
Michtav Le’David | A Letter to David. Land: ISR, USA 2025. Regie: Tom Shoval. Bildbeschreibung: Eitan Cunio, David Cunio. Sektion: Berlinale Special 2025. Datei: 202505181_1. © Orit Azoulay
Tom Shovals neuester Dokumentarfilm „A Letter to David“ ist ein zutiefst persönliches und emotionales Werk, das die Grenzen zwischen Kino und Leben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf beeindruckende Weise verwischt. Der Film, der seine Weltpremiere auf der Berlinale 2025 feiert, ist weit mehr als nur ein Dokumentarfilm – er ist ein cinematischer Brief, eine Liebeserklärung an einen Freund und ein kraftvolles Statement gegen das Vergessen.
Im Zentrum des Films steht David Cunio, ein talentierter Schauspieler, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde und seitdem als Geisel im Gazastreifen festgehalten wird. David ist kein Unbekannter für Shoval: Er und sein Zwillingsbruder Eitan spielten die Hauptrollen in Shovals früherem Film „Youth“ aus dem Jahr 2013. Diese Verbindung verleiht dem Film eine zusätzliche Ebene der Intimität und Dringlichkeit.
Shoval webt geschickt verschiedene Erzählstränge und Zeitebenen ineinander. Er verwendet Archivmaterial aus dem Casting und den Dreharbeiten zu „Youth“, private Videoaufnahmen der Cunio-Brüder und aktuelles Filmmaterial, um ein vielschichtiges Porträt von David, seiner Familie und dem Leben im Kibbuz Nir Oz zu zeichnen. Besonders bewegend sind die Interviews mit Davids Zwillingsbruder Eitan und seiner Frau Sharon, die dem Film eine unmittelbare emotionale Kraft verleihen.
Die Entscheidung, auf schockierende Bilder vom Tag des Angriffs zu verzichten, erweist sich als klug. Stattdessen konzentriert sich Shoval auf die persönlichen Geschichten und Emotionen der Beteiligten. Diese Herangehensweise macht den Horror des Geschehenen auf eine subtilere, aber nicht weniger eindringliche Weise spürbar. Die Schilderungen Eitans über die Ereignisse des 7. Oktober und wie er und seine Familie überlebten, während David entführt wurde, gehören zu den erschütterndsten Momenten des Films. Ein besonders faszinierender Aspekt des Films ist die Exploration der Zwillingsbeziehung zwischen David und Eitan. Shoval fängt meisterhaft die enge Verbindung zwischen den Brüdern ein und zeigt gleichzeitig die enorme emotionale Belastung für Eitan, der seinem entführten Bruder zum Verwechseln ähnlich sieht. Diese Ähnlichkeit wird zu einem visuellen Leitmotiv des Films und unterstreicht auf eindringliche Weise die Abwesenheit Davids.
Die Darstellung des Lebens im Kibbuz Nir Oz vor und nach dem Angriff ist ein weiterer Höhepunkt des Films. Shoval gelingt es, die Idylle und Gemeinschaft des Kibbuz-Lebens einzufangen und sie dann mit Bildern der Zerstörung zu kontrastieren. Diese Gegenüberstellung macht den Verlust und die Tragödie noch greifbarer. Technisch ist der Film brillant umgesetzt. Die Montage ist präzise und einfühlsam, sie verbindet die verschiedenen Zeitebenen und Materialien zu einem kohärenten und emotionalen Ganzen. Die Kameraarbeit ist sensibel und intim, sie rückt den Menschen in den Mittelpunkt, ohne jemals aufdringlich zu wirken. Der sparsame Einsatz von Musik unterstreicht die emotionalen Höhepunkte des Films, ohne je manipulativ zu wirken.
Was „A Letter to David“ besonders auszeichnet, ist die Art und Weise, wie Shoval persönliche Geschichte mit größeren politischen und gesellschaftlichen Themen verwebt. Der Film ist einerseits eine zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal eines Freundes, andererseits aber auch eine Reflexion über die Folgen des Konflikts für die israelische Gesellschaft. Shoval vermeidet dabei jegliche Schwarzweißmalerei oder einfache Antworten. Stattdessen lädt er das Publikum ein, sich mit der Komplexität der Situation auseinanderzusetzen.
Die Entscheidung, den Film als Brief zu konzipieren, erweist sich als besonders wirkungsvoll. Sie verleiht dem Werk eine intime, fast private Qualität und ermöglicht es Shoval gleichzeitig, direkt und emotional zu kommunizieren. Der Brief wird so zu einer Brücke zwischen der Welt der Lebenden und der unbekannten Welt der Geiseln, zu einem Akt des Widerstands gegen das Vergessen und die Gleichgültigkeit.
Es ist auch ein Film über die Kraft des Kinos und der Erinnerung. Indem Shoval Aufnahmen aus „Youth“ verwendet und sie in einen neuen Kontext stellt, zeigt er, wie Filme zu Zeitkapseln werden können, die Momente und Menschen für die Ewigkeit bewahren. Die Szenen aus „Youth“ gewinnen im Licht der aktuellen Ereignisse eine neue, fast prophetische Bedeutung.
Trotz der Schwere des Themas ist „A Letter to David“ letztlich ein Film der Hoffnung. Shoval weigert sich, David als Opfer zu sehen. Stattdessen feiert er sein Leben, seine Kunst und seine Menschlichkeit. Der Film endet mit einem kraftvollen Appell an die Menschlichkeit und die Hoffnung auf Davids Rückkehr. „A Letter to David“ ist ein außergewöhnlicher Film, der lange nachwirkt. Er ist ein Zeugnis der Kraft des dokumentarischen Filmemachens, persönliche Geschichten zu erzählen und gleichzeitig größere Wahrheiten über unsere Welt zu offenbaren. Tom Shoval hat mit diesem Film nicht nur seinem Freund ein Denkmal gesetzt, sondern auch ein wichtiges Werk geschaffen, das zur Reflexion über Krieg, Verlust und die Bedeutung von Menschlichkeit in Zeiten der Krise anregt. Die Premiere auf der Berlinale 2025 verspricht, diesem wichtigen Film die verdiente internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es bleibt zu hoffen, dass er ein breites Publikum erreicht.
A Letter to David – von Tom Shoval (Regie, Buch) / mit David Cunio, Eitan Cunio, Sharon Aloni-Cunio, Silvia Cunio, Luis Cunio / 75′ / Israel, USA 2025 / Farbe / Hebräisch / Untertitel: Englisch
Berlinale 2025 – Sektion Berlinale Special