Der polnische Autor Henryk Grynberg wurde 1936 in Warschau geboren, wuchs in einem ostpolnischen Dorf auf und überlebte 1942-1944 in verschiedenen Verstecken mit Hilfe „arischer Papiere“. Nach dem Krieg holte er in Łódż seine versäumte Schulbildung nach, studierte in Warschau Journalistik und wurde Schauspieler am „Staatlichen Jüdischen Theater“ in der polnischen Hauptstadt. 1967 nutzte er ein Gastspiel des Theaters zur Flucht in die USA, wo er in Los Angeles ein Literaturstudium absolvierte und danach 20 Jahre lang als Journalist tätig war. Seit 1963 hat er zahlreiche Poesie- und Prosabände veröffentlicht, die alle die Schicksale von Juden und jüdischen Holocaust-Überlebenden behandeln. Grynberg versteht sich, wie er selber sagt, als „Chronist“. Am 6. Februar 2005 veröffentlichte er in der Warschauer Wochenzeitung „Wprost“ einen kurzen Essay unter dem Titel „Europejski mord rytualny“ (Europäischer Ritualmord). Shoa.de bringt eine vollständige deutsche Übersetzung dieses Textes, der nur einige Erklärungen zu historischen Ereignissen angefügt sind.
Warum hat der Holocaust die Europäer nichts gelehrt? Er hat sie so gut wie nichts gelehrt, weil sie gar nichts lernen wollten, keinen Bedarf dafür spürten, keinen Anlaß dazu sahen. Die Verfolgung, Entmenschlichung, Dämonisierung und Ermordung von Juden war in Europa nichts Neues, vielmehr seit Jahrhunderten eine Normalität, beinahe ein Ritual.
In ihrem obsessiven, irrsinnigen Haß gegen Juden haben die Hitler-Leute nichts Neues erdacht, ausgenommen die Gaskammern. Im Grunde war der Holocaust eine erweiterte Markierung auf der Skala der neuzeitlichen Ethnographie (Bevölkerungszahlen) und moderner technischer Möglichkeiten (Information und Kommunikation). An Hitler-Geistgenossen war auch lange vor Hitler in Europa kein Mangel und – wie sichtbar und unüberhörbar zu vernehmen – sie fehlen auch heute nicht.
Schweigen und Hände in Unschuld waschen
Die Ermordung von Juden erschien als so normal, dass keine Armee, keine Regierung zu deren Rettung besondere Eile zeigten. Und die Jahre später veröffentlichen Geheimdokumente weisen aus, dass gut bekannt war, was da geschah. Ich bin der letzte Mensch, der etwa den „Nazi-Deutschen“ auch nur ein Quentchen Verantwortung abnehmen möchte, aber als sie Juden mordeten, hatten sie die stillschweigende Erlaubnis, oftmals sogar die explizite Zustimmung von vielen anderen Europäern. Nicht einmal Hilfe wurde ihnen versagt. Jedwabne[1] war eine kleine Episode im Vergleich zu dem, was lokale Helfershelfer zur selben Zeit in Kowno[2] und in Lwów[3] („Petljura-Tage“[4]) anrichteten, und falls wir Jedwabne mit 400 multiplizierten, bekämen wir einen Eindruck von dem, was mit jüdischen Nachbarn in Rumänien geschah. 400.000 getötet ohne Gaskammern und Krematorien. Die Deutschen waren angewidert: nicht hygienisch (im Original deutsch, A.d.Ü.).
Großbritannien und die Vereinigten Staaten zeigten allgemein kein Interesse am Schicksal der Juden, denn so etwas war unpopulär und unter Kriegsbedingungen sogar unangebracht. Das verstanden sogar die Führer des polnischen Untergrund-Staates, die ihre Exilregierung warnten, dass diese ja die Finger davon ließe.[5] Im Juli 1944 war die Sowjet-Armee in Majdanek[6], benötigte jedoch noch ein halbes Jahr, um Auschwitz zu „befreien“, wo in dieser Zeit die Deutschen (und das waren doch Deutsche) damit beschäftigt waren, die Mehrheit der Juden aus Ungarn und noch weitere Zehntausende aus dem Ghetto Łódź herangeschaffte zu ermorden. Ermordet wurden einige Millionen der wehrlosesten Menschen, wie es die Juden in Europa waren, aber wurde in Nürnberg irgendwer für die Ermordung von Juden verurteilt? Nein, dort wurde wegen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt. Eine Menschheit, die damals alle Rekorde an Gleichgültigkeit gegenüber dem Verbrechen brach. Schweigen und Hände in Unschuld waschen – das ist es, was die Europäer aus dem Holocaust lernten. Deshalb haben wir erst so spät die Wahrheit über Jedwabne erfahren und noch später über Rumänien.
Holocaust als „Negativer Wert“
Kann man nach einem Massenmord wie dem Holocaust offiziell die beliebten antijüdischen Theorien und die Losungen der Hitler-Leute wiederholen? Und was geschah eigentlich in den Jahren 1967-1969, gute zwanzig Jahre nach den Verbrechen, eben in dem Land, in welchem sich das Epizentrum des Verbrechens befunden hatte?[7] Sechzig Jahre nach der „Befreiung“ von Auschwitz-Birkenau werden die Antisemiten in Europa nicht weniger, ganz im Gegenteil. Die europäischen Juden sind für sie nicht mehr „bedrohlich“. Die „Frage“ ist schon „gelöst“. Die größte „Bedrohung“ sind derzeit die Juden in Nahost und in Amerika.
