonders eindrücklich ist die Badewannenszene, bei der die Linse sich langsam mit Kondenswasser beschlägt – ein metaphorischer Schleier, der die Grenze zwischen Realität und seelischem Taumel verwischt. Im Kontrast dazu stehen die statischen, symmetrisch komponierten Einstellungen während der Dialoge mit der Krähe, die an die Tableau-Ästhetik nordischer Kammerspiele erinnern. Diese bewusste Stilisierung unterstreicht die surreale Qualität der Vater-Krähen-Beziehung, während sie gleichzeitig den Zuschauer in die Rolle eines distanzierten Beobachters drängt – ein formaler Kunstgriff, der die Ambivalenz zwischen Empathie und Schutzmechanismen spiegelt.
Das Sounddesign des Films entwickelt sich zur eigenständigen Erzählebene. Diagetische Geräusche werden zu psychologischen Folterinstrumenten: Das Knirschen von Federn unter Schuhsohlen erhält die Intensität von Glasbruch, das tropfende Wasser eines undichten Hahns mutiert zum Metronom unerbittlich verrinnender Zeit. Thewlis‘ Stimme, durch Theremin-Klänge elektronisch verfremdet, kreiert eine Klanglandschaft zwischen tröstlichem Singsang und bedrohlichem Fiepen – eine akustische Manifestation der Krähe als janusköpfige Trauerbegleiterin. Besonders genial ist die Behandlung von Claires Cello-Thema: Ihre einst geliebten Bach-Suiten kehren als zersägte Fragmente wieder, deren Dissonanzen an zerrissene Nervenbahnen erinnern. Erst im Finale, wenn die Familie beginnt, die Federsammlung zu ordnen, fügen sich die Klänge zu einer erlösenden Kadenz – kein triumphales Crescendo, sondern ein vorsichtiges Pizzicato der Hoffnung.
Durch die Verschmelzung dieser Elemente gelingt Southern eine kinematografische Synästhesie, die Trauer nicht bloß darstellt, sondern physisch erfahrbar macht. Die Comic-Interludes des Vaters – visuelle Zitate aus Art Spiegelmans Maus – durchbrechen die Diegese, indem sie Live-Action mit gezeichneten Schattenwelten verschränken. In einer Schlüsselsequenz des dritten Akts verwandelt sich die Krähe selbst in eine zweidimensionale Zeichnung, die über die Wände des Hauses huscht – ein metaphorischer Brückenschlag zwischen Porters literarischem Formexperiment und der filmischen Bildsprache. Hier wird deutlich, dass Southerns größte Leistung nicht in der bloßen Adaption, sondern in der Schaffung eines völlig neuen künstlerischen Idioms liegt, das Literatur und Kino zu einer dritten, hybriden Ausdrucksform verschmilzt.
Was bleibt
The Thing with Feathers ist kein leichter Film, aber ein notwendiger. In einer Ära, die Trauer als Störfaktor des produktiven Lebens betrachtet, feiert er ihre Unordnung – jene wirbelnden Federn, die sich nie ganz sortieren lassen. Cumberbatchs Performance wird ikonisch bleiben. Doch das wahre Verdienst liegt in der Darstellung von Trauer als kollektivem Prozess: Nicht der Einzelne, sondern die Familie – inklusive des absurden Federwesens – findet einen Weg weiterzugehen. Southern gelingt damit, was nur große Kunst vermag: Er macht den Schmerz anderer nicht nur sichtbar, sondern spürbar. Und in den Augen der Krähe, diesem grotesken Spiegel unserer Verluste, erkennen wir am Ende uns selbst – nicht als Helden oder Opfer, sondern einfach als Menschen: zerbrechlich, federbeladen, weitergehend.
The Thing with Feathers – von Dylan Southern (Regie, Buch) / mit Benedict Cumberbatch, Richard Boxall, Henry Boxall, Sam Spruell, Vinette Robinson / 98′ / Vereinigtes Königreich 2025 / Farbe / Englisch / Untertitel: Deutsch
Berlinale: Sektion Berlinale Special