Der Antisemitismus ist ein europäisches Phänomen, das sehr tiefe Wurzeln hat. Man könnte ihn zu den sog. europäischen Werten zählen, denn ein negativer Wert ist auch ein Wert. Es ist doch interessant, dass von keinerlei gesamtasiatischen, gesamtafrikanischen oder gar gesamtamerikanischen Werten etwas zu hören ist, immer nur von europäischen. Handelt es sich da nicht um eine psychische Verwirrung?
Der Holocaust hätte die Europäer wenigstens etwas Demut lehren können, aber daraus wurde nichts. Natürlich, schreckliche Verbrechen an Menschen haben Menschen aller Kontinente begangen und begehen sie noch, aber die unausgesetzte, manische europäische Verfolgung der Juden ist beispiellos. Imre Kertesz[8], der Auschwitz-Überlebende, hat einmal spontan bemerkt, dass das, was man einmal als europäische Werte ansah, in den Flammen der Krematorien verbrannte, ohne dass die Europäer davon etwas mitbekamen.
Erstveröffentlichung: Henryk Grynberg: Europejski mord rytualny, in: Wprost Nr. 1157, 6. Februar 2005. Übersetzung aus dem Polnischen: Wolf Oschlies
Anmerkungen
[1] In dem ostpolnischen Ort Jedwabne kam es am 10. Juli 1941 zu einem Pogrom, bei welchem Polen 1.600 Juden ermordeten. Im Januar 1949 wurden 19 mutmaßliche Täter verhaftet, später weitere. Am 17. Mai 1949 sprach das Kreisgericht in Łomża ein Todesurteil, elf Haftstrafen von 8 bis 15 Jahren und zehn Freisprüche aus. Grundlage des Prozesses war eine Zeugenaussage von Szmul Wasersztajn, die dieser am 5. Juni 1945 vor der Jüdischen Historischen Kommission in Białystok gemacht hatte. Danach hatten in Jedwabne nur sieben Juden überlebt, die von der Polin Wyrzykowska gerettet worden waren. Jedwabne war seit dem September 1939 von den Sowjets besetzt gewesen, und die Juden wurden zu Unrecht der Kollaboration mit ihnen beschuldigt, zumal der Ort Schauplatz einer blutigen Abrechnung des sowjetischen Geheimdienstes mit polnischen Partisanen gewesen war. Am 23. Juni 1941 besetzten deutsche Truppen Jedwabne, zwei Tage später begannen erste Pogrome gegen Juden. Wasersztajn berichtete unbeschreibliche Bestialitäten, die mitunter 12 Stunden anhielten, „bis die Opfer den Geist aufgaben“. Dann schufen die Deutschen „Ordnung“, befahlen aber am 10. Juli 1941 „die Vernichtung aller Juden“. Die Gestapo schlug den Polen vor, pro Handwerk wenigstens eine jüdische Familie zu verschonen, was die Polen unter Hinweis auf „genügend eigene Fachleute“ ablehnten. Dann begann umgehend das erwähnte Pogrom, das in der Verbrennung einer großen Zahl von Juden in einer Scheune gipfelte. In deutschen Akten fand sich keine Erwähnung Jedwabnes, aber aus den Prozessakten von 1949, Befragungen und den Erinnerungen Überlebender stellte Jan Tomasz Gross 2003 seine Dokumentation „Sąsiedzi“ (Nachbarn) zusammen, die in Polen wie ein Schock wirkte und stürmische Diskussionen auslöste, A.d.Ü.
[2] Das litauische Kowno (Kaunas) war ab Ende 1941 Schauplatz der Tötung von Tausenden deportierter Juden aus dem „Altreich“; die Tötungen wurden von Litauern ausgeführt, die unter dem Kommando des deutschen „Einsatzkommandos 3“ (EK 3) standen, A.d.Ü.
[3] Im ukrainischen Lwów (Lemberg) wurden im Juli 1941 im Zuge eines Pogroms, das kurz nach der deutschen Besetzung der Stadt von Litauern angezettelt worden war, Tausende Juden getötet, A.d.Ü.
[4] 25. bis 27. Juli 1941, benannt nach dem ukrainischen Nationalistenführer Simon W. Petljura (1879-1926), dessen Truppen bei Kämpfen gegen die Bolschewisten 1918/19 circa 30.000 Juden umbrachten, A.d.Ü.
[5] Der Autor benutzt hier die polnischen Termini für den Widerstand im Lande und für die in London amtierende polnische Regierung, die international anerkannt war und so die Staatlichkeit Polens repräsentierte, A.d.Ü.
[6] Wörtlich „ujrzała – erblickte“, womit der Autor andeuten möchte, dass das KZ Majdanek (bei Lublin) im Juli 1944 von den Deutschen vor den heranrückenden Russen geräumt worden war, A.d.Ü.
[7] Anspielung auf die „antizionistische“ Kampagne, die die polnischen Kommunisten damals inszenierten und durch die sie rund 20.000 polnische Juden zur Emigration zwangen, A.d.Ü.
[8] Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, kam im Juli 1944 ins KZ Auschwitz und wurde im April 1945 im KZ Buchenwald befreit. Im Jahre 2002 wurde er mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt, A.d.Ü.